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© picture alliance / K-H Spremberg/Shotshop | K-H Spremberg

Eine Feldstudie zur Marx-Ausstellung im Deutschen Historischen Museum Berlin Nachschlag: Karl Marx, multisensorisch und in leichter Sprache

Es ist ein ruhiger Morgen. An der Glaswand des postmodernen Pei-Anbaus hinter dem (derzeit geschlossenen) Deutschen Historischen Museum hängt ein übermäßig großes Banner. Sonnenstrahlen beleuchten die rosa Schrift: »Karl Marx und der Kapitalismus«. »Na was denn sonst? Marx und der Liberalismus?«, fragt ein Schüler seinen Freund beim Vorbeigehen. Beide lachen.

Am Eingang ist nicht viel Bewegung festzustellen. Zwei Rentner schnappen sich jeweils einen aufklappbaren Museumshocker. Nur für den Fall, dass die Knie vor der Marx-Büste weich werden. Dann betreten sie die Ausstellung.

An die Wand projizierte Meinungsumfragen sorgen für den warmen Empfang der Besucherinnen und Besucher. 44 Prozent sind der Meinung, Marx’ Kapitalismuskritik sei heutzutage hilfreich, um unsere soziopolitischen Probleme besser zu verstehen. Dennoch sind sich ganze 51 Prozent unsicher, ob ihr Marx-Bild positiv oder negativ sei. Nur 26 Prozent sind immerhin der Meinung, die marxistische Theorie könne für die Gegenwart Orientierung bieten.

Ein italienisches Pärchen flüstert sich vorsichtig die eigene Meinung zur Aktualität des Marxismus zu. Beide schmunzeln, drehen sich um. Sie wollen sehen, ob sie jemand hören kann. Als hätten sie ein besonderes Geheimnis, eine politische Meinung, die sie vor Stasispitzeln oder dem mithörenden Mikrophon ihrer Smartphones hüten müssten.

Die etwas entspannteren Rentner-Freunde sind hingegen schon eine Station weiter. Sie betrachten jetzt mit offenem Mund ein beleuchtetes Porträt von Jenny von Westphalen, Marx' Ehefrau. »Ach die Jenny…« sagt der eine. »Hinter jedem großen Mann steht eine große Frau, nicht wahr?« Antwortet der andere, während Jenny sie beide mit ernstem Blick von der Wand aus ansieht. Schüchternes Lausbubengelächter, dann Ruhe. Ob das ein marxistischer Witz war, sei dahingestellt.

Zwei Punker/innen in den Zwanzigern sitzen ehrgeizig an einem Tischlein und spielen konzentriert das Brettspiel »Strikes«. Wer zuerst 60 Punkte sammelt, gelangt auf das Feld, wo Arbeiter und Kapitalist sich die Hände reichen – und gewinnt. Anscheinend soll die Familie Marx es in ihrer Londoner Zeit gerne gespielt haben. »Scheiße!« ruft die eine und hält sich dann erschrocken die Hand vor den Mund, als sich die bürgerlichen Besucher empört umdrehen.

Ein Dutzend Ketten und jeweils zwei gestohlene Mercedessterne hängen bei beiden entweder um den Hals oder an den zerrissenen Jeanshosen. »Die Proletarier dieser Welt haben nichts zu verlieren als ihre Ketten. Sie haben eine Welt zu gewinnen«, steht in Großbuchstaben auf dem Banner der deutschen Arbeiterbewegung über ihren Köpfen. Ob Punks automatisch Marxisten sind, darüber ließe sich streiten.

Eine junge Mutter versucht offenbar, ihrem Kleinkind zu erklären, dass es sich beim ausgestellten Buch im Glaskasten um die Hegelsche Rechtsphilosophie handelt. Vom Kind kommt merkwürdigerweise keine Reaktion, obwohl doch Marx ohne Hegel gar nicht zu verstehen ist.

Daneben ein vielleicht bekiffter Jugendlicher mit knielangen Dreadlocks. Er blickt nachdenklich auf die japanische Opiumpfeife und fragt sich wahrscheinlich, ob der Kapitalismus nach der Legalisierung von Cannabis zum Hanf fürs Volk werden würde.

Plötzlich ertönt, in kämpferischem Ton, aus unsichtbaren Lautsprechern: »Mögen die herrschenden Klassen vor einer kommunistischen Revolution zittern. […] Proletarier aller Länder, vereinigt euch!« Das inzwischen hegelianisierte Kleinkind fängt an zu heulen.

Inzwischen sind die zwei Rentnerfreunde bei den bahnbrechenden Maschinen der industriellen Revolution angekommen. Sie klappen ihre Museumshocker auf und setzen sich. Sie sind unversehens in einem Wettbewerb verwickelt, aus welchen wohl nur einer als Gewinner rauskommen kann. Die steigende Spannung im Raum ist nicht zu leugnen. Zwar sind sie höflich zueinander, jedoch geht es darum, wer von beiden die bessere Erinnerung hat.

Seelenverwandte Genossen

Sie werfen mit Marxzitaten um sich, als gäbe es kein Morgen, ohne Kontext, sinnbefreit. Gleichzeitig verbinden sie das Auswendiggelernte mit autobiografischen Anekdoten aus fernen Jahren, als sie in Ostberlin noch engagierte Kommunisten waren. Einer von ihnen nennt Marx beim Vornamen, um zu beweisen, dass er und »der Karl« zwar keine Zeitgenossen, dafür aber seelenverwandte Genossen seien. Sie bemerken, dass ich ihnen gespannt zuhöre. Rasch drehe ich mich um und entferne mich aus der brenzligen Situation.

Auf dem Infoschildchen neben der ausgestellten Spinnmaschine kann man lesen, Marx habe dieses Modell als besonders bahnbrechend empfunden. Zufällig heißt die Maschine »Spinning Jenny«, womit sie nicht die erste Jenny in seinem Leben war. »Jenny Jenny, Wolkenreiter, lächelt einfach immer weiter, so wie alle Flugbegleiter«, lautet der Refrain des 2018 erschienenen Hits von AnnenMayKantereit. Marx hätte er bestimmt gefallen. Jedenfalls sind Flugbegleiter heutzutage zweifellos Proletarier, da sie die Maschine ja nicht besitzen. Dass dieses Lied aber marxistisch wäre, kann so leichtfertig auch nicht behauptet werden.

Die Italienerin pumpt nun mit ihrer ganzen Kraft Wasser durch ein Plastikrohr und wird von ihrem stolzen Mann beklatscht. Das Rohr ist gespalten, so dass literweise Wasser in eine Richtung gepumpt wird und nur einige Tropfen in die andere. Jetzt weiß sie, wie viel der Kapitalist vom Mehrwert bekommt und wie wenig davon an Löhnen ausgezahlt wird. Und das, ohne das Kapital gelesen zu haben.

Ich frage mich, ob sich mit den Leuten, die in diesem Raum zusammenkommen, eine Kommune gründen ließe, sind sie doch im Gesamtbild sehr heterogen. Die meisten amüsieren sich oder tun zumindest so. Allerdings fällt auf: Sie sind entweder jung oder alt. Zwischen 30 und 60 ist hier niemand. Vielleicht, weil heute Dienstag ist und die meisten dieser Altersklasse Lohnarbeiter/innen sind.

Aber die Wand mit den projizierten Meinungsumfragen konstatiert: Hätte man bei den Umfragen nur Leute zwischen 16 und 22, und 55 und 64 gefragt, würden über 60 Prozent meinen, dass Marx' Kapitalismuskritik beim Verstehen unserer Probleme hilfreich sein kann. Ansonsten sind es nur 26. Dass der Marxismus neuerdings eine Renaissance erlebe, bleibt nichtsdestotrotz eine steile These.

Marx ist ein Begriff – immer noch

Jedenfalls ist erstaunlich, dass »Karl Marx« oder »Marxismus« noch heute den meisten ein Begriff ist. Wenn doch nicht, dann hat jeder zumindest das runde, vollbärtige Gesicht irgendwann mal gesehen. Stünden die Namen Adam Smith, John Maynard Keynes oder Milton Friedmann auf dem Banner am Eingang, hätten sie nicht einmal zusammen so viele unterschiedliche Leute für eine Ausstellung begeistern können. Höchstens eine Handvoll liberaler VWL-Studis. Die würden Marx wohl als Bedrohung ihres Besitzes deuten. Sie glauben nämlich auch, der Besitz mache sie frei. Und Freiheit schreibt man bei den Liberalen mit Großbuchstaben.

Dann gibt es aber auch die anderen, die in Marx einen Lichtbringer in dunklen Zeiten sehen. Die an die revolutionäre Kraft glauben. Die meinen, der Marxismus gehöre noch nicht der Vergangenheit an. Die müssen sich auch immer wieder mit dem Argument verteidigen, Marxismus sei nicht mit dem einstigen Realsozialismus zu verwechseln. Zwei verschiedene Paar Schuhe. Doch im Pei-Bau sind beide Auslegungen irrelevant.

Die Aktualitätsfrage wird in der gerade laufenden Berliner Ausstellung nur tangential gestellt. An sieben »interaktiven und multisensorischen Stationen« soll man den Klassenkampf in groben Zügen mit mehreren Sinnen erfahren können. Dadurch werden auch Kritik an Religion und Gesellschaft, die Judenemanzipation, der Antisemitismus, die neuen Technologien und die Ausbeutung der Natur in wenigen Sätzen kurz und oberflächlich thematisiert. Weil es ganz ohne nicht geht, aber trotzdem nicht zu viel sein darf.

Den Marxismus spielerisch in Form von Wasserpumpen oder Materialien zum Berühren einzuführen, wird jedoch höchstens Kinder und Laien überzeugen. Wer auch nur ansatzweise mit Marx in Berührung gekommen ist und sich durch die Ausstellung eine theoretische Vertiefung erhoffte, wird den Pei-Bau eher enttäuscht verlassen müssen.

Anders sieht es hingegen mit der Historisierung Marx’ aus, bekommen wir doch die Möglichkeit, den Menschen Karl Marx im Kontext seiner Zeit kennenzulernen. Wir dürfen seine schlampigen Notizen entziffern, wir bekommen anhand der Exponate ein realistisches Gefühl dafür, was es bedeutet haben muss, im Berlin des 19. Jahrhunderts Arbeiter zu sein und was für eine Umbruchsstimmung 1848 in Europa aufkam.

Insgesamt wird die Ausstellung aber ihrer Gastgeberstadt, von der ja eine gute Hälfte sich 40 Jahre lang als Erbstück des Marxismus betrachtete, nicht gerecht. Zu viele Vereinfachungen in »leichter Sprache« reduzieren die potenziell hohe Qualität eines großen Themas auf Schulklassenniveau.

In der Zwischenzeit hat die Italienerin das ganze Wasser hochgepumpt, das Kleinkind hält die geballte Faust zum Himmel und auch die zwei Altmarxisten haben sich endlich ausgestritten, mit dem finalen Satz: »Jetze hab ick aber nen richtijen Hunger jekriegt«. Der Souvenirshop neben der Garderobe ist rappelvoll. Schon verrückt, dass die kapitalistische Verwertungskette am Beispiel von Marx-Schlüsselanhängern, dem Kommunistischen Manifest als Taschenbuch oder dem diesjährigen Karl-Marx-Kalender erklärt werden kann.

(Die Ausstellung »Karl Marx und der Kapitalismus« im Deutschen Historischen Museum Berlin ist noch bis zum 21. August 2022 zu sehen; www.dhm.de)

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