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Das Land im Krisenherbst: Es wird Zeit, über den Tag hinaus zu denken KEIN TITEL

Bis Anfang des Jahres 1899 genoss Finnland, 1809 von Russland eingegliedert, eine gewisse politische Unabhängigkeit und vor allem größere Freiheitsrechte, als sie im autokratisch regierten Russischen Reich üblich waren. Als Zar Nikolaus II. im Februar die verbrieften Sonderrechte mit einem Federstrich aufhob, mobilisierte dies nicht nur die kleine finnische Nation, sondern löste einen gewaltigen Adressturm aus.

Über 1.000 Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens überall in Europa solidarisierten sich mit den Finnen und appellierten an den russischen Kaiser, seine Verordnung sofort aufzuheben. Den offenen Brief aus Deutschland verfassten der freikonservative Militärhistoriker Hans Delbrück, der Historiker und Literatur-Nobelpreisträger Theodor Mommsen sowie der Mediziner Rudolf Virchow, der die linksliberale Deutsche Fortschrittspartei mitbegründet hatte.

Diese politischen Professoren führten eine bedeutende Anzahl von Gelehrten und Künstlern an, die sich zusammen mit vielen anderen Europäern wegen einer Handvoll kujonierter Finnen in die inneren Angelegenheiten eines Imperiums einmischten. Sie beurteilten die Tat des Zaren als einen Anschlag auf die gesamte europäische Freiheits- und Verfassungsbewegung. Es erschien ihnen nur selbstverständlich, bedrängten Freiheitskämpfern in einem anderen Land Beistand zu leisten; kämpften diese doch nicht nur für ihre eigene Freiheit, sondern für die Freiheit aller Demokraten in Europa.

Weil es der Autokrat in Sankt Petersburg als unter seiner Würde empfand, die gesammelten Adressen durch die Hände einer internationalen Delegation selbst in Empfang zu nehmen, übertrug er diese Aufgabe einem subalternen Hofminister. Doch eine solche Respektlosigkeit steigerte die Empörung gegenüber dem Zaren noch weiter. Die kleine Delegation aufrechter europäischer Bürger reiste jetzt über Finnland ab und wurde auf ihrer Strecke ständig von Sympathiebekundungen begleitet.

Der Einsatz war nicht umsonst. 1906 bekamen die Finnen ihre Rechte zurück und sie machten noch mehr daraus: Sie wählten ihr eigenes Parlament, für das Frauen nicht nur das aktive, sondern auch das passive Wahlrecht erhielten. Das hatte es bis dahin auf der Welt noch nicht gegeben!

Wo waren wir?

Im Februar 2014 ließ der autoritäre ukrainische Regierungschef Victor Janukowytsch auf Druck und mit tatkräftiger Unterstützung durch den Kreml auf dem Euromaidan gezielt auf friedliche jugendliche Demonstranten schießen, während im russischen Sotschi die olympischen Winterspiele begannen.

Es war zu diesem Zeitpunkt kein Geheimnis, dass Putin alles unternahm, um die noch junge und instabile Demokratie im Nachbarland in seinen autokratischen Einflussbereich zu bringen. Der Philosoph Bernard-Henri Lévy rief dazu auf, Sotschi sofort zu verlassen oder aber wenigstens die Abschlussfeier zu boykottieren, damit die 22. Olympischen Winterspiele nicht als Spiele der Schande und der Niederlage Europas in die Geschichte eingehen würden.

Nun, der Appell des französischen Intellektuellen verhallte weitgehend wirkungslos, Putins makabre Propagandashow am Schwarzen Meer ging weiter, und die Olympischen Spiele, die eigentlich dem Frieden und der Völkerverständigung dienen sollen, gingen als Spiele der Schande und der Niederlage Europas in die Geschichte ein.

Wenige Tage nach der Abschlussfeier, die nur von wenigen Regierungschefs gemieden wurde, annektierte Russland die Krim und verschob zum ersten Mal in Europa seit 1945 staatliche Grenzen mit militärischer Gewalt und errichtete kurz darauf Miniatur-Marionetten-Regime – sogenannte Volksrepubliken – auf ukrainischem Staatsgebiet.

Die in Deutschland überwiegende Meinung war, dass man die völkerrechtswidrige Besetzung der Krim Russland zwar nicht einfach durchgehen lassen dürfe, aber man mit Putin weiter zusammenarbeiten müsse.

Im Sommer 2022 schlug der Diktatur Lukaschenko die weißrussische Demokratiebewegung mit Hilfe russischer »Spezialisten« gewaltsam nieder. Er setzte darauf, dass der Westen seinem Treiben zusehen würde, weil er ja die Rückendeckung Moskaus genoss. Nicht nur die Reaktionen der demokratischen Staatenwelt auf das schamlose Vorgehen Lukaschenkos ließen zunächst auf sich warten und fielen dann halbherzig aus.

Wir Bürgerinnen und Bürger verhielten uns nicht besser. Wir schauten tatenlos zu, wie tapfere Männer und Frauen in immer größere Bedrängnis gerieten. Erst als Minsk die Landung eines Zivilflugzeugs erzwang, um den an Bord befindlichen Regimekritiker Roman Protassewitsch zu entführen und ihn und seine Freundin unter offensichtlicher Gewaltanwendung auf abscheuliche Weise vorführte, begannen wir uns allmählich zu rühren.

Immer mehr von uns unterstützten Gefangeneninitiativen und Auslandsvereine geflüchteter Belarussen, starteten zusammen mit ihnen Informationskampagnen und Protestveranstaltungen. Akademische Institutionen und Stiftungen vermittelten entlassenen Oppositionellen oder Gefährdeten Auslandsaufenthalte, um sie aus der Schusslinie der Sicherheitsbehörden zu bringen. Die Zivilgesellschaft rührte sich – endlich. Leider verspätet und zu zaghaft.

Auf der richtigen Seite stehen

Wir sollten die »Zeitenwende« nicht auf sicherheitspolitische Konsequenzen verengen. Sie besitzt auch eine demokratiepolitische Dimension. In der Regierungserklärung von Olaf Scholz am 27. Februar kommt dies klar zum Ausdruck: »In Kiew, Charkiw, Odessa und Mariupol verteidigen die Menschen nicht nur ihre Heimat. Sie kämpfen für Freiheit und ihre Demokratie, für Werte, die wir mit ihnen teilen.« Und weiter heißt es: »Als Demokratinnen und Demokraten, als Europäerinnen und Europäer stehen wir an ihrer Seite, auf der richtigen Seite der Geschichte.«

Auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen. Was heißt das konkret? Auf der richtigen Seite zu stehen, heißt so zu handeln, wie es die europäische Verfassungsbewegung des 19. Jahrhunderts tat. Deren Adressat war der Urheber der Unterdrückung, ihre volle Solidarität gehörte den tapferen Freiheitskämpferinnen und -kämpfern. Thomas Mann hat in seinem Engagement gegen Nazi-Deutschland einmal konstatiert, es komme die Stunde, in der eine Auseinandersetzung auch für einen Intellektuellen zu einer persönlichen Angelegenheit wird. Dann sollten diese uneingeschränkt für die Freiheit und die Demokratie eingetreten.

Und die Politik? Auch hier verstehen einige den Satz von Willy Brandt, ohne den Frieden sei alles andere nichts, falsch. Jedenfalls reißen sie ihn aus den Zusammenhängen, in denen er fiel. Brandt selbst hat den Satz übrigens einige Jahre später revidiert, indem er klar stellte: »Wenn ich sagen soll, was mir neben dem Frieden wichtiger sei als alles andere, dann lautet meine Antwort ohne Wenn und Aber: Freiheit: Die Freiheit für viele, nicht für die wenigen. Freiheit des Gewissens und der Meinung. Auch Freiheit von Not und Furcht.«

Und wir? Dass wir als freie Bürger in einem demokratischen Land anderen Bürgern, die für die Demokratie und Freiheit kämpfen, Solidarität schulden, liegt auf der Hand. Wir sind es selbst, die überprüfen müssen, ob und wie Städtepartnerschaften, wissenschaftliche Kontakte und Geschäfte weitergeführt werden sollen. Wir haben es selbst in der Hand, das belarussische Exil oder die ungarische Opposition zu unterstützen.

Und wir können die Fundamente der eigenen Demokratie stärken. Wir können dazu ermuntern, das Wahlrecht zu gebrauchen, in demokratische Parteien einzutreten und deren Tätigkeit sowie die Arbeit von Parlamenten und Regierungen kritisch und wohlwollend zugleich zu begleiten. Rainer Forst hat dies mit den schönen Worten auf den Punkt gebracht, jede Demokratie bedürfe beständiger Pflege; sonst verwahrlose sie.

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