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Die Bürgerversicherung schafft gleichen Zugang für alle Keine Frage des Neids

Die »Bürgerversicherung« als politisches Ziel findet sich seit nunmehr über einem Jahrzehnt in der politischen Debatte. In diesem Jahr wird sie vermutlich mehr Aufmerksamkeit erhalten als all die Jahre zuvor. Warum dies so ist? Weil alle anderen großen sozialpolitischen Projekte der modernen Sozialdemokratie zumindest angegangen, wenn nicht gar realisiert sind: Darunter fallen zum Beispiel der Mindestlohn, die Entgeltgleichheit, die Dynamisierung von Leistungen der Pflegeversicherung und auch Detailverbesserungen im Rentensystem

Als zentrale Herausforderung einer progressiven Sozialpolitik verbleibt die Weiterentwicklung des Systems der Krankenversicherung. Und hier stoßen tatsächlich politisch im Kern unterschiedliche Haltungen aufeinander, es zeigen sich grundverschiedene politische Lösungsansätze zwischen progressiven und konservativen Parteien. Diese gilt es etwas zu sortieren. Worum geht es bei der Auseinandersetzung?

Ansätze für die soziale Krankenversicherung in Deutschland gab es bereits vor Jahrhunderten. Schon die Zünfte unterstützten ihre Mitglieder in Notfällen, beispielsweise bei Invalidität oder Krankheit. Bereits Ende des 18. Jahrhunderts entstand der Vorläufer der heutigen DAK-Gesundheit. In den 1840er Jahren gründeten sich verschiedene Krankenkassen und -unterstützungsvereine und wurden legalisiert. 1883 wurde als erste Sozialversicherung die gesetzliche Krankenversicherung mit Pflichtmitgliedschaft etabliert. Seither wurde der Versicherungsumfang und die Mitgliedschaft – mehr oder weniger – kontinuierlich entwickelt und mit der Reichsversicherungsordnung zum Sozialgesetzbuch V rechtlich beschrieben. Seit Jahrzehnten sind nun rund 90 % der Bevölkerung Mitglieder bzw. Versicherte in der gesetzlichen, solidarischen Krankenversicherung und erhalten eine – auch im weltweiten Vergleich – sehr umfassende und qualitativ hochwertige Versorgung im Krankheitsfall

Ideengeschichtlich ist die kollektive Versicherung gegen Unbill des Lebens mit dem Leitspruch von Friedrich Wilhelm Raiffeisen auf den Punkt gebracht: »Einer für alle, alle für einen«. Arbeitnehmer (und deren Arbeitgeber) stehen zusammen, geben einen definierten Teil ihres Einkommens in einen allgemeinen Pool, aus dem notwendige medizinische und andere Leistungen im »Bedarfsfall« bezahlt werden. Und all dies nicht nach herrschaftlichem Gutdünken und freiwillig, sondern mit klaren gesetzlichen Regeln und Ansprüchen

Betrachtet man dieses System einer kollektiven Versicherung, drängt sich unweigerlich eine Frage auf: Warum umfasst die Solidargemeinschaft der gesetzlich Krankenversicherten lediglich 90 %? Was ist mit dem Rest? Auch hier spielt viel Historie eine Rolle, aber in Wahrheit sind wir jetzt beim politischen Kern angekommen: Weil es Interessen gibt, und zwar sehr starke, die es Millionen von Menschen schlicht verwehren, wenigstens eine faktische Wahl zu haben! Rund vier Millionen Beamte und Pensionäre sowie viele der rund 1,5 Millionen Selbstständigen sind deshalb gezwungen, sich eine private Krankenversicherung (PKV) zu suchen

Für Beamtinnen und Beamte entsteht ein »PKV-Gefangenendilemma«: Der Dienstherr gewährt über die Beihilfe eine direkte Kostenbeteiligung an den Kosten einer Krankenbehandlung. Darüber hinausgehende Kosten müssen über eine private Krankenversicherung versichert werden. Dieser Teilkostentarif darf – dank intensiver schwarz-gelber Lobbyarbeit in den 80er Jahren – nur von der PKV und nicht von der GKV angeboten werden. Entscheiden sich Beamtinnen und Beamte für eine gesetzliche Krankenversicherung, steht ihnen in der Regel keine Beihilfe zu. Zudem müssen sie den Arbeitgeberanteil des Krankenkassenbeitrages selber tragen

De facto gilt damit für Beamtinnen und Beamte eine Versicherungspflicht in der PKV, da die GKV für sie finanziell unattraktiv ist. Damit werden sie einem System ausgesetzt, dessen Behandlungen oftmals über das medizinisch Notwendige hinausgehen. Denn während in der GKV Patientinnen und Patienten der Grundsatz der evidenzbasierten Medizin schützt, werden bei privat Versicherten auch Behandlungen durchgeführt, deren medizinischer Nutzen fragwürdig ist – ihre Durchführung im Zweifel jedoch lukrativ. In jedem Fall wird ihnen schlicht das Recht zur Wahl zwischen PKV und GKV verwehrt – ohne, dass sich dies sachlich begründen ließe

Für Selbstständige entsteht das »PKV-Gefangenendilemma« durch die gesetzlich vorgegebene Beitragslogik der GKV. Bei Selbstständigen folgt die Beitragshöhe in der gesetzlichen Krankenversicherung nicht prozentual dem Einkommen wie bei abhängig Beschäftigten oder Rentnern. Hauptberuflich Selbstständigen wird derzeit in der GKV grundsätzlich ein Einkommen in Höhe von mindestens 4.350 Euro monatlich (bzw. beim Nachweis niedriger Einnahmen: 2.231,25 Euro monatlich) unterstellt. In der Folge müssen Hunderttausende von Selbstständigen weit überproportional hohe Beiträge bezahlen. Es überrascht nicht, dass viele dieser Personen ihre Beiträge nicht (vollständig und regelmäßig) aufbringen (können) und in der Folge durch die extrem hohe Verzugszinslast in die Schuldenfalle geraten. Auch hierdurch werden viele Menschen in die private Assekuranz gedrängt und zwar in zum Teil abenteuerliche Selbstbehalttarife, um die Beitragslast gering zu halten. Auch hier hat die Krankenversicherungslobby bis heute ganze Arbeit geleistet

Wer steht bei wem in der Schuld?

Und noch ein alles andere als theoretischer Punkt ist hier anzusprechen: Wer hat mit wem einen Vertrag? Wer steht bei wem in der Schuld? Vielfach politisch unbeachtet, im Einzelfall aber hochdramatisch ist eine weitere Konsequenz unseres geteilten PKV/GKV-Systems mit (Teil-)Kostenerstattung einerseits und Sachleistung andererseits. Gesetzlich Versicherte zahlen ihren Kassenbeitrag und erhalten dadurch einen – durch die Krankenkassen zu garantierenden – Zugang zu allen Leistungen des geregelten Versorgungssystems als Sachleistungen. Sie gehen keine privaten Behandlungsverträge mit Leistungsanbietern ein. Völlig anders privat Versicherte. Diese müssen nicht nur gegenüber Leistungsanbietern regelmäßig in Vorkasse gehen, sie sind und bleiben auch Schuldner der Anbieter. Es besteht kein Vertragsverhältnis zwischen Ärztin oder Arzt und privater Versicherung. Ob und in welcher Höhe die Versicherung das vorgestreckte Geld (teil-)erstattet, erfährt der Patient bzw. die Patientin im Nachhinein. Im Zweifel bleibt er bzw. sie auf den Kosten schlicht sitzen! Dramatisch bis zuweilen lebensgefährlich wird dieser Zusammenhang für Personen ohne oder mit wenig Geld. Diese gehen deswegen vielfach nicht zum Arzt, selbst dann nicht, wenn sie schwer krank sind. Jede Arztpraxis, die Bedürftige kostenfrei versorgt, kennt zahllose derartige Fälle

Letztlich werden Millionen von Menschen vielfach gegen ihren Willen in ein privates Versicherungssystem gedrängt oder diesem zugewiesen. Es verwundert, dass dieser soziale wie gesellschaftspolitische Skandal so lange Bestand hat. Aufzulösen wäre er durch eine Bürgerversicherung!

Neben der gerechten Gestaltung des Zugangs ist mit der Bürgerversicherung auch die Frage der gerechten Mittelverteilung zwischen Arbeitgeber/innen und Arbeitnehmer/innen verknüpft. Die paritätische Finanzierung der Krankenversicherungsbeiträge mit der jeweils hälftigen Aufbringung der Beiträge durch Arbeitnehmer/innen und Arbeitgeber/innen wurde im Jahr 1951 eingeführt und hatte lange Bestand. Durch das Finanzstruktur- und Qualitäts-Weiterentwicklungsgesetz (GKV-FQWG) aus dem Jahr 2015 wurde der arbeitgeberseitige Beitragssatz gesetzlich dauerhaft auf 7,3 % festgeschrieben. Damit wird die ehemals paritätische Finanzierung systematisch unausweichlich immer weiter zu Ungunsten der Beschäftigten und Rentner/innen verschoben

Schon für die kommenden Jahre rechnen alle Expert/innen mit steigenden Ausgaben und folgend höheren Beiträgen. Die Mehrbelastungen müssen gemäß aktueller Rechtslage ausschließlich von den Mitgliedern bzw. Versicherten getragen werden. Vor diesem Hintergrund ist eine Rückkehr zur paritätischen Finanzierung dringend geboten, um die Lasten zwischen Arbeitgeber/innen sowie Arbeitnehmer/innen dauerhaft wieder gerecht zu verteilen. Und auch die gesetzliche Rentenversicherung muss wieder den hälftigen Beitrag zur Krankenversicherung der Rentner/innen tragen

Auch wenn im Kontext der Diskussionen rund um ein gerechteres Gesundheits-(versicherungs-)system immer wieder auch Fragen der Beitragsbemessung sowie der Verbeitragung von verschiedenen Einkommensarten angesprochen werden – diese sind nicht Kern einer Bürgerversicherung im Sinne einer Versicherung, zu der alle Bürgerinnen und Bürger Zugang haben. Fragen der solidarischen Umverteilung der Beitragslasten und deren Grenzen innerhalb des Versicherungssystems sind unabhängig vom Zugang zu debattieren

Die Agenda der progressiven Parteien bei der Weiterentwicklung unseres Krankenversicherungssystems ist also klar: gleicher Zugang für alle. Verglichen damit zeigen sich die konservativen Parteien nahezu vollständig ideenlos. Nachdem ihr Konzept der sogenannten »Kopfpauschale« – also die Einführung eines einkommensunabhängigen Krankenkassenbeitrages – krachend und zu Recht gescheitert ist, beschränken sie sich darauf, im Sinne der »Lobby-Freunde« den Status quo zu verteidigen. Dabei fußt ihre Argumentation in der Regel – neben dem von der Realität schnell widerlegten Standpunkt, dass System habe sich doch bewährt – darauf, dass die Forderung nach einer Bürgerversicherung doch im Kern eine Neiddebatte sei. Neid darauf, dass privat Versicherte schneller einen Termin beim Facharzt erhalten und womöglich auch eine bessere medizinische Behandlung bekämen

Bezieht man aber die oben beschriebene Ungleichbehandlung von Beamt/innen sowie Selbstständigen ein, ergibt sich ein anderes Bild. Faktisch werden Millionen Versicherte vom Zugang zur gesetzlichen Krankenversicherung ausgeschlossen, ohne dass sich hierfür ein sachlicher Grund erschließt. Das Gegenteil ist also der Fall: Die Bürgerversicherung ist keine Frage von Neid oder Umverteilung. Sie ist eine Frage der Gerechtigkeit

Die Einführung einer Bürgerversicherung wird nicht, wie es oft beschworen wird, an juristischen Hürden scheitern. Ja, sie wird uns vor Herausforderungen stellen, die auch verfassungsrechtliche Fragen aufwerfen, und ja, daher wird sie auch einen langen Atem verlangen und ihre finale Umsetzung im Zweifelsfall mehrere Jahrzehnte in Anspruch nehmen. Aber: Vor allem wird sie Mut von den progressiven Parteien verlangen. Mut, sich mit starken Interessen anzulegen, deren unternehmerische Existenz davon abhängt, dass sich ein Teil der Bevölkerung privat versichern muss. Mut, sich den ökonomischen und juristischen Hürden zu stellen und diese zu lösen; womöglich auch höchstrichterlich

Diesen Mut gilt es aufzubringen. Denn trotz – oder wegen – aller Hürden auf dem Weg dorthin, ist die Bürgerversicherung die Antwort auf die Frage nach mehr Gerechtigkeit und damit das nächste große sozialdemokratische Projekt

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