So schlimm war es noch nie. Unser kleiner blauer Planet wird von Krisen aller Art geschüttelt, von Kriegen und Globalisierung, von einem neuen Kolonialismus und Rassismus, von Flüchtlingskrisen, vom Diktat des Finanzkapitals und von Machtgelüsten weißer Männer, von der Verschwendung natürlicher Ressourcen und Zerstörung von Lebensräumen. Kurzum: Wir leben in einem gefährlichen Augenblick, allein sicher ist nur die Unsicherheit. Es gibt keine Rettungsinseln mehr, auch nicht für die Kunst. »Being safe is scary« (Sicher zu sein, ist beängstigend) steht folglich nun statt der Inschrift »Fridericianum« am Giebel des ältesten deutschen Museums in Kassel, wo gerade die weltweit bedeutendste Kunstschau mit Werken von über 150 Künstlerinnen und Künstlern, die documenta 14 eröffnet wurde.
War es 1918 nur der »Untergang des Abendlandes«, den Oswald Spengler prognostizierte, so ist es nun für den Leiter der d14, den Polen Adam Szymczyk, gleich die ganze Menschheit. Aus dieser Bestandsaufnahme zog er drei Schlüsse. Erstens: Die Welt kann nicht allein von Kassel aus erklärt werden. Dazu brauchte es einen weiteren Ort. Das konnte seiner Meinung nach nur Griechenlands Hauptstadt Athen sein. Hier sollte sie auch beginnen, weil sich sozusagen vor Ort, mitten in der Krisenzone, die Tragödie am besten verstehen ließ. Zu dieser Entscheidung, die Schau erstmals auf zwei Städte zu verteilen, passt auch, dass Szymczyk nicht an einen Genius Loci glaubt. Kunst jedoch wird immer an konkreten Orten sichtbar. Zweitens: Die traditionsreiche documenta mitsamt ihrer Kunst muss wegen der verheerenden Weltlage, »die uns den Schlaf raubt«, stark politisiert werden und von einem antikapitalistischen Furor geprägt sein, mithin auf Aktions- und Konzeptkunst konzentriert, zudem radikal anthropozentrisch justiert sein, wofür ein in Athen gegründetes, sogenanntes »Parlament der Körper« stehen soll. Wie viel Politik aber verträgt die Kunst, ohne zur bloßen These oder Illustration zu verkommen? Drittens: Dieses Konzept braucht ein williges Publikum, das solcherart von »Welt-Ausstellungen« schon immer mit im Blick hatten. Am besten sei es, sagt Szymczyk, »zu verlernen, was wir glauben zu wissen«. Offen und »unvoreingenommen« soll dieser Betrachter sein, will sagen, ein kritischer oder gar Distanz wahrender ist hier nicht vorgesehen. Diese Vorstellung eines von Wissen »unbelasteten« Besuchers ist nicht nur unangenehm oberlehrerhaft, sie steht auch dem Gründungsgedanken der documenta diametral entgegen.
Hoher Stellenwert von Bildung
Immer ging es in Kassel um Wissen und Lernen und um den Beitrag, den die zeitgenössische Kunst dazu leisten könne. Wissen und Bildung, verbunden mit Erinnerung und Tradition, sind doch nicht per e suspekt, und heute in Zeiten des Postfaktischen dringender nötig denn je. Ging es doch 1955, bei der ersten documenta, zehn Jahre nach dem Ende der Naziherrschaft, um eine Rehabilitierung der internationalen Moderne, um die Erinnerung an die eigene Geschichte und die Geschehnisse um die »Entartete Kunst«. Dabei erwies sich für Arnold Bode, den ersten Leiter und Initiator der documenta die Ruine des Fridericianums als idealer Ort und Nachweis für Deutschlands Wiedereintritt in den Kreis der westeuropäischen Kulturnationen. Der »Engel der Geschichte«, Paul Klees Angelus Novus, blickt nach Walter Benjamins Deutung zurück auf die Trümmer und Katastrophen der Vergangenheit, von einem Sturm »unaufhaltsam in die Zukunft« getrieben, »der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst«. Nur diesen Blick zurück haben wir nun einmal, ihn gilt es unbedingt zu erinnern und keinesfalls »zu verlernen«. Die Gründungsinitiatoren der hochsubventionierten Ausstellung wollten 1955 nie von Kassel aus die Welt erklären und die Kunstschau schon gar nicht in irgendein politisches Korsett zwängen, was ihr im Übrigen in ihrer Geschichte auch nie gut getan hat. Sie wollten »nur« um Verständnis werben für eine neue, freie Kunst. Dazu holten sie etwa 700 Werke von 130 Künstler/innen der einst verfemten Moderne nach Kassel und inszenierten sie dort mitten in den Ruinen überaus glanzvoll.
Den hohen Stellenwert von Bildung, die in so vielen Ländern außerhalb Europas keineswegs selbstverständlich ist und mühsam erkämpft werden muss, illustriert die aus dem Senegal stammende Pélagie Gbaguidi in der oberen Wandelhalle der Neuen Galerie in einer sehr schönen Installation mit dem sprechenden Titel The Missing Link. Dicolonisation Education by Mrs Smiling Stone. Von der gewölbten Decke des langgestreckten Raums mit Blick auf die Karlsaue hängen mit Buntstiften bemalte Papierbahnen, dazwischen stehen alte Schulbänke und Spielzeug, Licht strömt durch die großen Fenster, leise Musik ertönt, eine friedliche, heitere Stimmung liegt über der Szenerie, hier mag es sich gut lernen: Ein Lob auf das hohe Gut der Bildung, die das Modewort unlearning ad absurdum führt und sich ganz ohne übergestülpte These aus sich selbst erklärt.
Fehlen des historischen Gespürs
Ansonsten herrscht in der, bereits mehrfach von der documenta mit genutzten Neuen Galerie drangvolle, unübersichtliche Enge. Ohne Not wurde das 1871 eröffnete Museum vom Nebenschauplatz zum Hauptspielort, denn wie er die Kunstschau erstmals zweiteilte, hat Adam Szymczyk das eigentliche Herzstück noch jeder documenta, das Fridericianum am Friedrichsplatz, gleich mit entsorgt. Von historischem Gespür zeugt diese Umwidmung nicht. Diesjährig wird hier ein Teil der Sammlung des Nationalen Museums für Zeitgenössische Kunst (EMST) aus Athen gezeigt, die bislang aus Geldmangel eingelagert ist, während der fertige Neubau leer steht. Auch wenn die Werke des EMST nichts mit der documenta zu tun haben, erscheint die Rochade zunächst als noble Geste, erhält aber einen Beigeschmack. Denn Szymczyks erste Wahl für das Museum am Friedrichsplatz war die griechische Sammlung nicht. Ursprünglich sollte hier der berühmt-berüchtigte Nachlass von Cornelius Gurlitt ausgestellt werden. Dafür aber gab es wegen der unsicheren Rechtslage keine Genehmigung.
Seiner eigentlichen Mitte beraubt, avanciert nun die nahe gelegene documenta-Halle am Hang zur Orangerie und Karlsaue zum Hauptplatz der auf 32 Orte im Stadtgebiet verteilten Schau: Zu Recht, denn die Inszenierung überzeugt. Auch wenn die Penetranz mit der die indigenen Ursprünge der Künstlerinnen und Künstler hervorgehoben und instrumentalisiert werden, eher den Eindruck vermittelt, sich in einer Völkerkundeschau und nicht in einer Kunstausstellung zu befinden. Die ästhetische Erfahrung wird offensichtlich nicht ernst genommen. Er habe kein Interesse an Oberflächen, sprich am Ästhetischen, sagte Szymczyk auf der Pressekonferenz. Riesige bemalte Holzmasken von Beau Dick empfangen die Besucher in der documenta-Halle. Der Künstler und Stammeshäuptling der kanadischen Kwakwaka’wakw verstarb vor Kurzem. Der große Oberlichtsaal wird dominiert von einem blutroten Objekt von Cecilia Vicuña. Die langen, verknoteten Stränge aus nichtgesponnener Wolle hängen von der Decke. Es sei einer der prekärsten Stoffe überhaupt, sagt die chilenische Künstlerin, wenn man ihn berührt, fällt er auseinander. Daneben hängen zwei auf Lesbos angeschwemmte Wracks alter Holzboote, die der mexikanische Musiker Guillermo Galindo zu Klanginstrumenten umgebaut hat. Partituren auf Baumwolle gemalt schmücken die Wände. Aus diesem Material bestehen auch die Tücher des Mobiles von Aboubakar Fofana, die er in seiner Heimat Bamako in Mali aus organischem Indigo in unterschiedlichen Blautönen gefärbt hat. Vom Alltagsleben und von der Geschichte der Sámi erzählt ein wunderschöner, meterlanger Leinenfries mit Stickereien und Applikationen von Britta Marakatt-Labba. Und wer zwischen all den Installationen, Konzepten und Objekten, Videos und Performances die »altmodische« Malerei vermisst, hier findet er sie und sogar von zwei bekannten Künstlern. Während ansonsten diese documenta erklärtermaßen auf große Namen verzichtet, um den Kunstmarkt und seine Makler nicht zu bedienen. Da sind zum einen die großflächigen und starkfarbigen geometrischen Abstraktionen des Amerikaners Stanley Whitney und dann ein ganzer Raum für die prekären Wesen der 1949 in Basel geborenen Miriam Cahn, voller Angst, Verzweiflung, Wut und Überlebenswillen. Ein absolutes Highlight! Die Künstlerin hat die Gemälde Auge in Auge mit den Betrachtern arrangiert. Ihre Menschen seien nicht nackt, sagt sie, »sie sind entblößt, sie haben alles verloren«.
Von der »Causa Gurlitt« als Demonstrationsobjekt für die Raffgier des Marktes ist nicht viel übrig geblieben, ein dröges Ölbild mit der Akropolis von Louis Gurlitt etwa, aber zum Glück auch ein besonderer Schatz von 17 beeindruckenden, sozialkritischen Zeichnungen von Cornelia Gurlitt, der Tochter des Kunsthistorikers, die sich 1919 mit 29 Jahren das Leben nahm. Dafür findet sich in der Neuen Galerie mit dem »Rose Valland Institut« eine Arbeit, die aus der Beliebigkeit der sonstigen Konzeptkunst herausragt. Maria Eichhorn, die bereits 2002 auf der documenta 11 mit der Gründung ihrer »gewinnlosen« Aktiengesellschaft Aufsehen erregte, hat das Institut eingerichtet, benannt nach der tapferen Kunsthistorikerin, die im besetzten Paris die Raubzüge der Nationalsozialisten heimlich dokumentierte. Es geht um Provenienzforschung und Restitution von Kunst und Gegenständen jeder Art und um die damit verbundenen Geschichten. Der hohe Regalturm etwa, den sie für die documenta kreiert hat, verwahrt von den Nationalsozialisten geraubte Bücher aus jüdischem Besitz. Der verbiesterte Ernst mit dem die documenta den gefährlichen Zustand der Welt traktiert und der Kunst überstülpt, führt dazu, dass die Leichtigkeit von Witz, Humor und Ironie noch schwerer zu finden ist als die Malerei. Deshalb sollte man unbedingt die untere Wandelhalle mit den weißen Marmordamen von Carl Friedrich Echtermeier besuchen. Die acht properen, um 1875 entstandenen Kunstländer-Allegorien, beginnend natürlich mit Griechenland, hat die Serbin Katalin Ladik mit dadaistischen Collage-Partituren aus den 1970er Jahren konterkariert, die mit Schnittmuster- sowie Wort- und Bildschnipseln beklebt sind. Ein Vergnügen: »Frau DDR« steht da etwa oder »So geht’s schnell und einfach«.
Schnell und einfach wird so manches Werk der documenta durch übergestülpte Politikkonzepte beliebig und austauschbar, auch der eins zu eins von der Akropolis auf den Friedrichsplatz verpflanzte Parthenon von Marta Minujín. 1983 hatte die argentinische Künstlerin den Bücher-Tempel für Buenos Aires kreiert und mit den eben noch verbotenen Büchern behängt, um so das Ende der Militärjunta zu feiern. In Kassel, nun mit allen weltweit aus welchen Gründen auch immer je indizierten Büchern dekoriert, steht nur noch ein ins Gigantische aufgeblasener Abklatsch. Aber Originalität geht mit Größe allein nur selten zusammen.
Wer zur documenta fährt, nach Kassel oder auch nach Athen, sollte dies mit wachem Verstand und kritischem Blick tun. Man muss sie suchen, die Kunst, die sich ihre Freiheit bewahrt hat, aber es gibt sie. Deshalb zum guten Schluss ein Geheimtipp: Wir kennen sie alle, die Forscher und gelehrten Weltreisenden von Georg Forster über Maria Sibylla Merian bis zu Alexander von Humboldt. Sie wollten etwas festhalten und bewahren von der Schönheit und Vielfalt der Welt, sie verstanden sich nicht als Künstler und schufen doch Kunst. Ein solcher Mensch ist der Pflanzenkundler Abel Rodríguez, geboren 1944 in der Region Cahuinari im kolumbianischen Teil des Amazonasbeckens. Er lernte alles über die Pflanzen des Regenwalds und gab ihnen Namen. In Bogotá, wo er ab den 90er Jahren lebte, begann er aus dem Gedächtnis und aus dem ihm überlieferten Wissen schöpfend genaue botanische Zeichnungen der tropischen Vegetation anzufertigen und mit vielen Angaben zu Nutzwert, Farbe, Ort, Blüh- oder Jahreszeit zu versehen. Eine Reihe dieser von 2009 bis 2016 entstandenen, aquarellierten Blätter, etwa aus der Serie »Jahreszyklus des überfluteten Regenwalds« sind nun im Palais Bellevue ausgestellt. Eine wunderbare Entdeckung, Wissensfundus und ästhetisches Vergnügen zugleich.
(Die documenta 14 ist in Kassel noch bis zum 17. September 2017, in Athen bis zum 16. Juli 2017 zu sehen).
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