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Regionalorganisationen – Bausteine einer neuen Weltordnung? Kein Selbstläufer

Es ist beinahe eine Binsenweisheit, dass regionale Integration die friedlichen Beziehungen zwischen demokratischen Staaten und Gesellschaften fördert. Umso mehr verwundert es, wie gering der wissenschaftliche Forschungsstand bei dieser Frage ist. Gerade in Zeiten, in denen regionale Zusammenschlüsse in Europa und anderswo wieder infrage gestellt werden, mag es für die Legitimität des europäischen Integrationsprojektes umso entscheidender zu sein, den Fokus auf diesen Zusammenhang zu richten. Zu Beginn der 90er Jahre vertrat der US-amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama die These vom Ende der Geschichte. Er argumentierte, dass sich die Demokratie als Ordnungsmodell im Wettstreit mit alternativen Modellen durchgesetzt habe. Derzeit erleben wir jedoch nicht das Ende, sondern die Rückkehr der Geschichte in der internationalen Politik: Die liberaldemokratische Ordnung steht weltweit von innen und von außen unter Druck. Gleichzeitig ist der Westen gespalten: Die USA scheinen unter Donald Trump nicht länger bereit, die Führungsrolle und die Kosten für die Verteidigung der liberaldemokratischen Ordnung übernehmen zu wollen. Es stellt sich daher die Frage, welche demokratisierenden Impulse von regionalen Zusammenschlüssen ausgehen bzw. ob und wie diese Bausteine einer friedlichen und gerechten Weltordnung sein könnten.

Diese Frage war bereits bei der Gründung der Vereinten Nationen allgegenwärtig. Während die eine Seite, angeführt vom damaligen US-amerikanischen Präsidenten Franklin D. Roosevelt, auf der Gründungskonferenz in San Francisco 1945 für die Schaffung einer universellen Ordnung plädierte, forderte eine andere Gruppe, angeführt von Delegierten aus Lateinamerika und dem arabischen Raum, ein partikularistisches und dezentralisiertes Ordnungssystem, bestehend aus weitgehend autonomen Regionalorganisationen. Letztere argumentierte dabei gemäß dem Subsidiaritätsprinzip, dass regionale Zusammenschlüsse lokale Konflikte besser lösen könnten als eine sowohl geografisch wie auch politisch weit entfernte Zentralorganisation. Dem wurde entgegnet, dass eine globale Ordnung, die auf autonomen regionalen Strukturen aufbaut, zu widersprüchlichen Normen und Regelsystemen und damit erst recht zu Konflikten führen würde. Letztlich setzten sich in San Francisco die Befürworter einer globalen Ordnungsstruktur in Form der Vereinten Nationen durch. Gleichzeitig nahm man jedoch die gesonderte Rolle regionaler Organisationen hinsichtlich der friedlichen Beilegung von Konflikten explizit in die Charta der Vereinten Nationen mit auf. Seitdem hat sich eine Vielzahl an Regionalorganisationen gegründet, was den analytischen Blick auf die Wechselwirkungen und Spannungsverhältnisse zwischen regionaler und globaler Governance einerseits sowie regionaler und lokaler Governance andererseits gelenkt hat.

Regionale Integration und lokale Governance

Regionen sind keine statischen geografischen Einheiten, sondern dynamische Räume sozialer Interaktion. Während die Entstehung und institutionelle Ausprägung regionaler Integration eingehend erforscht ist, haben sich bislang vergleichsweise wenige Ansätze mit den politischen Auswirkungen regionaler Integration beschäftigt. Der kausale Zusammenhang zwischen regionaler Integration und kollektiven Gütern wie Frieden, Sicherheit oder Wohlfahrt werden häufig – insbesondere in politischen Reden – implizit vorausgesetzt, sind jedoch vergleichsweise wenig erforscht. Demokratisierung ist dabei einer der wenigen positiven Effekte regionaler Integration, über den unter Wissenschaftler/innen weitgehend Einigkeit herrscht. Über das Prinzip der politischen Konditionalität – zum Beispiel die Bindung einer Mitgliedschaft in einer Regionalorganisation an die Einhaltung demokratischer Standards – schaffen Regionalorganisationen materielle und immaterielle Anreize und können umgekehrt Druck in Form von Sanktionen ausüben, um den Aufbau und die Konsolidierung demokratischer Institutionen und Strukturen auf lokaler Ebene zu fördern. Als Beispiele können hier der Aufbau von Demokratie und Marktwirtschaft im Zuge der EU-Osterweiterung oder die jüngste Suspendierung der Mitgliedschaft Venezuelas im südamerikanischen Wirtschaftsbund Mercosur unter Anwendung der sogenannten »Demokratieklausel« herangezogen werden. Umgekehrt nutzen lokale Akteure Regionalorganisationen zur innenpolitischen Legitimierung und Absicherung demokratischer Reformen.

Der wissenschaftliche Konsens steht jedoch auf einem vergleichsweise dünnen empirischen Fundament. Der Einfluss von Regionalorganisationen auf nationale politische Systeme ist bislang hauptsächlich im Kontext der EU erforscht worden und selbst hier sind die Ergebnisse ambivalent. Die jüngsten Entwicklungen innerhalb der EU zeigen darüber hinaus, dass dies keineswegs ein linearer Vorgang ist und Rückschläge wie in Polen oder Ungarn sowie Desintegrationsprozesse wie durch den Brexit durchaus möglich sind. Zudem können autoritäre Regime ähnliche Mechanismen nutzen, um mithilfe illiberaler Regionalorganisationen wie der Eurasischen Wirtschaftsunion oder der Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit die eigene Machtbasis zu sichern.

Noch weniger erforscht ist die Frage nach den globalen Auswirkungen regionaler Integration. Diese Debatte teilt sich grob in zwei Argumentationsstränge auf, wobei letzterer in der wissenschaftlichen Diskussion deutlich überwiegt. Auf der einen Seite wird argumentiert, dass regionale Integration zu mehr Konflikten auf globaler Ebene führen wird. Hier lassen sich zwei Erklärungsansätze unterscheiden. Essenzialistische Ansätze argumentieren ganz im Sinne des US-amerikanischen Politikwissenschaftlers Samuel Huntington, dass sich regionale Integration stark an kultureller Homogenität orientiert und somit eine regionale Blockbildung entlang zivilisatorischer »Sollbruchstellen« befördert, was einen sogenannten »Kampf der Kulturen« auslösen würde. Regionale Zusammenschlüsse stellen demnach lediglich die Institutionalisierung und Verfestigung kultureller Unterschiede auf globaler Ebene dar. Ein zweiter Erklärungsansatz argumentiert funktionalistisch in der Tradition des britisch-rumänischen Politikwissenschaftlers David Mitrany. Dieser sah in regionalen Zusammenschlüssen vor allem das Fortbestehen nationalstaatlicher Strukturen. Die Erfüllung gesellschaftlicher Bedürfnisse könne laut Mitrany jedoch nur auf globaler Ebene und durch Entpolitisierung von Sachfragen verwirklicht werden. Aus seiner Perspektive stellen Regionalzusammenschlüsse lediglich eine Verlagerung zwischenstaatlicher Konflikte auf eine interregionale Ebene dar, ohne die eigentliche Ursache von Konflikten, nämlich »konkurrierende politische Einheiten«, in der Welt zu beheben.

Auf der anderen Seite steht der wesentlich größere Teil derjenigen, die regionale Integration als Baustein einer friedlichen Weltordnung sehen. Diese argumentieren in der Tradition der Theorie des demokratischen Friedens, dass liberaldemokratisch verfasste regionale Integrationsmodelle auch den globalen Frieden fördern. Auch hier lassen sich zwei Erklärungsansätze unterscheiden. Rationalistische Ansätze argumentieren, dass liberaldemokratische Werte neuartige Governancestrukturen auf regionaler Ebene schaffen. Diese würden die globale gegenseitige Abhängigkeit und wirtschaftliche Zusammenarbeit befördern, was umgekehrt die Kosten für Kriege und Konflikte und die gesellschaftliche Akzeptanz regionaler Integration durch die Bereitstellung kollektiver Güter erhöhe. Zudem fördere wirtschaftliche Integration den Austausch von Präferenzen und Informationen und schaffe dadurch mehr Transparenz und Vertrauen.

Ein zweiter Erklärungsansatz argumentiert konstruktivistisch und sieht in der Verlagerung liberaler Normen nach außen den Grundstein für eine friedliche Weltordnung. Da die meisten liberaldemokratischen Regionalorganisationen ihre internen Konflikte friedlich regeln, würde dieses Prinzip auch auf die globale Ebene übertragen und friedliche Konfliktlösung in Kooperation mit anderen liberaldemokratischen Regionalorganisationen als globale Norm akzeptiert. So argumentiert der britische Politikwissenschaftler Ian Manners – nicht unumstritten –, dass die EU eine normative Macht sei, die ihre liberaldemokratischen Normen auf andere Teile der Welt übertrage. Umgekehrt argumentieren Diffusionstheoretiker/innen, dass Regionalorganisationen demokratische Standards anderer Regionalorganisationen auch von sich aus übernehmen können, etwa weil sie diese als legitim erachten. Die Grundthese lautet: Je mehr liberaldemokratische Regionalordnungen entstehen, desto weniger gewaltsame Konflikte gibt es in der Welt. Umgekehrt hieße dies, dass ein Anstieg illiberaler Regionalorganisationen die Gefahr gewaltsamer Konflikte in der Welt erhöhen würde.

Können also regionale Zusammenschlüsse als Bausteine einer friedlichen und gerechten Weltordnung dienen? Diese Frage lässt sich mit einem vorsichtigen »Ja, aber« beantworten. Zwar betont der bisherige Forschungsstand vor allem die positiven Auswirkungen regionaler Integration, sowohl auf lokaler als auch auf globaler Ebene. Gleichzeitig zeigen die aktuellen politischen Entwicklungen in Europa und anderen Teilen der Welt aber, dass dies kein Selbstläufer ist. Das Wiedererstarken autoritärer Strukturen in vielen Teilen der Welt setzt auch die friedlichen und liberaldemokratischen Errungenschaften der letzten Jahrzehnte unter Druck: nicht nur in Europa, auch in Lateinamerika, Asien und Afrika. Am Ende könnte sogar eine erneute Spaltung der Welt in liberale und illiberale Regionalblöcke drohen. Das Grundproblem aber bleibt, dass das Wissen um die Wirkung regionaler Integration noch viel zu unterentwickelt ist, um hierzu verlässliche Aussagen treffen zu können. Ein besseres Verständnis der Vielfalt regionalspezifischer Prozesse und Interaktionen in der Welt könnte dem entgegenwirken.

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