Vergleichen wir mal Frankreich und Deutschland! Die gute Nachricht von der deutschen Wahlfront lautet: »The center still holds« (die Mitte hält noch immer). Der deutsche Wahlkampf findet zwischen den Parteien der politischen Mitte statt. Die Ränder spielen nur eine marginale Rolle. Die radikale Rechte besitzt keine Energie: Die AfD hat kein Thema. Auch die früheren Aufregerthemen Migration und Europa bestimmen derzeit nicht die politische Agenda. Darüber hinaus leidet diese Partei unter einer Selbstradikalisierung und einer selbstverursachten Implosion. Sie ist inzwischen eine der braunsten rechtspopulistischen Parteien in Europa. Auch auf der ganz linken Flanke gibt es nur noch wenig Energie. Die Linke hat sich selbst mit einem bizarren außenpolitischen Programm ins Abseits gedrängt.
Die politischen Ränder sind in Deutschland aber »giftiger« als andernorts. Die rechtsradikale AfD mit ihren neonazistischen Verbindungen ist vor allem ein ostdeutsches Phänomen und steht nun sogar unter Beobachtung durch den Verfassungsschutz. Die Linke hat ebenfalls ihre Wurzeln im ehemaligen DDR-Unrechtsstaat. Die politische Mitte in Deutschland – mit einem stark überlappenden Konsens zwischen Union, Grünen, FDP und SPD – befindet sich demgegenüber in einer relativ luxuriösen Lage und leidet weniger unter »Populismuskrämpfen« als in den übrigen europäischen Staaten. Verglichen damit ist die politische Lage in Frankreich recht prekär. Dort stehen sich Präsident Emmanuel Macron und Marine le Pen mit 55 % gegenüber 45 % Rückhalt gegenüber – Establishment versus Anti-Establishment. Hier ist die ganze politische Ordnung unter Druck.
Viele Erhebungen zeigen, dass es in Deutschland eine gewisse Wechselstimmung gibt, einen Wunsch nach Innovation und Veränderung. Durchaus nachvollziehbar nach den vergangenen Großen Koalitionen der ehemals mächtigen Volksparteien Union und SPD. Und nach der schier endlosen Herrschaft von Kanzlerin Angela (»Mutti«) Merkel. Aber diese »Wechselstimmung« bleibt thematisch begrenzt, sie konzentriert sich auf den Ruf nach einer Modernisierung der politischen Mitte – insbesondere nach Durchbrüchen in der Klimapolitik und bei der Digitalisierung Deutschlands. Sie ist weit entfernt von einem Aufstand populistischen Unbehagens und Misstrauens, wie er in anderen europäischen Ländern zu sehen ist.
Für einen Moment schien es, als würde die politische Nachkriegsordnung Deutschlands in ihren Grundfesten erschüttert, als würde die lange Ära Merkel doch in Verwirrung und mit einem Knall enden, denn für kurze Zeit lagen die Grünen in einer Umfrage vor der einst allmächtigen »Union« aus CDU und CSU – und das zum ersten Mal überhaupt. Es schien ein politisches Erdbeben zu geben. Nach 16 Jahren Merkel schien tatsächlich ein politischer Wachwechsel greifbar, mit einer grünen Kanzlerin und einer Oppositionsrolle für die »ewige Machtpartei« CDU/CSU.
Das politische System der deutschen Nachkriegszeit stützt sich traditionell auf zwei große Volksparteien – die christdemokratische CDU/CSU und die sozialdemokratische SPD. Sie waren die Stabilitätsanker des posttraumatischen Deutschlands nach den Schrecken des 20. Jahrhunderts. Dann geriet erst die SPD nach dem groben Einschnitt in den Sozialstaat unter Gerhard Schröder in den freien Fall. Nun scheinen die Christdemokraten an der Reihe. Deutschland würde sich damit im europäischen Vergleich normalisieren, denn in den Nachbarländern gibt es schon seit Langem eine radikale Transformation und Fragmentierung des Parteiensystems der Nachkriegszeit, etwa in Belgien, Frankreich, Österreich oder den Niederlanden. Deutschland schien lange Zeit immun gegen diesen Trend zu sein, bis nun der Geist der politischen Unberechenbarkeit auch Deutschland zu erreichen scheint.
Und dann kamen Sachsen-Anhalt und die kleinen Skandale von Annalena Baerbock. Sie sorgten dafür, dass der deutsche Wahlkampf beendet schien, bevor er so richtig begonnen hatte. Im Post-Merkel-Chaos innerhalb der Union um Parteivorsitz und Kanzlerkandidatur schien Baerbock eine sehr professionell wirkende Regierungsalternative zu präsentieren und wurde in den Medien sogar schon als erste grüne Kanzlerin gehandelt. Sie erschien als die personifizierte Wechselstimmung. Als dann aber die CDU bei der Sachsen-Anhalt-Wahl überraschend gut abschnitt, bekam Laschet einen Schub und der Baerbock-Effekt löste sich auf. Vorbei die Sensation. Baerbock, die ihr ganzes Leben lang in der grünen Blase zugebracht hatte, wurde in der Öffentlichkeit getestet und als zu leicht befunden. Vor allem wegen der wenig überzeugenden Art und Weise, wie sie auf den Druck von außen reagierte. Hätten die Grünen einen Fehler gemacht, wenn sie statt Baerbock nun Robert Habeck als Kanzlerkandidaten nominiert hätten? Verkörpert dieser »zweite Mann der Grünen« – Typ laut philosophierender Denker – nicht viel mehr das neue entspannte Selbstgefühl der Grünen, das auf viele deutsche Jugendliche übergesprungen ist? Abgesehen von seiner verpatzten Ukraine-Reise, ist er nicht derjenige, der zuerst eine Wechselstimmung innerhalb der Grünen geschaffen hat und dies nun für ganz Deutschland schaffen könnte?
Ich bin sicherlich kein Fan der Grünen und ihres Zugs einer elitären »Verbotspartei«. Aber ihre Energie und ihr programmatischer Antrieb sind eindrucksvoll. Das gilt auch für einige ihrer engagierten Politiker wie Habeck oder Winfried Kretschmann, die sich weniger eng auf die Image- und Wahlkampflinien beziehen, die mittlerweile überall so dominant geworden sind. Die Grünen haben z. B. auch den mutigen Cem Özdemir, der es wagt, sich gegen Erdoğans »langen Arm« in der deutschen Politik zu wenden und fordert, hart gegen Russland und China vorzugehen.
Schwieriger erscheint es demgegenüber, in der geschrumpften Volkspartei SPD nach interessanten Denkern und Politikern zu suchen. Ihr fehlt es an Energie und Dringlichkeit. Sie wirkt weder als Machtpartei noch als frische Alternative. Weder Status quo noch Wechselstimmung. Sie hat aufgehört, eine Volkspartei zu sein, denn um dem Anspruch gerecht zu werden, verschiedene Bevölkerungsgruppen und Regionen miteinander verbinden zu können, müsste sie mindestens 20–30 % der Stimmen bekommen.
Aufgrund ihrer mehr grünen als sozialdemokratischen Europapolitik (»Europa ist die Antwort«), Klima- und Migrationspolitik – einem Programm für hochgebildete städtische Fachkräfte – hat die SPD die unteren und mittleren Stammwähler kulturell entfremdet. Zuvor waren diese Gruppen bereits durch die fehlgeleitete Modernisierung des deutschen Sozialstaates unter Schröders Agenda 2010 sozial entfremdet worden. Die kulturelle Entfremdung wurde durch die SPD-Umarmung der modischen Identitätspolitik weiter verstärkt. Der Angriff der woken Community auf Wolfgang Thierse, bizarre Berichte über einen Antrag hinsichtlich »menstruierender Männer« auf einem SPD-Parteitag in Sachsen: All das belastet die Bemühungen um eine Wiederauferstehung der SPD als staatstragender Volkspartei. Wie geht es also weiter mit der Partei von Willy Brandt und Helmut Schmidt?
Der Zeitgeist ist der SPD nicht wohlgesonnen. Die Deutschen haben ein wunderbares Wort dafür: »Deutungshoheit«. In diesen Zeiten ist sie grün bis dunkelgrün: Klima, jung, digital, woke, Fridays for Future, Black Lives Matter. Den neuen bürgerlichen Grünen ist dieser Zeitgeist wie auf den Leib geschnitten. Eine Partei von und für wohlhabende Hochgebildete (und ihre Kinder), mit Klima und Digitalisierung als wichtigste Themen. Die Grünen erscheinen als Stimme des modernen großstädtischen Deutschlands gegen die etwas traditionellen und altmodisch wirkenden Stimmen der »Altparteien« CDU und SPD. Dass selbst die konservative CSU in Bayern unter Markus Söder ihren Kurs von der mittelständischen Wählerschaft des Landes hin zu den urbanen Schichten in München geändert hat, von der Migration zum Klima, scheint wie ein Zeichen an der Wand.
Aus europäischer Perspektive mache ich mir über die bevorstehende Bundestagswahl gewisse Sorgen. Viel mehr als zu Hause hatte Bundeskanzlerin Merkel ja im Ausland einen guten Ruf. Sie galt als die Frau, die mit ihrer Gemeinschaftsdoktrin die Europäische Union als Krisenmanagerin zusammenhielt. Und sie hielt auch den Westen während der Trump-Katastrophe einigermaßen zusammen. Ihr abwartender, nicht-visionärer Politikstil mag für Intellektuelle in der Politik antiinspirierend gewesen sein, aber trotz ihrer Adenauer-DNA von »Keine Experimente« und »Segeln auf Sicht« hat sie dennoch erhebliche riskante Experimente in der deutschen Politik unternommen: die Energiewende und die »Wir schaffen das«-Flüchtlingspolitik. Ihre Schwächen lagen vor allem im Bereich der Geopolitik. Sie hatte wenig Interesse an der Verteidigungspolitik und verkörperte Deutschlands Haltung, pragmatisch-opportunistische Geoökonomie über eine strategische Geopolitik zu stellen: Beispiele sind ihre Russland-Politik (Stichwort: Nord Stream 2) und die wenig menschenrechtssensible China-Politik.
Der neue Kanzler respektive die neue Kanzlerin wird in der raueren geopolitischen Welt, in die wir eingetreten sind und in der liberale Demokratien des Westens wirtschaftlich, politisch und kulturell von erfolgreichen autoritären Mächten wie China, Russland und der Türkei enorm herausgefordert werden, ziemlich gefordert sein. Meine Sorge gilt dem Mandat des künftigen Amtsinhabers bzw. der Amtsinhaberin, dem nationalen wie dem europäischen Mandat. Die neue Kanzlerin bzw. der neue Kanzler wird in der deutschen Politik beim Zusammenhalt zwischen Ost und West, zwischen gut und weniger gut Gebildeten inmitten einer disruptiven Klimapolitik eine entscheidende Rolle spielen müssen. Und auch dabei, Europa und den Westen bei geopolitisch schwierigem Wetter zusammenzuhalten.
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