Als sich im Sommer 1945 die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs in Potsdam trafen, um über die Zukunft Deutschlands zu beschließen, sahen sie ihre Verantwortung für »Deutschland als Ganzes« darin, dass es eines Tages »in den Kreis der zivilisierten Nationen zurückkehren« könne. Vor diese Situation sahen sie sich 1990 gestellt. Mit der Öffnung der Berliner Mauer fiel zugleich die Grenze im Ost-West-Konflikt. Es stellte sich somit die deutsche Frage auch als Frage nach einer europäischen Friedensordnung, die ein vereintes Deutschland verkraften kann. Dass sich das im Gefolge eines mit großer Sympathie begleiteten demokratischen Aufbruchs im Osten ereignete, war ein Glück. Dass es von deutscher Seite Zurückhaltung und ein Bekenntnis zu Europa gab, galt als Beweis, dass aus der Geschichte gelernt wurde. Zustimmung fand, dass Helmut Kohl im November 1989 als Ziel seiner Politik formulierte: »Mit dieser umfassenden Politik wirken wir auf einen Zustand des Friedens in Europa hin, in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wieder erlangen kann.«
Die Frage nach dem seit 1945 ausstehenden Friedensvertrag mit Deutschland berührte 1990 v. a. die Zuständigkeiten und Interessen der USA und der Sowjetunion, auch wegen der Einbindung der deutschen Teilstaaten in die von ihnen geführten militärischen Allianzen. Und die Interessen der europäischen Nachbarn, für die ein wiedervereintes Deutschland keine Wunschvorstellung war.
Für die Sowjetunion war bis dahin die DDR von besonderer Bedeutung, weil sie ihr eine Mitsprache über eine Neuordnung Europas garantierte. Das änderte sich, als die Bundesrepublik durch Willy Brandts Ostpolitik die europäische Nachkriegsordnung de facto anerkannte. Der triumphale Empfang für Michail Gorbatschow im Juni 1989 in der Bundesrepublik ließ hoffen, dass sie ein Partner für die Annäherung der Sowjetunion an Europa sein würde. Für Gorbatschows europäische Vision der Einbeziehung der Sowjetunion in das »gemeinsame europäische Haus« war die deutsche Frage ein Schlüssel, die Tür nach Europa zu öffnen.
Für die USA waren die europäischen Ambitionen Gorbatschows eine akute Herausforderung. Der seit Anfang 1989 amtierende Präsident George Bush Senior suchte denn auch nach einer Antwort auf Gorbatschows Projekt. Auch dabei kam die Möglichkeit in Betracht, die deutsche Frage wieder auf die Tagesordnung zu setzen: »Heute sollte die oberste Priorität der amerikanischen Europapolitik das Schicksal der Bundesrepublik Deutschland sein. (…) [es] ist keine Vision des künftigen Europas denkbar, die nicht auch eine Stellungnahme zur ›deutschen Frage‹ enthält«. Warum das so gesehen wurde, erklärte Condoleezza Rice, spätere Außenministerin der USA: »Es ist richtig, dass die USA tatsächlich nur eine Sorge hatten, diejenige nämlich, dass die Wiedervereinigung Deutschlands die NATO zerstören könnte.«
Die USA sahen also – wie die Sowjetunion – in der Lösung der deutschen Frage einen Schlüssel für die künftige Ordnung Europas. Für die Sowjetunion ging es dabei darum, den Status quo zu überwinden, um eine stärkere Anbindung an Europa zu erreichen. Für die USA ging es umgekehrt darum, den Status quo zu sichern, um den Fuß in Deutschland und Europa zu halten.
Andererseits waren die Sorgen der europäischen Nachbarn unüberhörbar. Nicht nur von Polen. Margaret Thatcher befürchtete, dass sich durch ein vereintes Deutschland die Balance in Europa wieder grundlegend verschieben würde. François Mitterrand teilte diese Sorge. Bei einem Treffen mit Gorbatschow in Kiew am 7. Dezember 1989 sagte er: »Die deutsche Frage darf nicht den europäischen Prozess bestimmen, sondern umgekehrt. Und: An erster Stelle (…) muss die europäische Integration stehen, (…) die Schaffung einer europäischen Friedensordnung (…)«.
Der Friedensschluss von 1990 hing also davon ab, ob ein Ausgleich zwischen den USA und der Sowjetunion gefunden würde und welche Garantien unsere Nachbarn hinsichtlich der künftigen Rolle Deutschlands bekämen. Zur Diskussion standen ein Friedensvertrag, eine Übergangslösung deutsch-deutscher Konföderation, eine gesamteuropäische Friedensordnung im Rahmen der KSZE, zuletzt der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik.
Wie kam es dazu, dass sich die letzte Variante durchsetzte? Bis Anfang 1990 stimmten die vier Mächte überein, die beiden deutschen Regierungen bei einem »friedlichen, graduellen (...) Prozess« zu unterstützen, in dem die Ostdeutschen ihren Weg selbst bestimmen. Die deutsche Einheit könne erst am Ende eines längeren Prozesses stehen.
Mitte Januar 1990 vollzieht Washington einen Kurswechsel. Dem lag die Einschätzung zugrunde, dass die Alternative einer eigenständigen, demokratischen DDR gar nicht mehr bestand. Ein nun möglicher »beschleunigter Vereinigungsprozess [würde] die Möglichkeit, ihm Steine in den Weg zu legen, minimieren« (Robert Hutchings). So könne verhindert werden, »dass Moskau die Deutschen bedrängen könnte (...), etwa auf einen Austritt aus der NATO«. Die Deutschen dürften »nicht vor die Alternative gestellt werden, zwischen NATO und Einheit wählen zu müssen«.
Die Beschleunigung des Prozesses, das »enge Zeitfenster«, von dem nun die Rede war, war das Mittel, um den Einfluss der Sowjetunion zu minimieren. Den zwischen Washington und Bonn Ende Januar abgestimmten Kurswechsel brachte Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher in der NATO-Frage am 31. Januar auf die Formel: »Sache der NATO ist es, eindeutig zu erklären: Was immer im Warschauer Pakt geschieht, eine Ausdehnung des NATO-Territoriums nach Osten, (…) wird es nicht geben.« Auf Grundlage dieser Formel signalisierte Gorbatschow wenig später seine Zustimmung zum Verbleib der Deutschen in der NATO – aber nicht zur NATO-Osterweiterung. Wie kam es zur Zustimmung zur NATO-Mitgliedschaft des vereinten Deutschlands? Die Frage stellt sich, wenn man bedenkt, dass die Alliierten 1942 die deutsche Frage als eine Frage des Friedens in Europa behandelten, das heißt, ihr Kriegsziel »Sicherheit vor Deutschland« weder durch seine Demütigung wie nach dem Ersten Weltkrieg, noch durch einen »Sonderfrieden« mit Deutschland zu erreichen, der die Siegermächte gegeneinander ausspielen und das Gleichgewicht in Europa stören würde.
Genau an diese gemeinsame Position der einstigen Alliierten knüpfte die Sowjetunion an. Deren Außenminister Eduard Schewardnadse stellte Ende 1989 die Frage nach den Garantien, damit die deutsche Einheit nicht zur Bedrohung für den Frieden in Europa werden konnte. Genau hier lag der Schlüssel zum Durchbruch in dem entscheidenden Gespräch von US-Außenminister James Baker mit Präsident Gorbatschow am 9. Februar 1990 in Moskau. Baker formulierte folgende Alternative: »Würden Sie es vorziehen, das vereinigte Deutschland außerhalb der NATO zu sehen, unabhängig und ohne Truppen der USA oder sähen Sie lieber ein vereinigtes Deutschland, eingebunden in die NATO, mit der Versicherung, dass die Zuständigkeit (jurisdiction) der NATO keinen Inch ostwärts von der heutigen Position verschoben wird?« Die von Baker protokollierte Antwort Gorbatschows: »Ganz sicher ist, dass eine Ausdehnung des NATO-Gebietes inakzeptabel wäre.«.
Der Rückgriff auf die historische Erfahrung erwies sich als stärkstes Argument. Die NATO-Mitgliedschaft Deutschlands schien die seinerzeit beste Garantie gegen eine Wiederholung der Geschichte. Als Kanzler Kohl am 24. Februar 1990 in Camp David Präsident Bush traf, sprach dieser im Blick auf die Zustimmung für die deutsche Vereinigung von der NATO-Lösung. Sie sei die Chance angesichts der »Gespenster der Vergangenheit«, die er nicht fürchte, aber die Europäer. Der in diesem Zusammenhang kolportierte Satz von Bush lautete: »We don’t fear the ghosts of the past; Margaret does«. »Sicherheit vor Deutschland«, das erste Kriegsziel der Alliierten, war der kleinste gemeinsamen Nenner.
Die vier Mächte verständigten sich auf ein Format für eine »friedensvertragliche« Regelung. Außer ihnen sollten nur die beiden deutschen Staaten beteiligt werden. Das Format »Vier-plus-Zwei«, auf Deutsch »Zwei-plus-Vier«, wurde in Ottawa Mitte Februar 1990 am Rande des KSZE-Gipfels verkündet – gegen den entschiedenen Widerspruch einiger europäischer Länder.
Das Mandat der Verhandlungen im Rahmen von »Zwei-plus-Vier« sollte strikt begrenzt sein: Nach westlicher Vorstellung ging es um die Beendigung der Siegerrechte in Bezug auf Deutschland. Weil die Bundesregierung sich nicht klar zum Grenzverlauf zu Polen äußern wollte, verlangte Polen seine Beteiligung. So kam das Thema auf die Tagesordnung. Auf Beharren der Sowjetunion wurden schließlich Fragen der militärischen, innen- und außenpolitischen Verfassung des vereinten Deutschlands aufgenommen.
So legt das Abkommen für das vereinte Deutschland fest: Verzicht auf Atomwaffen, Truppenobergrenzen, keine territorialen Forderungen, die Anerkennung des Grenzverlaufs zu Polen sowie die Selbstverpflichtung zum Frieden durch die Verfassung. Da das Abkommen indirekt auch Bezug auf offene Fragen nimmt, die 1945 im Potsdamer Abkommen von den Siegermächten formuliert wurden, enthielt der Friedensschluss von 1990 (»Zwei-plus-Vier-Vertrag«) unbedingt notwendige Elemente einer »friedensvertraglichen« Regelung.
Der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik sicherte den gesamten Bestand an rechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik, sofern nichts anderes erklärt wird. Die DDR würde als Staat untergehen, aber Militär, das der NATO unterstellt ist, darf nicht auf deren ehemaliges Gebiet. Das wurde somit atomwaffenfreie Zone, wie im Regierungsprogramm der DDR 1990 gefordert.
Das erklärte Ziel, einen »Zustand des europäischen Friedens« zu schaffen, eine Regelung, mit der die Europäer der deutschen Einheit zustimmen konnten, konnte 1990 als gegeben angesehen werden: Das Kriegsziel »Sicherheit vor Deutschland« war durch die NATO-Mitgliedschaft garantiert. Mit der Verabschiedung der »Charta von Paris für ein neues Europa« wurde ein Bekenntnis zu einer gemeinsamen Friedensordnung aller europäischen Staaten vorgelegt, allerdings ohne völkerrechtliche Verbindlichkeit. Die endgültige Regelung der Grenzen des vereinten Deutschlands – konkret der Grenze mit Polen – schaffte Vertrauen auch bei den Nachbarstaaten. Das vereinte Deutschland erhielt mit dem »Zwei-plus-Vier-Vertrag« seine volle Souveränität, indem es gleichzeitig erklärte, entsprechend seiner Verfassung dem »Frieden in der Welt zu dienen« und seine militärischen Fähigkeiten zu begrenzen.
Allerdings ist die Chance für ein neues System gemeinsamer Sicherheit für ganz Europa danach vertan worden. Das Festhalten des Westens an den Strukturen des Status quo und deren Ausdehnung nach Osten hat Institutionen des Kalten Krieges und deren ideologischen Fundamente in die neue Epoche übertragen. Der 1990 proklamierte »Geist der Zusammenarbeit« ist in den internationalen Beziehungen einem Geist des Misstrauens und der wechselseitigen Drohung gewichen. Das betrifft besonders die Beziehungen zwischen Europa und Russland. Die sowjetische Zustimmung zur Westbindung des vereinten Deutschlands stellte einen Vertrauensvorschuss dar – im Vertrauen auf die spätere Teilhabe der Sowjetunion an einem neuen System der gemeinsamen Sicherheit. Schließlich hat das deutsche Beispiel, die nationale Einheit als Ziel des demokratischen Aufbruchs zu interpretieren, in Mittel- und Osteuropa nach 1990 andere »Gespenster der Vergangenheit«, wie Nationalismus und Separatismus geweckt.
Den »Zwei-plus-Vier-Vertrag« kann man für Deutschland einen Glücksfall nennen – gegründet auf einen internationalen Vertrauensvorschuss. Die historische Dimension war immer präsent. Insofern ist die Enthaltsamkeit des Vertrags in Bezug auf die Vergangenheit auffällig. Keine Rede von deutscher Kriegsschuld, vom Umgang mit offenen Fragen oder von der fortwirkenden Last der deutschen Geschichte im Gedächtnis der Völker. Das Schweigen darüber bedeutet, dass sie uns bleibt. Willy Brandt sagte am Tag nach der Maueröffnung: »Jetzt wird viel davon abhängen, ob wir uns – wir Deutsche hüben und drüben – der geschichtlichen Situation gewachsen zeigen.«
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