»Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen«, urteilte angeblich Kanzler Helmut Schmidt vor fast 50 Jahren. Dem folgend scheinen Tagespolitik und realpolitisches Geschehen im Allgemeinen bis heute weder auf den ersten Blick noch auf einen tiefergehenden zweiten Blick sonderlich stark von utopischen Überlegungen bestimmt zu sein.
Auf der einen Seite wollen manche dies mit dem Hinweis rechtfertigen, dass realpolitische Entscheidungen unter einem enormen Zeitdruck getroffen werden müssten, heute vielleicht nochmal mehr als zu Schmidts Regierungszeit. Zudem basierten diese Entscheidungen meist auf Aushandlungen in institutionellen Netzwerken und anderen Beziehungsgeflechten, seien eingebunden in Abhängigkeiten, etwa in globale Handelsketten. Handlungsspielräume würden dadurch enorm eingeengt: »There is no alternative« lautet dann oft die scheinbar konsequente Schlussfolgerung.
Auf der anderen Seite jedoch lässt sich entgegnen, dass es trotz alledem solcher richtungsweisender Ideale bedarf, in deren Lichte das politische Handeln überhaupt erst in die Lage versetzt wird, einen defizitären Status quo zuerst anzuerkennen und dann zu transformieren.
Auffällig ist, dass insbesondere die heutige jüngere Generation die Orientierungslosigkeit im tagespolitischen Geschehen bemängelt und nicht müde wird, auf den immensen Zeit- und Handlungsdruck immer wieder aufmerksam zu machen. Schmidt hat sich seinerzeit auch immer »moralischen Prinzipien« verpflichtet gefühlt und damit sein eigenes Urteil über Utopien in letzter Konsequenz wieder infrage gestellt. Gerade auf Basis moralischer freiheitlich-demokratischer Prinzipien muss gerecht und solidarisch das Projekt einer lebenswerten Welt aktiv angegangen werden. Das Ideal einer lebenswerten Welt für künftige Generationen ist nämlich keine träumerische Option unter vielen, sondern die einzig zukunftsträchtige. Insbesondere das neoliberale Lager versucht demgegenüber, Ideale im Allgemeinen als utopisch und weltfremd zu diffamieren.
Die vorliegende Ausgabe der NG|FH ist ein Experiment, das über ein halbes Jahr lief. Vom ersten Treffen zwischen uns sechs Stipendiatinnen und Stipendiaten der Friedrich-Ebert-Stiftung, die wir das Schwerpunktthema redaktionell gestalten konnten, bis zu diesem Moment, in dem Leserinnen und Leser das Heft in der Hand halten. Die Redaktion der hat auf unseren Wunsch dieser Perspektive Platz eingeräumt: dem Verhältnis von Utopie und Realität. Für die markanten Sichtweisen konnten wir Expert*innen aus verschiedenen Disziplinen gewinnen.
Die Medienlandschaft wandelt sich: Die Print-Auflagen vieler Zeitungen und Zeitschriften schrumpfen, parallel wurden und werden digitale Abo-Modelle aufgebaut, um eine jüngere Leserschaft und neue Zielgruppen zu erreichen. Ob digital oder Print, der noch größere Wandel findet aber auf der inhaltlichen Ebene statt: Unsere Gesellschaft wird diverser. Wer es sich also zum Anspruch macht, ein Medium für diese neue Gesellschaft zu sein, muss sich auch inhaltlich wandeln. Die Redaktion der NG|FH hat das verstanden.
Wir sechs Stipis der FES konnten in den zurückliegenden Redaktionskonferenzen für unsere Themen eintreten. Das Verhältnis von Utopie und Realität bestimmt den pulsierenden Nexus dieser Ausgabe. Dessen Bewegung ist Ausdruck diverser ungestillter Hoffnungen und Resonanzen unserer Gesellschaft.
Statt dem Rat von Helmut Schmidt zu folgen diagnostizieren unsere Autor*innen mit uns vielmehr eine bedauerliche Visionslosigkeit. Um einer solchen sozialen Pathologie künftig vorbeugen zu können, bedarf es eines speziellen Medikamentes: utopischem oder visionärem Bewusstsein. Wir versuchen, an dieser Bewusstseinsbildung mitzuwirken. Der Beipackzettel dazu ist dieses Heft. Hiesige Visionen sind so wenig Gedöns, wie es feministische Außenpolitik ist, welche derzeit bundesdeutsch debütiert. Visionen wie Utopien können realisiert werden und wurden es auch bereits.
Dies schließt jedoch – für uns wie allgemein – die Notwendigkeit einer wachsamen Rechenschaft und Reflexion über das eigene wie kollektive Handeln ein. Langfristig Früchte kann das vorliegende Experiment der NG|FH nur tragen, wenn sich die Kooperation zwischen Stipendiat*innen und der Redaktion verstetigt, jährlich wiederholt und dabei verjüngt. Nur so kann unseres Erachtens den Adern am diskursiven Puls unserer diversen Gesellschaft besonnen nachgespürt werden. Das ist unser hoffnungsvolles Abschiedsgeschenk. Schmidt scheint ein Schnippchen geschlagen.
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