Zwar war das offizielle Motto der Frankfurter Buchmesse: »Re:connect« vorsichtig, vom »Zeichen des Wiedersehens« war im Oktober die Rede. Doch auch sie waren im Herbst 2021 wieder da: die vollmundigen Formulierungen. Pünktlich zur Eröffnung stand Kulturstaatsministerin Monika Grütters auf der Bühne und sagte: »Heute feiern wir die Rückkehr der literarischen, der publizistischen Welt nach Frankfurt.« Karin Schmidt-Friderichs, Vorsteherin des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, sprach von »Wiedersehensfreude satt«, und Alexander Skipis, noch Hauptgeschäftsführer des Börsenvereins, will, wie er im SWR sagte, die Glut, die »bereits lodert« wieder »entfachen«.
Nichts läge mir ferner als die drei dafür zu kritisieren, dass sie die Arbeit machen, die man von ihnen erwartet und die auch darin besteht, das Team vom Spielfeldrand aus anzufeuern. Unbestritten auch, dass alle drei sich in der Krise verdient gemacht hatten – durch politische Förderprogramme, durch Lobbyarbeit und durch den Kraftakt, tatsächlich wieder eine Messe auf die Beine zu stellen. Das war nicht wenig. Zu erwarten wäre aber ein geweiteter Blick von den Branchenvertreter*innen.
Vielleicht war auch die Eröffnung einer Messe der falsche Ort, vielleicht fühlte sich niemand für das, was man »Literaturbetrieb« nennt, in seiner ganzen Breite zuständig. Vielleicht muss man Verständnis dafür haben, dass Menschen erstmal aufatmen konnten, dass bis dahin alles nicht so schlimm gekommen war wie befürchtet. Aber vielleicht ist genau das ein großer Fehler, weil man vor lauter Aufatmen nicht mehr sieht, dass es hinter einem qualmt und man die Frage stellen muss, ob das die lodernde Glut ist oder doch der Beginn eines Flächenbrandes in einer ganz anderen Ecke.
»Aber wo brennt’s denn?«, mögen Sie nun fragen, wo doch die Messe zurück ist, wir Veranstalter wieder veranstalten und man von Verlagen und Buchhandlungen hört, phasenweise sei es während der Lockdowns wie im Weihnachtsgeschäft zugegangen. Nun: Wenn man sich mit Leuten aus Kultureinrichtungen unterhält, wird hinter vorgehaltener Hand eine etwas andere Sprache gesprochen. Von »Wiedersehensfreude satt« jedenfalls kann keine Rede sein.
Das Publikum kommt nicht zurück. Ob man mit Vertreterinnen und Vertretern von Schauspiel- oder Literaturhäusern ins Gespräch kommt, ob mit den Etablierten oder der freien Szene: Nicht nur läuft der Ticketverkauf zäh, nein, auch der Anteil derer, die eine Karte gekauft haben und trotzdem nicht kommen, ist erheblich gestiegen. Man sucht Erklärungen: Mal ist das Wetter zu schön, mal ist es zu schlecht, mal sind es die hohen Inzidenzen. Was, wenn all das aber nur halbe Wahrheiten sind?
Lesungen sind mehr als Veranstaltungen, bei denen man Prominenz hautnah erleben oder sich ein Buch signieren lassen kann. Eine Lesung ist ein soziales Ereignis, und wie alle Ereignisse zeichnet sie sich dadurch aus, dass sie im besten Falle begeistert – und im schlechtesten enttäuscht: Weil etwas grandios schiefläuft, weil der Funke nicht überspringt, weil man sich nach zehn Minuten schrecklich langweilt.
Eine Lesung zu besuchen heißt, sich diesen beiden Möglichkeiten bewusst auszusetzen. Das eine zu genießen, das andere gegebenenfalls auszuhalten. Eine Lesung ist immer ein Pakt im Dreieck von Autor*innen, Zuschauer*innen und Veranstalter*innen. Ich verpflichte mich, alles dafür zu tun, den Gästen auf der Bühne und jenen im Zuschauerraum einen guten Abend zu bieten.
Das Publikum schenkt den Autor*innen und mir Aufmerksamkeit und: Zeit. Es will sich amüsieren und intellektuell anregen lassen und gibt dafür ein wenig Geld, vor allem aber 90 Minuten Lebenszeit plus An- und Heimfahrt. Ich nehme es sehr ernst, dass Menschen uns als Einrichtung die Zeit zur Verfügung stellen, die sie mit Familie oder Freunden hätten verbringen können. Vielleicht ist es naiv von mir zu glauben, dass dieser Pakt einen gesellschaftlichen Beitrag darstellt, klein, ja, aber doch eben einen Moment des Miteinanders und des Austauschs mit anderen Menschen während oder nach einer Lesung. Auf diesem Glauben basiert mein Selbstverständnis als Veranstalter.
Ein nicht kleiner Teil der etablierten Veranstalter/innen in Deutschland hatte zu Beginn des zweiten Lockdowns begonnen, Veranstaltungen zu streamen – wir entschieden uns gegen diese Möglichkeit. Der gerade beschriebene Pakt wird unterlaufen, wenn sich zwischen Publikum und Bühne ein Bildschirm befindet.
Die Aufmerksamkeit des Publikums ist einem wackligeren Handel unterworfen: Die Versuchung kennen wir alle, einen zweiten Tab im Browser zu öffnen und Nachrichten zu lesen. Sich kurz einen Snack zu besorgen. Vielleicht ist es ein Vorteil, dass man bei Langeweile den Laptop zuklappen kann, während man in einer Lesung aus Höflichkeit sitzengeblieben wäre, wie es ohnehin weitere Vorteile des Streamings gab und gibt: barrierefreier Zugang für fast alle; es Autor*innen zu ermöglichen, ihrer Arbeit nachzugehen und entlohnt zu werden zum Beispiel.
Das Publikum bleibt weg
Das sind unbestreitbar positive Nebeneffekte, die man sich aber nur dann ans Revers heften darf, wenn man die sozialen Komponenten einer Veranstaltung und deren Verlust im Digitalen ausblendet. Dieser Verlust konnte ausgehalten werden, weil man in der langen Nacht des Lockdowns ohnehin keine Veranstaltung besuchen durfte, gleichzeitig aber eben auch nicht Verzicht üben musste. Zwischen zwei Episoden Bridgerton auf Netflix oder WandaVision auf Disney+ lief die Lesung einer Buchpreisträgerin. Ab dem Sommer könnte man ja ganz sicher wieder vor Ort dabei sein und all das leibhaftig erleben. Auch ich habe Stunden verbracht zwischen historischen Kulissen, den Marvel-Experimenten und dem festen Glauben, alles würde irgendwie wieder wie früher. Und nun bleibt das Publikum doch weg.
Erstaunlicherweise sind Veranstalter, die weiterhin streamen, unerhört zufrieden mit den digitalen Zugriffszahlen. Was, wenn nicht das Wetter verantwortlich ist, nicht die Bahn, nicht steigende Inzidenzen? Was, wenn wir gerade dabei sind, zu erleben, was der Buchhandel vor der Pandemie erlebt hat: den Verlust der Kundschaft. Was, wenn das Publikum festgestellt hat, dass eine Lesung nur einen Klick entfernt ist, dass eine Lesung nach Hause geliefert wird wie ein Abendessen von Lieferando oder eine Netflix-Serie. Was, wenn sich das Publikum daran gewöhnt hat, von der Couch aus am kulturellen Leben teilnehmen zu können?
Selbstverständlich ist es zu früh, die Totenreden vorzubereiten. Selbstverständlich ist es unsere Aufgabe als Kulturvermittler*innen, den Menschen, die (gerade) nicht mehr kommen, zu zeigen, dass wir mehr sind als Unterhaltung, für die man das Sofa verlassen muss. Vielleicht ist im nächsten Jahr wieder alles anders, wenn die Masken fallen, wenn man sich wieder ins Gesicht sehen kann, wenn die Inzidenzen sinken. Vielleicht. Wir sollten aber nicht den Fehler machen, uns darauf zu verlassen. Die Buchbranche hat schon einmal zu spät gemerkt, dass ihr die Leserschaft abhandengekommen ist, und wir können es uns nicht leisten, dass nun auch der Veranstaltungsbetrieb erodiert.
An uns hängen Existenzen: Autor*innen leben nicht von Vorschüssen und Verkaufsbeteiligungen, sie leben von Lesungshonoraren. Große Häuser müssen Personalkosten durch Einnahmen decken, kleinere geraten gegenüber der öffentlichen Hand in Erklärungsnot, wenn sie jenseits der Wahrnehmungsgrenzen agieren. Es läge nun auf der Hand, in den sauren Apfel zu beißen und zu sagen: Aber dann ist doch das Streamen von Veranstaltungen ein guter Mittelweg. Mag sein, aber vielleicht ist das am Ende ein Ausverkauf dessen, für was wir stehen: Orte der Begegnung zu sein.
Nahezu zwei Jahre sind wir unter uns geblieben. Ich glaube nicht, dass eine Gesellschaft unbeschadet aus einer so langen erzwungenen Vereinzelung findet. Ich möchte wieder Menschen vor mir sehen, die es aushalten müssen, dass die Person rechts Knoblauch im Mittagsgericht hatte, dass der Autor auf der Bühne in der Realität nicht so knackig agiert wie erhofft. Ich möchte wieder Menschen vor mir sehen, die lachen, wenn auf der Bühne etwas gelingt und die nach der Lesung bei Wein oder Bier ins Gespräch kommen.
Es ist ein Unterschied, ob ich guter Dinge sein darf, dass das Publikum zufrieden mit uns den Laptop zuklappt, oder ob das Publikum im Saal der Autorin Standing Ovations gibt – die gesellschaftliche Relevanz dieses Unterschieds ist erheblich. Wir sollten das nicht vergessen, wenn wir von »Wiedersehensfreude pur« sprechen und gleichzeitig aber in einen leeren Raum blicken.
Der schönste Satz des vergangenen Jahres stammt nicht aus einem Buch und fiel nicht in einer Lesung. Er wurde mitten in mein Wohnzimmer gestreamt. In der Marvel-Serie WandaVision sagt eine Hauptfigur zu einer anderen, die verzweifelt trauert: »What is grief, if not love persevering.« Was ist Trauer wenn nicht Liebe, die überdauert. Sollten Sie in diesem Beitrag eine Gefühlswallung verspürt haben, Wut, Enttäuschung, Sorge, dann speist dieses Gefühl sich einzig daraus, dass mir fehlt, was ich liebe – die Begegnung.
Denken Sie nicht, ich sperrte mich gegen die Digitalisierung. Denken Sie nicht, ich hätte kein Verständnis dafür, dass kulturelle Einrichtungen ein Geschäftsmodell für sich entdeckt haben, das vielleicht für den Augenblick existenzsichernd ist. Vergessen Sie aber eben auch nicht, dass selbst der hochauflösendste Bildschirm die reale Begegnung mit all ihren Implikationen nicht wird ersetzen können. Wir sollten ab dem Frühjahr das Streamen denjenigen überlassen, für die es erfunden wurde. Aber Autorinnen und Autoren gehören in einen Raum voller Menschen.
Sollten Sie im Augenwinkel ein Flackern wahrnehmen, schauen Sie genau hin: Ist das der Bildschirm, auf dem Sie streamen? Oder brennt es irgendwo schon?
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