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Karl Marx und die Zukunft des Kapitalismus

Im September 1867 erschien in Hamburg ein Buch, nein ein Wälzer von rund 800 Seiten, verfasst von Dr. Karl Marx: Das Kapital Band I. Bis dahin kannte man den Autor in Deutschland nur als Verfasser des Manifests der Kommunistischen Partei von 1848. Seine Anhänger hofften auf eine radikale und politisch nutzbare Kapitalismuskritik. Für Marx allerdings war sein Buch strenge Wissenschaft, keine politische Streitschrift. Von Anweisungen für eine Revolution oder einen Postkapitalismus keine Spur. Das hat viele enttäuscht, zuletzt die »68er« Rebellen, die im Kapital vergebens nach einer »Revolutionstheorie« suchten.

Es hatte 23 Jahre gedauert, bis der erste Band des auf vier Bände angelegten Riesenwerks endlich erschien. Von den folgenden Bänden gab es umfangreiche Entwürfe, zahlreiche Vorarbeiten, aber wirklich abgeschlossen war kaum etwas. Marx arbeitete in den folgenden Jahren bis zu seinem Tode 1883 weiter an dem Buch, konnte es aber nie zu Ende bringen. Er wollte damit die gesamte politische Ökonomie revolutionieren, kam aber mit seinen Forschungen nicht weit genug, um seine Versprechen einzulösen. Er hinterließ einen Berg von Manuskripten und Notizbüchern – und etliche ungelöste »marxsche Probleme«.

Heute gehört Marx’ Kapital zu den einflussreichsten und meist zitierten Büchern in den Sozialwissenschaften. Dabei war es anfangs kein Erfolg. Zu einer »Bibel der Arbeiterklasse« wurde es nie. Dazu war es zu teuer und zu schwer lesbar. Auch die sozialistischen Intellektuellen der Zeit lasen es nicht. Gelesen wurde Karl Kautskys popularisierende Kurzdarstellung Karl Marx’ ökonomische Lehren von 1887, und auch das nur von wenigen.

Mit dem Erscheinen des dritten Bandes im Jahre 1894, elf Jahre nach Marx’ Tod, wurde das anders. Friedrich Engels, engster Freund und Mitarbeiter von Marx, hatte diesen Band, den krönenden Abschluss des Ganzen, ebenso wie den zweiten Band auf der Grundlage der nachgelassenen marxschen Manuskripte herausgegeben. 1885 erschien der zweite, der weithin unbeachtet blieb, 1894 der dritte Band. Damit begann die eigentliche Marx-Kritik. Von allen Seiten wurde die marxsche Theorie attackiert – als logische Fehlkonstruktion, als historisch längst überholte Darstellung. Marx’ Anspruch, die Eigenart des Kapitalismus, die mehr oder minder verborgenen Triebkräfte und Mechanismen der kapitalistischen Entwicklung bestimmt zu haben, wurde heftig bestritten.

Dennoch wirkte das umstrittene Buch. Marx’ verblüffende Gelehrsamkeit, seine analytische Schärfe, sein schierer Ideenreichtum schlug Freund und Feind in Bann. Als Anreger und Ideengeber war er unübertroffen. Zum Beispiel für Joseph Schumpeter, dessen Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung auf Marx’ Analyse des technischen Fortschritts im modernen Fabriksystem zurückging. Für Max Weber, der die Idee vom historischen Zusammenhang von Protestantismus und Kapitalismus ebenfalls Marx verdankte. Für Karl Polanyi, der das Konzept einer doppelten Bewegung von kapitalistischer Expansion und sozialer Gegenwehr im ersten Band des marxschen Kapitals, in der Darstellung des langen Kampfes um den Arbeitstag ausformuliert vorfand. Aber auch für die Ökonomen, etwa John Maynard Keynes, Michał Kalecki und Piero Sraffa, die an der Universität Cambridge lehrten, die die Neoklassik radikal kritisieren wollten und dafür in Marx’ Kritik der klassischen politischen Ökonomie wesentliche Vorarbeiten fanden.

Neoklassische Ökonomen sind von ihm beeindruckt. Schumpeter, Keynes, Kalecki und viele andere sehen ihn als Pionier der Makroökonomie, speziell der Wachstums- und Konjunkturtheorie. Heterodoxe Ökonomen, die nach einer überzeugenden Alternative zur Neoklassik suchen, schätzen die Verbindung von allgemeiner Theorie und Wirtschafts- und Sozialgeschichte des Kapitalismus, die Marx als Erster vorexerziert hat. Sie sehen in ihm einen Meister, der vereinen konnte, was in der Lehrbuchökonomie auseinanderfällt: Wert- und Geldtheorie, Analyse der Grundstrukturen und der ökonomischen Entwicklung, Mikro- und Makroanalyse, Statik und Dynamik, Gleichgewichts- und Ungleichgewichtsbetrachtung.

Das Kapital wurde immer wieder neu gelesen, zuerst als historisches Werk, erst später als systematische ökonomische Theorie. Nach der heute im deutschen und angelsächsischen Sprachraum dominanten Lesart ist Marx’ Kapital eine Art »Philosophie der Ökonomie«, d. h. Sozialphilosophie bzw. Methodologie, eine Übung in »Dialektik«. Marx sah das anders. Wer seine Absicht ernst nimmt, eine systematische Kritik der politischen Ökonomie zu geben, wird im Kapital noch heute eine brauchbare Analyse und Kritik des modernen Kapitalismus finden.

Marx’ Kapital ist keine Geschichte des Kapitalismus, sondern eine allgemeine Theorie. Allerdings eine, die auf die Logik der Entwicklung und Expansion des modernen Kapitalismus zielt. Marx denkt nicht an die Vergangenheit, sondern an die Zukunft des modernen Kapitalismus: Angenommen, dieser kann sich seiner eigenen Logik gemäß entfalten, wohin geht dann die Reise? Marx interessiert sich für die Bewegung, die Tendenzen des Kapitalismus, nicht für einen hypothetischen Endpunkt. Vom Ende des Kapitalismus ist nicht die Rede, schon gar nicht von einem »Zusammenbruch«. Dafür umso mehr von seinen immanenten Krisentendenzen. Die entspringen gerade aus der Dynamik des industriellen Kapitals, das den technischen Fortschritt zum ersten Mal systematisch und in großem Stil organisiert, wissenschaftliche Forschung und technologische Entwicklung in den Produktionsprozess integriert. Für Marx ist der entwickelte industrielle Kapitalismus die bei weitem revolutionärste und innovativste aller historischen Produktionsweisen. Es sind die industriellen Kapitalisten, miteinander konkurrierend (und kooperierend), die eine permanente technologische Revolution, eine unaufhörliche Folge von Produkt- und Prozessinnovationen vorantreiben, stets im Dienst der Kapitalverwertung. Als erster analysiert Marx die unvermeidlichen Folgen: Entwertung von Waren und Arbeitskräften, Kapitalvernichtung, Kapitalverlagerungen und -wanderungen, technologische Arbeitslosigkeit, Verlagerung und Umstrukturierung von (Welt-)Märkten, Wert- und Preisrevolutionen.

Unbestritten ist, dass Marx etliche der immanenten Tendenzen des modernen Kapitalismus als Erster scharf gesehen und analysiert hat: die Tendenz zur permanenten Rationalisierung im Maschinenbetrieb, der die alte Manufaktur ablöst und tendenziell zur »automatischen Fabrik« transformiert wird; die Tendenz zum Großbetrieb und zur fortschreitenden Konzentration und Zentralisation des Kapitals, zur Bildung von Großkonzernen; die Tendenz, einen umfassenden Weltmarkt und eine kapitalistische Weltwirtschaft herzustellen. Dazu gehört die Tendenz, die gesamte kapitalistische Ökonomie in eine reine Kreditökonomie zu verwandeln, in der das Geld überall und jederzeit durch Kredite ersetzt wird. Daher ist Marx’ Erwartung: Die Krisen des Kapitalismus werden zu Weltmarkt- und Weltfinanzkrisen. Die Krisen von 1857/58 und 1866 bestärkten ihn darin.

Marx und der »digitale Kapitalismus«

Dass die erste industrielle Revolution nicht die letzte war, wusste der alte Marx. In seinen letzten Lebensjahren, zwischen 1873 und 1883, beschäftigten ihn die völlig neuen Phänomene der ersten großen Depression in der Geschichte des modernen Kapitalismus. Einen Ausweg erwartete er entweder von einer neuen Welle technologischer Erfindungen oder einer erneuten Expansion des Weltmarktes. Daher nahm er die technologischen und naturwissenschaftlichen Studien wieder auf, die er seit den 1850er Jahren betrieben hatte. Er wollte auf der Höhe sein, um die Vorboten einer neuen »industriellen Revolution« rechtzeitig erkennen zu können.

Marx kannte die Schriften von Charles Babbage, des englischen Mathematikers, Naturwissenschaftlers und Ökonomen, der in den 1830er und 1840er Jahren an einer mechanischen Rechenmaschine (analytical engine) arbeitete. Insbesondere dessen Buch On the Economy of Machinery and Manufactures von 1832 hat er gründlich studiert. Babbage wird im ersten Band des Kapitals mehrfach zitiert. Geradezu begeistert war Marx von den Forschungen Justus von Liebigs, der die moderne Agrochemie schuf und damit die industrielle Revolution in der Landwirtschaft einleitete. Damit wurde die bisherige klassische Ökonomie über den Haufen geworfen, etwa das sogenannte »Ertragsgesetz«, und Marx, der die Fortschritte der Industrialisierung der Landwirtschaft in den USA genau verfolgte, musste seine Kritik der Ökonomie revidieren.

Der ökonomische Forscher Marx hielt die Entwicklung der »Transport- und Kommunikationsindustrie« seiner Zeit für entscheidend. Das erste transatlantische Telegrafenkabel, welches 1858 verlegt wurde und die zur Übermittlung von Informationen zwischen London und New York notwendige Zeit von einer guten Woche auf knapp zwei Minuten verkürzte, faszinierte ihn. Das transnationale Kabelnetz im Aufbau, zu Marx’ Zeiten noch ein Projekt in den Anfängen, sah er als materielle Grundlage für eine neue Weltwirtschaft. Kein Zweifel, dass er die »Digitalisierung« unserer Zeit als Grundlage für eine erneute Transformation des globalen Kapitalismus gesehen und mit Feuereifer studiert hätte. Der Autor des Kapitals hatte die analytischen Begriffe dafür, die Folgen dieser technologischen Revolution zu erfassen. Er war offen und selbstkritisch genug, um diese, wo nötig, zu revidieren.

(Der Autor wird über dieses Thema auch auf der FES-Konferenz »Digitaler Kapitalismus« am 2. + 3.11. in Berlin diskutieren: www.fes.de/digitalcapitalism)

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