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Wie ukrainische Geflüchtete das Land verändern Kein so schlechter Befund

Einst lagerte die Stadt auf der Wallhalbinsel im Zentrum von Lübeck Baumaschinen. 2015 änderte sich das. Aktivist:innen besetzten das Gelände kurzerhand und bauten das »Solizentrum« auf. Es war ein Baustein einer kaum zu überblickenden Fülle von Initiativen, die den rund eine Million Menschen helfen wollten, die damals nach Deutschland flohen. Viele von ihnen wollten weiter nach Skandinavien. Und in Lübeck legen die Fähren ab.

Schon am Bahnhof in Hamburg wurden die Geflüchteten damals registriert, in Lübeck erwarteten sie Freiwillige, die sie über den Stadtgraben vorbei am Holstentor zum Solizentrum geleiteten. Über 15.000 Menschen kamen hier an. Und anders als die Ukrainer:innen nach dem russischen Angriff im Februar 2022 hatten sie zunächst keinen Anspruch auf Sozialleistungen, keine Aufenthaltsrechte, und teils eine mehrjährige Fluchtodyssee hinter sich.

Sie schliefen auf Matratzen, bekamen Tickets für die Fähre, bezahlt aus privaten Spenden. Bäcker brachten Brot, türkische Restaurants Essen. Aktivist:innen haben rund um die Uhr Schichten geschoben und Wache gehalten, aus Angst vor Nazi-Angriffen. So ging es weiter, bis Schweden Anfang 2016 die Grenze schloss.

Willkommensinitiativen wie das Solizentrum schossen damals überall in Deutschland aus dem Boden und bis heute fällt das Urteil über die Integration der damals Angekommenen in der Summe meist positiv aus. Deutschland gefiel sich darin so gut, dass 2019 gar ein ehemaliger Bundestagsabgeordneter beantragte, die UNESCO möge die deutsche »Willkommenskultur« in ihre Liste des Immateriellen Kulturerbes der Menschheit aufnehmen.

Wegen der Aufnahme der Ukrainer:innen feiert Deutschland sich nicht. Zu groß war und ist das Entsetzen über den Krieg in der Nachbarschaft, zu drückend die Sorge vor dessen Ausbreitung. Zudem fürchteten viele, die Stimmung gegenüber den Ukrainer:innen könne schnell wieder kippen – erst recht, wenn die Preise für die Lebenshaltung auch wegen des Krieges durch die Decke gehen.

Befürchtungen haben sich nicht bewahrheitet

So rasend schnell die Aufnahme der Ukrainer:innen beschlossen, so effizient sie anfänglich umgesetzt wurde, so eigentümlich geräuschlos, ohne gesellschaftlichen Selbstverständigungsprozess lief sie ab. Es war, als scheute das Land ein Gespräch aus Angst vor dem, was dabei zutage treten könnte. Ende November waren knapp über eine Million Ukrainer:innen im Land registriert. Und es zeigte sich: Viele der Befürchtungen haben sich bislang nicht bewahrheitet.

Einer der Gründe dafür ist, dass die Zivilgesellschaft Netzwerke reaktivieren konnte, die 2015 entstanden waren. So wie das Solizentrum in Lübeck. Das hat auch in den Jahren weitergemacht, in denen weniger Flüchtlinge kamen, auch während der Pandemie, in denen Cafébetrieb und Veranstaltungen nur schwer möglich waren. Und so konnte Lübeck für die flüchtenden Menschen aus der Ukraine auf eine umfassende Infrastruktur zurückgreifen, in der Zivilgesellschaft und Verwaltung einander ergänzen und Ankommenden zur Seite stehen.

Ohne eine solche Zusammenarbeit ist die Aufnahme von über einer Million Menschen in so kurzer Zeit nicht leistbar. Doch auch auf staatlicher Ebene waren nach 2015 Strukturen entstanden, von denen die Ukrainer:innen nun profitieren: der Ausbau der Integrationskurse etwa oder die umfassenden Netzwerke zur Anerkennung ausländischer Berufsabschlüsse und für nötige Nachqualifizierung.

Viele, gerade besonders Engagierte, hatten Mühe das wertzuschätzen. Sie beschämt vielmehr, wie die meisten Gesellschaften Europas in kürzester Zeit und ohne größere Diskussionen zusammen fast fünf Millionen Flüchtende aufzunehmen bereit waren, während gleichzeitig sehr viel geringere Zahlen Ankommender aus anderen Weltregionen an den Außengrenzen mit teils äußerster Brutalität abgewehrt werden – eine immer weiter anschwellende Zahl von Todesopfern inklusive.

Die Kommunen, die die Ankommenden letztlich aufnehmen müssen, störten sich an diesen moralischen Widersprüchen weniger. Sie trieb eher die Frage um, wer für die Aufnahme zahlt – und wie sie die entsprechende Infrastruktur schaffen können. Denn zu den Ukrainer:innen kamen bis Ende November rund 190.000 Asylerstanträge hinzu.

Streitpunkt Verteilung

Lange war die Lage der Kommunen was die Flüchtlingsversorgung angeht regional sehr heterogen – mit teils problematischen Folgen für die Stimmung vor Ort. Ein Grund: Bis 2015 war es weitgehend den Bundesländern überlassen, wie viel Geld sie den Kommunen für die Unterbringung zahlten. Heute sind die Kommunen bessergestellt – vor allem, was die Ukrai­ne­r:in­nen angeht. Denn zu Kriegsbeginn hatte der Bund zugesagt, deren Lebensunterhalt per ALG II zu tragen.

Doch ab dem Spätsommer waren viele Unterkünfte voll. Zwölf Bundesländer verhängten für die Aufnahme von behördlich verteilten Flüchtlingen eine Sperre. Aus Cottbus etwa hieß es: »Wir können nicht mehr.« Schulen und Gesundheitsversorgung seien an der Kapazitätsgrenze. Die Stadt kündigte den Migrationssozialarbeitern und forderte die »gleichmäßige und gerechte Durchsetzung der Verteilung innerhalb Brandenburgs und Deutschlands sowie die Wiederherstellung der gleichmäßigen Verteilung innerhalb Europas«.

Eine »gerechte und gleichmäßige« Verteilung innerhalb Deutschlands – die gibt es offiziell natürlich. Wie viele Flüchtlinge jedem Bundesland zugewiesen werden, errechnet sich per »Königsteiner Schlüssel«. Doch anders als bei anderen Herkunftsländern greift dies im Fall der Ukrainer:innen, die das Gros der in diesem Jahr Angekommenen ausmachten, nur teilweise. Sie durften hinziehen wo sie wollten. Doch je länger der Krieg dauerte, desto mehr Ukrai­ne­r:in­nen mussten die privaten Unterkünfte verlassen. Anderen gingen mitgebrachte Ersparnisse aus, so dass sie zunächst angemietete Wohnungen oder Zimmer nicht halten konnten.

Und so waren sie darauf angewiesen, dass die Kommunen sie unterbringen. Weil sie aber bereits im Sozialleistungsbezug waren, konnten sie nicht mehr verteilt werden, wie dies normalerweise geschieht.

Gegen Ende des Jahres zeigte sich zwar, dass die Verteilung der registrierten Ukrainer:innen auf die Bundesländer fast exakt jener entspricht, die der Königsteiner Schlüssel vorsieht. In keinem der 16 Bundesländer lag die Differenz zwischen der Quote und dem Anteil an den tatsächlich registrierten höher als ein Prozentpunkt. Doch innerhalb der Länder gab es durchaus regionale Unwuchten. In Kombination mit den enormen Schwierigkeiten, die die Inflation vielen Kommunen bereitete, gärte es. Und mancher feuerte den Unmut an: »Wir erleben mittlerweile einen Sozialtourismus dieser Flüchtlinge nach Deutschland, zurück in die Ukraine, nach Deutschland, zurück in die Ukraine«, behauptete der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz Ende September. Eine »größere Zahl« mache sich dieses System inzwischen zunutze. Belege dafür hatte er keine, der Widerspruch war scharf, Merz sah sich zu einer Entschuldigung genötigt.

Unter Ukrainer:innen in Deutschland war der Anwurf aufmerksam registriert worden. Nicht nur der sendungsbewusste Botschafter Andrij Melnik war wütend. Auch viele Geflüchtete fragten sich: Wie lange sind wir hier noch willkommen?

Dieses Gefühl mischte sich in die Alltagsprobleme, die sich ihnen nach den Anfangstagen langsam offenbart hatten: Die Schwierigkeiten bei der Kitasuche oder beim Schulunterricht für Kinder, die kein Deutsch können. Der Übergang der Trägerschaft für die Sozialleistungen ab dem 1. Juni ans Jobcenter, das teils lange nichts von sich hören ließ. Oder die Frage, ob sich ein 600 Stunden langer Integrationskurs lohnt, wenn völlig unklar ist, wie lange man in Deutschland bleiben muss, will – oder darf. Investiert derjenige seine Zeit womöglich besser, der sofort einen einfachen Job annimmt? Oder verliert man so die Aussicht auf eine mittelfristige qualifikationsgemäße Beschäftigung? Und nicht zuletzt: Wie lebt es sich in einem Land, in dem der Anteil der Menschen, die russischer Propaganda glauben, seit Kriegsbeginn um rund die Hälfte gewachsen ist?

Die Wahrnehmung verschiebt sich

Denn vielen der Ukrainer:innen ist keineswegs verborgen geblieben, was das umtriebige CeMAS-Institut in den Monaten seit Kriegsbeginn erhoben hatte. Dem Satz: »Die NATO hat Russland so lange provoziert, dass Russland in den Krieg ziehen musste«, stimmten im April 2022 12 Prozent der Befragten zu, im Oktober waren es 19 Prozent. Dass Putin »gegen eine globale Elite vorgeht, die im Hintergrund die Fäden zieht«, glaubten im Oktober 18 Prozent, gegenüber 12 Prozent im April. Und »Die Ukraine hat historisch keinen eigenen Gebietsanspruch und ist eigentlich Teil Russlands«, befanden im Oktober 14 Prozent. Kurz nach Kriegsbeginn glaubten dass nur acht Prozent. »Ich verrate den Leuten nicht mehr, woher ich komme. Ich habe auf die Diskussion keine Lust mehr« – solches und ähnliches hört man deshalb zuletzt unter den nach Deutschland geflüchteten Ukrainer:innen öfter.

So war es insgesamt keine leichte Zeit für die Ampel, die im Koalitionsvertrag einen »Neuanfang« in der Migrations- und Integrationspolitik nach 16 Jahren unionsgeführter Regierung versprochen hatte. So zeichnete die Ampel ein Bild von Deutschland als »modernes Einwanderungsland«, an dessen Realitäten Politik und Rechtslage nun angepasst werden sollten: mehr Möglichkeiten regulärer Migration und eine Abkehr vom scharfen Kurs der Vorgängerregierung. Rund 80 Vorhaben dazu finden sich im Koali­tionsvertrag.

Doch nicht nur die enorme Zahl zusätzlich aufgenommener Flüchtlinge aus der Ukraine, sondern auch der Krieg an sich, die anhaltende Pandemie, Inflation und Energiekrise stellten sie dabei vor Herausforderungen, die so nicht absehbar waren. Lange geschah kaum etwas. Zuletzt zog die Bundesregierung das Tempo an und brachte gleich mehrere Gesetzentwürfe auf den Weg, weitere Gesetzespakete sollen 2023 folgen.

Die Union attackierte die Reformen nach Kräften – und baute dabei auf ein diffuses Unbehagen, dass sie angesichts der Zahl der Ankünfte und Aufnahmen im Laufe des Jahres geschürt hatte. Symptomatisch dafür war zuletzt die Debatte um die geplante Staatsbürgerschaftsreform. Erst im Juni hatte das Statistische Bundesamt gemeldet, dass das sogenannte »ausgeschöpfte Einbürgerungs­potentzial« bei rund 2,4 Prozent dümpelt. Der Wert gibt das Verhältnis von Einbürgerungen zur Zahl der mindestens seit zehn Jahren in Deutschland lebenden Ausländer:innen an. Nur äußerst wenige wollen also den deutschen Pass – denn die Konditionen sind nicht einladend. Die Ampel will die erforderliche Aufenthaltsdauer von acht auf fünf Jahre senken, Kinder ausländischer Eltern sollen automatisch Deutsche werden, wenn ein Elternteil bereits seit fünf Jahren rechtmäßig im Land lebt. Vor allem aber soll die alte Staatsbürgerschaft nicht mehr aufgegeben werden müssen.

Dass Deutschland auf Migration für den Arbeitsmarkt angewiesen sei, »bedeutet aber nicht, dass man flächendeckend mit dem deutschen Pass um sich wirft«, meinte der Unionsfraktionsgeschäftsführer Thorsten Frei zu den Reformvorschlägen. So verwundert es nicht, dass laut der jüngsten Jahresstudie des Mercator Forum Migration und Demokratie die große Mehrheit der Befragten der Meinung ist, dass Migration das politisch konfliktträchtigste Thema ist – weit vor Wirtschafts- und Klimafragen.

Das allerdings war vor den Jahren der großen Flüchtlingsankünfte – 2015/16 und 2022 – auch nicht anders. Die anhaltende praktische Solidarität mit Ankommenden hat das nicht verhindert. Ein schlechter Befund ist das nicht.

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