Es war ein Aufkleber des falschen Staates. Dabei harmonierte das Rot der Sowjetflagge so fabelhaft mit dem Orange meines VW Käfers. Wahrscheinlich war der Motorradpolizist, der mich anhielt, gar kein verbissener Antikommunist und ihm war nur das eigenwillige Bremsen aufgefallen. Der Wagen war leider insgesamt in einem sehr sowjetischen Zustand. Eine fahrende Mangelwirtschaft. Die Benzinpumpe war so lebensmüde, dass das Auto jederzeit hätte in Flammen aufgehen können. Schrieb der Gutachter. Bremsen ließ sich das Auto durch Ausrollen und einen dosierten Einsatz der Handbremse.
Auch in diesem Punkt stellte sich der Gutachter etwas anderes unter Verkehrssicherheit vor. Staatlichkeit ganz praktisch: Hier die Regeln, die aus guten Gründen für alle gelten. Dort mein individuelles Fahrgefühl, das weniger wert war. Ich gab dem Staat, was er mir gerade erst gegeben hatte. Denn das Gutachten und das Bußgeld kostete mein gesamtes Abschiedsgeld nach 20 Monaten Zivildienst.
Als Junge und Jugendlicher hatte ich nur eine vage Ahnung, was der Staat sein könnte. In meinem Kinderzimmer hing ein Poster von Helmut Schmidt. Mit dem traf sich mein Vater an manchen Wochenenden, um sich zu besprechen. Genau genommen sprach nur der Bundeskanzler. Das Konzept der Kundgebung war mir damals aber noch nicht bekannt. Unsere Stadt gehörte, wie alles andere Übergeordnete, der SPD. Denn wenn die Erwachsenen einen größeren Anlass feierlich begehen wollten, fragte jemand einen »bei der SPD« und schon gab es irgendwo einen Partyraum. Auf besonders widerstandsfähigen Plastikbällen stand ebenfalls der Name der Partei. Die immer gut gelaunte Nachbarin meiner Großmutter, Esther Bittner, übergab mir auf unserem Marktplatz gratis eine Wurst, die ich ebenfalls der SPD zu verdanken hatte. Mein Opa erklärte mir, Frau Bittner sei im Wahlkampf. Und das sei nun mal die Zeit für freie Bratwürste.
...wenn die Details zu verschwimmen drohen
In den frühen Studententagen engagierte ich mich bei den Grünen. Nicht weit weg von Esther Bittners SPD-Grill versuchte ich mit Hilfe von eng bedruckten Zetteln Wähler von viel mehr Staat zu überzeugen. Einem grundguten, aber auch sehr klugen Staat. Als Ökosozialist erhoffte ich mir, der richtige Staat würde alle Bürger, die weniger Durchblick hatten als ich und meine Parteifreunde, auf den richtigen, den ökologisch einwandfreien Weg führen.
Drohten mir die Details zu verschwimmen, weil ich dann doch nicht genau sagen konnte, wer alles aus grünen Gründen enteignet gehört, tönte ich von »angemessenen staatlichen Maßnahmen«, die zu ergreifen seien. Um in meiner Umgebung nicht unangenehm aufzufallen, hielt ich Helmut Kohl für das Schlimmste, was einem Staatswesen passieren konnte.
Musste dabei aber ignorieren, wer an dem unglücklichen Ende der Liebesgeschichte meines damals besten Freundes und seiner Geliebten aus Dresden schuld war. Die beiden hatten sich während eines Ungarnurlaubs tiefstmöglich ineinander verguckt. Es gab keine Mauer in den Köpfen, oder in den Herzen. Leider aber die echte deutsch-deutsche Grenze. Die Herrliche musste zurück in den Unrechtsstaat DDR. Während mein Freund zu Helmut Kohl zurückkehrte, der sich auch in diese Privatbeziehung nicht einmischte.
Den staatlich geforderten Dienst ableisten. Statt durch die nervigen BAföG-Anträge zu wurschteln, lieber jobben und das Geld direkt in der Tasche haben. Alle paar Jahre einen neuen Pass beantragen und dabei damit leben, dass Ämter nun mal keine Läden sind. Also niemand zuvorkommend sein muss. Dazu ist das monatliche Einkommen viel zu garantiert. Für den, der vom Staat nichts braucht, wird er zu einer Art Onkel, der nicht meckert, wenn man ihn vergisst.
Im Ausland war es dann aber irgendwann nicht mehr nur ein Bundesadler in einem Dokument, das überall die Einreise erleichtert. In Nairobi, Kenia, erzählte ein einheimischer Bekannter ganz abgeklärt, dass er auf der Ladefläche eines LKW landen würde, sollte man ihn erschossen am Straßenrand seines Viertels finden. Ermittelt würde erst, wenn ein weißer Edel-Ausländer wie ich, einem Mord zum Opfer fällt. In Mumbai wusch sich ein Mann auf der Verkehrsinsel, auf der er offenbar auch wohnte. Einer von Millionen, die einem Staat gleichgültig sind, der sich zwar an demokratische Regeln, aber auch an die religiösen Prinzipien der Schicksalsgläubigkeit hält. Im Vergleich ist der bundesdeutsche Adler alles andere als ein Raubvogel, sondern ein regelrechtes Hütetier.
Wer dem Staat eine Gestalt gibt
»Staatsmacht« bleibt dennoch ein verstörender Begriff. Anmaßend und unpersönlich. Denn erst die unterschiedlichen Persönlichkeiten geben dem menschengemachten Staat eine Gestalt. Die Polizistin, die ein Auge zudrückt, weil sie selbst nach einer Weihnachtsfeier schon mal das Licht am Fahrrad nicht mehr finden konnte. Aber auch der Beamte in Hausschuhen im Einwohnermeldeamt, der stolz war, wie gut sein Englisch ist. Der unsere englische Heiratsurkunde also wortgetreu verstand, aber nicht anerkannte. Irgendeine Verordnung verlangte eine besiegelte Übersetzung. Die hatten wir nicht. Tut mir auch leid, sagte er. Meinte es so wenig, wie Generationen von Buchstabenlakaien vor ihm.
»Och schade«, denke ich heute, wenn sich ein junger Mensch für eine Laufbahn im Finanzamt entscheidet. Denn so furchteinflößend ist unsere Umgebung eigentlich nicht, dass erst im krisensicheren Unterschlupf der Verbeamtung aufgeatmet werden könnte. Bilder, Lieder, Gedichte, die im staatlichen Auftrag entstanden sind, kommen über ihre Herkunft nie hinweg. Selbstverständlich dienen dem Staat auch Idealisten. Auf dem Beton der Besoldung blüht aber nun mal höchst selten eine wunderschöne Idee.
Als ich kürzlich einen feinen Richter kennenlernte, mochte ich unsere Nähe nicht durch demonstrative Staatsferne beschädigen. Suchte lieber nach etwas, was ich diesem Staat wirklich zu verdanken habe.
Als Zehnjähriger durfte ich erleben, was für meine Mutter noch unmöglich erschien. Für meinen Großvater sowieso. Ich durfte ein Gymnasium besuchen. Noch dazu eins, das überhaupt nur gebaut wurde, weil der Staat, verantwortet durch eine neue sozialliberale Regierung 1969, Geld für Bildung von Kindern aus einfachen Verhältnissen auftrieb. Meine Schule war alles andere, als eine Kathedrale des Geistes. Nach den provisorischen Pavillon-Containern war irgendwann die Waschbeton-West-Platte fertiggestellt.
Der sehr schöne Biologie-Lehrer schlief mit den attraktivsten Oberstufenschülerinnen. Eine Französischlehrerin lud Schüler im Wald zum gemeinsamen Kiffen ein. Ein Erdkundelehrer erpresste seinen Kollegen aus dem Fach Englisch. Er hatte hausgemachte S/M-Pornos im Fach des Mannes gefunden, der im Unterricht mit Queen’s English nervte. Nicht durch und durch das, was sich die Damen und Herren im Bundeskanzleramt unter »Bildungsreform« vorgestellt hatten. Ohne Abitur würde ich aber vielleicht auch nach acht Jahren Volksschule Sicherungskästen neu verdrahten, oder Badezimmer fliesen, wie es mein Vater und mein Stiefvater getan haben.
Ein ganz und gar versöhnender Moment war ein Toast auf das Staatsoberhaupt in einem Berliner Botschaftsgarten. Der hohe Diplomat erhob sein Glas und prostete: »To the Bundespräsident«. Bedauerlicherweise hatte sich niemand gefunden, der dem Prostenden, wie dem Beprosteten, ein tatsächliches Getränk in das leere Glas füllte. Wenn das nur ein doofer Moment ist, aber für niemanden schlimme Konsequenzen hat, ist dieser Staat sogar für einen Moment richtig sympathisch.
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