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Der Einstieg einer neuen Bundestagsabgeordneten in Zeiten, die es so noch nie gab Nachschlag:

Dresden, 26. September 2021. Heute ist der Tag der Bundestagswahl. Ein Datum, auf das ich seit über einem Jahr hingearbeitet habe. Monatelang war ich in Dresden unterwegs. Habe mit Menschen gesprochen, Plakate aufgehängt, Veranstaltungen besucht, Flyer verteilt und unsere Politik anhand von Cupcakes erklärt. Wahlkampf eben. Mein Team und ich haben hart gearbeitet, um die sozialdemokratischen Ideen vorzustellen und einen Regierungswechsel in Berlin zu ermöglichen. Erst seit wenigen Wochen haben wir eine realistische Chance bekommen – die Umfragen sehen die SPD vor der Union.

An diesem Tag nun wird sich entscheiden, wie mein Leben weitergeht. Zurück in meinen Job als Büroleiterin des sächsischen Landtagsabgeordneten Albrecht Pallas, und ihn weiterhin bei seiner Arbeit unterstützen? Oder die Möglichkeit, als Abgeordnete im Bundestag Ideen und Vorstellungen voranzubringen? Am späten Abend steht fest: Die SPD ist stärkste Kraft, Olaf Scholz wird Kanzler und ich werde einen neuen Lebensabschnitt beginnen. Das Gefühl? Verrückt.

Zwei Tage später sitze ich mit weiteren 205 SPD-Bundestagsabgeordneten im Plenarsaal des Reichstages. Wir »Neuen« werden von den »Alten« freundlich empfangen. Alle haben diese Euphorie in sich. Wollen Veränderungen. Da gibt es ja noch eine weltweite Pandemie, eine Klimakrise und harte soziale Ungerechtigkeiten. Schnell ist klar, dass wir sofort ins Arbeiten kommen müssen. Wir haben viel zu tun. Noch ahnt niemand, dass ein Krieg in Europa bevorsteht.

Schon bei den Koalitionsverhandlungen bin ich dabei. Ein Vertrauensvorschuss, für frisch gewählte Abgeordnete ist das keine Selbstverständlichkeit. Ich kann auf dem Themengebiet Arbeit und Soziales Expertise einbringen. Als junge, ostdeutsche Frau sehe ich einiges, was sich ändern muss. Wir brauchen einen vernünftigen Mindestlohn. Noch besser flächendeckende Tarifverträge. Hartz IV muss abgeschafft und durch ein Bürger:innengeld ersetzt werden, das die Menschen nicht sinnlos sanktioniert und gängelt, sondern in erster Linie fördert und auf ihrem Weg in den Arbeitsmarkt begleitet. Wir müssen die Rente sichern und den Menschen ein System an die Hand geben, das sie vor Altersarmut schützt. Die Kindergrundsicherung muss endlich eingeführt werden, damit kein Kind vom Einkommen der Eltern abhängig ist, sondern alle in unserem Land dieselben Chancen und Förderungen erhalten.

Einige Wochen sitzen wir mit den Verhandlungspartner:innen zusammen und diskutieren. Es ist eine freundliche und vertrauensvolle Zusammenarbeit. So hatte ich mir das nicht ganz vorgestellt. Ich hatte angenommen, dass wir lauter sein und die Ellenbogen ausfahren müssen. Aber wir können uns auf viele progressive Vorhaben einigen. Den Mindestlohn von zwölf Euro pro Stunde haben wir vereinbart, den Wechsel hin zum Bürger:innengeld und die Kindergrundsicherung konnten wir ebenfalls im Koalitionsvertrag mit FDP und Bündnis 90/Die Grünen festschreiben. Wir haben einen sehr guten Koalitionsvertrag ausgehandelt. Es wird viel Arbeit, all das umzusetzen, aber wir haben in dieser Koalition die Chance, viele Fehlentwicklungen aus den letzten Jahren, wenn nicht sogar Jahrzehnten, zu korrigieren.

In der Zwischenzeit wird mir aber auch bewusst, was für große Veränderungen das Leben als Bundestagsabgeordnete mit sich bringt. Etwa jede zweite Woche Sitzungen in Berlin, Tage voller Termine, Gespräche und Gremiensitzungen. Meinen künftigen Mann, meine Eltern und Freund:innen sehe ich nun nicht mehr täglich. Auch die Frage, ob ich mir eine Zweitwohnung suchen soll oder vorerst in einem Hotel übernachte, stellt sich. Es ist ungewohnt, in den Alltag einer Abgeordneten zu wechseln und sich neu zu organisieren. Vieles wird noch Wochen in Anspruch nehmen. Aber die Vorfreude auf die nächsten Jahre und darauf, die Sicht der Dresdnerinnen und Dresdner, der Sächsinnen und Sachsen und der Ostdeutschen insgesamt einbringen zu können, überwiegt. Vertrauen und Offenheit, die immer wieder von der Bundestagsfraktion spürbar sind, machen es leichter.

Nach den ersten Monaten, in denen das Team zusammengestellt, Büroräume des Bundestags bezogen und ein Bürgerbüro gemietet wurden, rückt die inhaltliche Arbeit ins Zentrum. Ich werde als ordentliches Mitglied im Ausschuss für Arbeit und Soziales und als stellvertretendes Mitglied im Ausschuss für Inneres und Heimat, sowie im Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe mitarbeiten. Alle drei Rollen sind mir wichtig. Als Asylkoordinatorin der Stadt Freiberg bringe ich Praxiserfahrung für das mit, was nun im Bundestag angepackt werden muss: Menschen, die aus welchen Gründen auch immer nach Deutschland kommen, müssen eine sofortige Perspektive haben.

Wir brauchen kluge Köpfe aus anderen Ländern. Wir können es uns schon aufgrund des Fachkräftemangels nicht mehr erlauben, Menschen über Monate und Jahre in Ungewissheit zu lassen, ob sie eine Bleibeperspektive haben. Wir müssen ihnen Unterstützung beim Erlernen der deutschen Sprache und bei der Anerkennung ihrer Abschlüsse geben, unsere bürokratischen Hürden abbauen. Deutschland ist ein Einwanderungsland. Und das ist auch gut so.

Tag des Entsetzens

Dann kommt der 24. Februar. Übermüdet sitze ich vor den Fernseher. Mitri Sirin sagt im Morgenmagazin, dass Putins Truppen in die Ukraine einmarschiert sind. Dieser Tag startet im Entsetzen über die Brutalität der Ereignisse. Tagelang ist mir am allerwichtigsten, aktuelle Informationen zu haben. Fernseher, Handy – woher auch immer, ich nehme alles auf. Freunde und Familie, Presse, Bürgerinnen und Bürger wollen eine Einschätzung zur Lage haben. Dabei weiß ich zu diesem Zeitpunkt nur genau das, was alle wissen. Auch ich habe Angst, fühle mich wie gelähmt und erinnere mich an den Schmerz nach dem Kriegsausbruch in Syrien 2011.

Ich telefoniere viel mit dem Team. Wir reden über Gefühle und Eindrücke. Welche Informationen kommen im Berliner Büro an? Welche Gremien werden tagen und wann muss ich wo sein? Ich treffe mich digital mit den Außenpolitiker:innen der Fraktion. Sie beschreiben die diplomatischen Anstrengungen, um den grausamen Angriffskrieg zu stoppen. Wir besprechen in Fraktion und Partei, welche Sanktionen beschlossen werden sollten. Welche Auswirkungen das auf Deutschland hat und wie wir entgegensteuern können.

Keine Legislaturperiode hat mit einer Krise dieses Ausmaßes begonnen. Kaum jemals wurde »Neuen« schneller bewusst, wie der Bundestag arbeitet, wie diplomatische Prozesse ablaufen und wie das Parlamentssystem von innen funktioniert. Nun gibt es nicht nur Corona, sondern auch noch Krieg. Wie man darauf reagiert im routinierten System eines großen Parlaments? Nach ein paar Tagen und vielen Gesprächen fange ich mich, erarbeite eigene Forderungen für die Situation. Was brauchen die Menschen jetzt, die zu uns kommen? Wie können wir sie einbinden? Was können wir gegen die hohen Energiepreise tun?

Konkret zu den Krisenfolgen zu arbeiten, gibt Sicherheit und das Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun. Nach 100 Tagen, die herausfordernd waren, spannend, zuletzt auch beängstigend. Aber ich bin angekommen in einer Fraktion, der ich vertraue und in der ich mich politisch zu Hause fühle. Wenn nur erst einmal wieder Frieden in der Ukraine ist.

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