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Ein Zwischenruf Attacken aus dem Abseits

Auch nach 1945 gab es irgendwo auf der Welt immer Krieg oder Bürgerkrieg. Insofern ist es nicht bemerkenswert, sondern nur logisch, dass sich in einem Einwanderungsland wie der Bundesrepublik heute auch Menschen aufhalten, deren Lebenserfahrung nicht von 77 Jahren Frieden geprägt wurde. Das hätten auch die klugen Nachrechner wissen können, die Jürgen Habermas’ Essay in der Süddeutschen Zeitung über »Krieg und Empörung« zum Anlass nahmen, dem fast 93-jährigen Wissenschaftler und Intellektuellen mit grobem Pathos eine Nachhilfelektion in Grundschul-Arithmetik zu erteilen.

Der Politikwissenschaftler Cord Schmelzle und die Dichterin Nora Bossong wiesen Habermas darauf hin, dass seine Formulierung »nach 77 Jahren ohne Krieg« für hier lebende, vor Krieg und Bürgerkrieg Geflüchtete aus dem ehemaligen Jugoslawien, dem Iran oder Syrien »wie Hohn klinge« (Bossong), was nur »verzerrten deutschen Befindlichkeiten« (Schmelzle) geschuldet sein könne. Als ob die Erfahrungen dieser Migranten das Thema von Habermas’ Essay gewesen wären oder gar »Nichtbeteiligung am Krieg«, wie die Dichterin dem Philosophen unterstellt. Schmelzle räumt zwar ein, dass »Habermas sich wie niemand sonst um das intellektuelle Niveau des öffentlichen Diskurses (…) verdient gemacht habe«, wozu ohne Zweifel auch und gerade die Kritik an »deutschen Befindlichkeiten« und provinziellen Marotten (»Leitkultur«) gehört.

Habermas hatte zeitlebens Gegner von unterschiedlichem Kaliber. Es begann damit, dass ihm sein Institutsdirektor Max Horkheimer in Frankfurt am Main vorwarf, als dieser ihn – gegen Adorno – aus dem Institut für Sozialforschung drängte, er habe mit einem Forschungsbericht über die neuere Marx-Literatur »den Geschäften der Herren im Osten Vorschub« geleistet und preise, »wenn auch ohne Absicht, die Diktatur«. Mit gröberem Geschütz warteten in den 70er Jahren CDU-Politiker wie Heiner Geißler und Alfred Dregger auf. Sie reihten Habermas ohne Skrupel unter die »Sympathisanten« und »geistigen Väter« des Terrorismus ein.

Peter Sloterdijk demontierte sich selbst, indem er den Tod der Kritischen Theorie verkündete und Habermas zum »Starnberger Ajatollah« kürte, der Leute mit »Fatwas« zum Rufmord durchs Land schicke. Einen Stammplatz für hämische Habermas-Schelte bot lange Jahre das FAZ-Feuilleton. Hier und in der eher rechten Postille Cicero wärmte Jürgen Busche das Bielefelder Stammtisch-Gerücht Joachim Fests auf, Habermas habe als 14-jähriger »Jungvolk«-Führer einen Papierzettel mit »einem Bekenntnis zum Führer Adolf Hitler und zum Endsieg« verschluckt. Das Niveau der FAZ-Polemik gegen Habermas blieb nach unten offen. Zur Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels an den Philosophen profilierte sich ein Mitglied der Redaktion 2001 mit einem bizarren Artikel unter dem Titel »Habermas für Kinder« und verhöhnte ihn als Denker der »guten Absichten« und Meister des »Dabeiseins beim Dagegensein«.

Definitiv ins Abseits manövrierte sich jüngst der FAZ-Theaterkritiker Simon Strauss, der Habermas mit Alexander Gauland (AfD) verglich. Das ist fast so infam wie eine FAZ-Glosse, in der sich ein Redakteur über Habermas’ Sprachbehinderung mokierte, was Alexander Kluge zum ersten Leserbrief in seinem Leben motivierte. Dagegen sind die im FAZ-Feuilleton zu findenden Bezeichnungen des Philosophen als »Altpazifist« geradezu harmlos.

Was viele für unwahrscheinlich oder gar unmöglich hielten, ist den Autoren der Offenen Briefe deutscher Intellektueller an den Bundeskanzler, die die Zeitschrift Emma beziehungsweise die Wochenzeitung Die Zeit abdruckten, gelungen – ernsthafte, das heißt von gegenseitigem Respekt und Verstehenwollen getragene Diskussionen über Krieg und Frieden sind auch im Zeitalter der Krawallmedien und Social Media noch möglich. Die breite Debatte über den ersten Brief und die darin geäußerten Bedenken, dass die Eskalationsspirale das Risiko eines Atomkrieges steigert, ist restlos berechtigt. Vernünftige Gelassenheit, wie sie der Kanzler Olaf Scholz demonstriert, signalisieren weder feiges Zaudern noch Mangel an Courage, sondern stellen eine situationsgerechte, das heißt den Gefahren angemessene politische und moralische Haltung dar, die Verständnis und Respekt verdienen.

Es mangelte an Besonnenheit

Dem tagelang medial laut verstärkten Streit über die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine fehlte dagegen vor allem eines – Besonnenheit, die politisches Handeln in Zeiten des Krieges ebenso benötigt wie einen produktiven, nicht-defätistischen Umgang mit begründeten Ängsten und Befürchtungen vor einem Atomkrieg. Der Spott über »German Angst« als Motiv und Motor der Friedensbewegung der 80er Jahre war schon ebenso wohlfeil wie falsch. Der Spott gewinnt durch die Wiederholung gar nichts, sondern verliert nur den dürftigen Rest seiner immer fragwürdigen, weil bloß erschlichenen Plausibilität.

Wenn man der insgesamt ernsthaften Debatte über die beiden offenen Briefe etwas vorwerfen kann, dann ist es das Defizit, dass sie einer Diskussion über die Untiefen und Leerstellen der Abschreckungsdoktrin, wie sie Horst Afheldt vor über 30 Jahren dargestellt hat, ausweicht. Die Grundannahme jeder Abschreckungsdoktrin ist diejenige, dass der Abschreckende wie der abzuschreckende Gegner rational handeln. Rational ist nach dieser Doktrin eine Handlung dann, wenn der Nutzen des Gegners seinen absehbaren Schaden übersteigt.

Die zweite Voraussetzung der Doktrin besteht in der Annahme, dass Vergeltungsschläge die Abschreckung unterlaufen, wenn der, der vergelten will, selbst noch unzerstörte Werte besitzt, deren Zerstörung für ihn selbst einen unakzeptablen Schaden bedeuten würde. Mit der Rechtfertigung, die Waffenlieferung an die Ukraine diente der Aufrechterhaltung der Abschreckung, betritt man ganz dünnes Eis, denn die dahintersteckende Doktrin ist nicht frei von problematischen Annahmen und Konsequenzen. Im Gegensatz zur Duell-Situation im Western gilt für die Anwendung von Nuklearwaffen: »Wer als Erster schießt, stirbt als Zweiter«.

Der erste Schlag mit Nuklearwaffen gilt deshalb immer als irrational, weil er auf jeden Fall einen vernichtenden Vergeltungsschlag des Gegners auslöst, der so Vergeltung Übende handelt nach der Abschreckungsdoktrin selbst nicht irrational, denn er hat gar nichts mehr zu verlieren nach dem ersten Angriff auf ihn. In der Debatte um Strategien in einer Atomkrise hat sich die These verfestigt, dass alle Strategien suboptimal sind.

»Als schlechteste gilt allerdings das sogenannte ›chicken game‹, bei dem verliert, wer zuerst nachgibt. Unter dieser Voraussetzung kann ein Konflikt unter Besitzern von Nuklearwaffen nur mit der gegenseitigen Vernichtung enden, wenn der zuerst Angegriffene nicht nachgibt, obwohl der Angreifer als verrückt eingestuft wird; oder mit seiner kampflosen Kapitulation, wenn er nachgibt, obwohl der Angreifer verrückt ist; oder mit seiner kampflosen Kapitulation, wenn er nachgibt, weil der Angreifer verrückt ist« (Le monde diplomatique, April 2022).

Kommentare (1)

  • Laubeiter
    Laubeiter
    am 12.01.2023
    Mir scheint dies ein shoot-the-messenger Ansatz zu sein. Schmelzles Artikel enthält Argumente. Er erschien in der FAZ. Es wird hier rekonstruiert, an welchen Stellen in der Vergangenheit die FAZ falsch lag in ihrer Behandlung des Denkens Habermas', statt Schmelzles Argumente zu betrachten. Worin liegt denn Schmelzle falsch? Schmelzle macht zum Beispiel sichtbar, dass Habermas, wenn er sich mit der Position der deutschen Außenministerin befasst, sie als Stellvertreterin betrachtet für die Positionen derer, die weit jünger sind als er. Es gab auch jede Menge Leute aus Habermas' Generation, die die Position der Außeministerin stützen. Habermas geriert sich nach meiner Ansicht als weiser alter Mann. Schmelzle erstarrt nicht in Respekt, sondern nimmt ihm beim Wort.

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