Menü

Zur Frage der Minderheitsregierung im Bund Keine gute Option – leider!

Nachdem seit 1949 zunächst ein bemerkenswerter, von starken Volksparteien geprägter Konzentrationsprozess zu verzeichnen war, hat sich das bundesdeutsche Parteiensystem seit den 80er Jahren stetig fragmentiert. Auf DIE GRÜNEN folgte mit der PDS (später DIE LINKE) ein weiterer dauerhafter Akteur. Nun ist der Einzug einer zweiten Flügelpartei, der AfD, in den Bundestag wahrscheinlich. Zudem stehen die Chancen gut, dass die parlamentarische Abwesenheit der FDP nur ein temporäres Ereignis war. Ein Sechsfraktionen- und Siebenparteienparlament gilt als wahrscheinlichste Konstellation nach der Bundestagswahl. Die Redewendung von den »Weimarer Verhältnissen« wird bereits bemüht.

Davon ist man in politisch-kultureller Hinsicht zwar weit entfernt, aber mit der Fragmentierung geht zweifelsohne eine verstärkte Polarisierung an den Rändern des Parteiensystems einher. Die Regierungsbeteiligung der fundamentaloppositionellen AfD kommt nicht infrage. Auch ein Koalitionseintritt der Linkspartei erscheint im Bund weiterhin unwahrscheinlich, vor allem aufgrund außenpolitischer Differenzen. Die prorussische Faktion der Linkspartei, für die Politikbereiche der Bundesländer irrelevant, dürfte auf Bundesebene schwer integrierbar sein. Hinzu kommt, dass die Regierungsbeteiligung für eine reanimierte FDP große Risiken birgt. Ein Vorsitzender, der sich rhetorisch gerne auf altliberale Prinzipien beruft und aus rationalen Erwägungen die nachhaltige Konsolidierung der Partei im Sinn haben sollte, dürfte in der parlamentszentriert-oppositionellen Fraktionsarbeit Vorteile ausmachen. Ob die FDP nach dem Debakel der Regierungsjahre 2009 bis 2013 noch eine zweite Siegkrise verkraften würde, ist zweifelhaft.

Es läuft also Vieles auf die Fortsetzung der großen Koalition hinaus. Schon die Wahl Frank-Walter Steinmeiers zum Bundespräsidenten weist diesen Weg. Die Probleme der Konstellation – für die Volksparteien, für das Gegenüber von Regierung und Opposition, für die politische Öffentlichkeit und für die politische Integration insgesamt – sind bekannt. Nicht zuletzt aufgrund der anhaltenden Kritik an der Dominanz des politischen »Mainstreams« ist die Aussicht auf die dritte große Koalition seit 2005 wenig attraktiv. Folglich taucht häufiger der Vorschlag auf, über eine Minderheitsregierung im Bund nachzudenken. Was angesichts der deutschen Tradition erst einmal abwegig anmutet, entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als normativ gehaltvolle Perspektive. Doch das ist abstrakte Theorie. Eine Analyse unter Berücksichtigung der Kontextfaktoren zeigt nämlich, dass eine Minderheitsregierung vorhandene Integrationsprobleme in Deutschland eher verschärfen würde. Dabei wäre es unerheblich, ob SPD oder Union den Kanzler bzw. die Kanzlerin einer irgendwie tolerierten Regierung stellen.

Potenziale des Modells »Minderheitsregierung«

Gegenüber Regierungen, die über keine koalitionär abgestützte Parlamentsmehrheit verfügen, sondern durch Duldung bzw. Enthaltung eines Oppositionsteils und eine dadurch erzielte relative Mehrheit bei der Wahl des Regierungschefs ins Amt kommen, gibt es das bekannte Vorurteil, dass es ihnen an Stabilität und Führungsfähigkeit fehle. Deshalb wird das Modell in der Bundesrepublik Deutschland, wo es im Bund noch nicht angewendet wurde, gerne in die Nähe anarchischer und dysfunktionaler Zustände gerückt. Eine empirische Bestandsaufnahme bestätigt diese zwangsläufige Verbindung von Minderheitsregierung und Unregierbarkeit aber nicht. So kommen Minderheitsregierungen, wie es etwa Gero Maass in dieser Zeitschrift dargestellt hat (NG|FH 1+2|2014), insbesondere in skandinavischen Ländern sehr häufig vor. Sie gelten mitunter gar als institutioneller Garant für einen integrativen Korporatismus und eine ausgeprägte Wohlfahrtsstaatlichkeit.

Auch in den Bundesländern führten Minderheitsregierungen nicht zwangsläufig zu Regierungskrisen. Sie bilden dort mittlerweile eine legitime Option. Bekannt ist das sogenannte Magdeburger Modell, also die Tolerierung eines sozialdemokratischen Regierungschefs durch die PDS/Linkspartei. Es wurde zwischen 1994 und 2002 in Sachsen-Anhalt (Regierung Reinhard Höppner) sowie in den Jahren 2001 und 2002 in Berlin (unter Klaus Wowereit) angewendet. Zwischen 2010 und 2012 führte Hannelore Kraft in Nordrhein-Westfalen eine rot-grüne Minderheitsregierung, die Vorhaben ohne feste Tolerierungsvereinbarung mit wechselnden Mehrheiten umsetzte.

Aus wahltaktischen und machtstrategischen Gründen macht die Option der Minderheitsregierung in Deutschland vor allem für die SPD Sinn. Martin Pfafferott hat das in dieser Zeitschrift ausgeführt (NG|FH 1+2|2016). Der Führungsanspruch der Partei würde unterlaufen, wenn man das Magdeburger Modell im Bund voreilig ausschlösse, so Pfafferott. Zudem seien die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen dafür gar nicht so schlecht. Mithin, so lässt sich im Anschluss daran argumentieren, kann eine rot-grüne Minderheitsregierung auch als Vorstufe für die Realisierung einer übergreifenden linken Koalition in Deutschland begriffen werden.

Neben diesen eher machtpolitischen Überlegungen, denen letztlich der berechtigte Wunsch nach Rückkehr zu einer bipolaren Politikkonstellation innewohnt, besitzt das Modell der Minderheitsregierung auch einen normativen Reiz. Das gilt insbesondere in Zeiten grassierender demokratischer Krisendiagnosen. Die Entparlamentarisierung wird im Rahmen von Postdemokratiediskursen stets als ein zentrales Krisenindiz genannt. Die 70er Jahre waren noch vorwiegend von Thesen der Unregierbarkeit aufgrund einer vermeintlich zu umfangreichen Interessenrücksichtnahme geprägt. Heute verweisen Kritiker hingegen häufig auf die Exekutivdominanz und die Marginalisierung der Parlamente. Das »System Merkel« sei durch einen »einheitsparteilichen Konformitätsdruck« geprägt, stellte Wolfgang Streeck in einem bemerkenswerten FAZ-Beitrag im Mai 2016 fest. Gesellschaftliche »Umbaupläne« seien nicht einmal eine Parlamentsdebatte wert, die Kritik würde wahlweise den Rechten überlassen oder aber pauschal als rechtspopulistisch abgetan, meint einer der führenden deutschen Linksintellektuellen.

Gerne schmücken sich Rechtspopulisten mit dem guten Ruf der klassischen Prinzipien von parlamentarischer Diskussion und Öffentlichkeit, selbst wenn ihr antipluralistisches Volksgefasel dem fundamental entgegensteht. Bernd Lucke konstatierte am Wahlabend 2013, bewusst den rhetorischen Schwenk zu Carl Schmitt vornehmend, »Entartungen von Demokratie und Parlamentarismus«, denen die AfD entgegentrete. Man habe die Demokratie »ertüchtigt«, so Lucke. Die mittlerweile deliberalisierte AfD beruft sich weiterhin instrumentell auf liberale Grundsätze von Reparlamentarisierung und Meinungspluralismus.

Hier kommt nun die Minderheitsregierung ins Spiel. Wäre es nicht der Königsweg zur Wiederbelebung des Parlamentarismus und zur Pluralisierung politischer Öffentlichkeit, wenn man diesen Weg ginge, anstatt der rechtspopulistischen AfD ungestört das Mantra von der »Einheitsfront der Systemparteien« zu überlassen? In der Tat böte eine Minderheitsregierung die Möglichkeit, durch wechselnde Mehrheiten eine intensivere parlamentarische Diskussion zu erzielen. Die Wahrnehmung der Parlamentsfraktionen und der einzelnen Abgeordneten, ihre Stellung im politischen System sowie die Bedeutung der Ausschussarbeit können durch Minderheitsregierungen tatsächlich gestärkt werden. Aus Sicht der potenziellen Kanzlerpartei SPD wäre es möglich, eine wertgeleitete, europäisch abgestimmte, bündnistreue und auf Ausgleich bedachte Außenpolitik zu betreiben. Gleichzeitig ergäbe sich die Option, gesellschaftliche Mehrheitsverhältnisse in sozialpolitischen Fragen stärker als bisher auch in politische Entscheidungen umzumünzen. Der demokratietheoretische Reiz des Modells Minderheitsregierung besteht ja gerade darin, bereichsspezifisch und auf der Grundlage parlamentarischer Debatten Mehrheiten zu erzielen. Weg vom geheimen Koalitionsausschuss hin zum öffentlichen Ausschuss- und Plenarwesen im Parlament, hieße die Devise. Vielleicht, so die normative Hoffnung dahinter, könnten Fundamentalkritiker wieder eingefangen werden, wenn man ihnen auf offener Bühne zeigt, dass Politik durch präsidentiell-symbolische Verdichtung im Fernsehstudio (»Wir schaffen das«) nicht wirklich abgebildet wird.

»Doch nur Systemparteien«

Sollte man also im Fall der Fälle den Sprung wagen? In der Filmkomödie Der Schuh des Manitu gibt es eine Szene, die das erschütternde Ende eines eigentlich gut angesetzten und zwischenzeitlich schön anzusehenden Fluges ins Ungewisse zeigt. Als tanzender Rocker begeistert »Der Graue Star« seine Fans im Indianercamp. Im ekstatischen Übermut wagt er schließlich das erste Stagediving der Geschichte – doch das Publikum tritt zur Seite, und der Innovator endet flach auf dem Boden. Man war noch nicht so weit, heißt es aus dem Off. Ähnlich verhält es sich mit dem Modell der Minderheitsregierung auf Bundesebene. Das Risiko ist zu groß. Dies weniger aufgrund der drohenden Instabilität und Führungslosigkeit, denn die Akteure im Zentrum des Parteiensystems zeichnen sich durch Kompromissbereitschaft und umfassende Koalitionsfähigkeit aus. Das zentrale Risiko besteht in der krisenhaften politisch-kulturellen Situation, deren Ursachen durch eine Minderheitsregierung eher weiter befördert würden.

Die AfD profitiert davon, dass zentrale Entscheidungen der jüngeren Vergangenheit im Konsens der etablierten Parteien getroffen wurden. Die Mehrheiten gingen über die Fraktionen der derzeitigen großen Koalition hinaus. Das zeigen die Beispiele »Hartz-Gesetze«, Euro-Rettungspolitik oder Bewältigung der großen Fluchtzuwanderung. Ein geordnetes Gegenüber von Regierung und Opposition war in vielen Fragen aus Bürgersicht nicht mehr auszumachen. Wo nun die Chance für die Etablierung öffentlicher innerparteilicher und innerfraktioneller Diskussionsprozesse bestanden hätte, wurden Eingaben nicht selten als unverantwortliches Spaltertum oder, im Falle Horst Seehofers, als »Wasser auf die Mühlen des Rechtspopulismus« abgetan. Roland Pofallas verbaler Ausfall gegen den Parteidissidenten Wolfgang Bosbach (»Ich kann deine Fresse nicht mehr sehen.«) oder der zweifelhafte Umgang der FDP mit dem Mitgliedervotum zum Eurorettungsschirm stehen sinnbildlich dafür, dass die Pluralität auch von Seiten der etablierten Akteure nicht den Stellenwert besitzt, der nicht zuletzt für parlamentarische Verfahren in der Konstellation Minderheitsregierung vonnöten wäre, sofern das Modell einen integrativen und nicht nur machterhaltenden Effekt haben soll. Die politische Klasse wird von ihren Kritikern zunehmend als einheitliche moralische Klasse der verordneten Meinung wahrgenommen. Dazu hat sie selber beigetragen, indem die argumentative Auseinandersetzung mit dem neuen Rechtspopulismus in den Hintergrund gestellt wurde. Die früh vollzogene moralische Ausgrenzung hat auch bei solchen Menschen, deren Affinität zum Völkischen begrenzt schien, zu radikalen Übersprungshandlungen an der Wahlurne geführt.

Um integrative und inklusive Effekte zu haben, bedarf eine Minderheitsregierung starker, öffentlich präsenter Parlamentsausschüsse, starker Abgeordneter, einer starken Parlamentsöffentlichkeit und einer großen Toleranz der Parteiführungen gegenüber Abweichlern. Schon die aus programmatischen Gründen naheliegende Exklusion der AfD aus den Reihen derjenigen, mit denen man im Bundestag offen verhandelt und diskutiert, würde die vorhandenen negativen Sichtweisen in Teilen der Bevölkerung bestärken. Statt einer Diskussionskultur mit wechselnden Mehrheiten steht zu befürchten, dass sich die große Koalition in der breiten Wahrnehmung zu einer ganz großen Koalition (aus den vermeintlichen »Systemparteien« SPD, Union, FDP und Grüne) wandeln könnte. Warum sollten verbreitete Vorwürfe der Kartellisierung des Parteiensystems abnehmen, wenn die Regierung nunmehr von allen etablierten Kräften »irgendwie doch gestützt« wird und als medial-symbolische Integrationsfigur ein darüber präsidial wachender Kanzler oder eine Kanzlerin steht.

Das medial vermittelte Bild des Parlaments ist defizitär. Bevor das Experiment der Minderheitsregierung auf Bundesebene gewagt werden kann, müssen parlamentarische Debatte, parlamentarische Öffentlichkeit und plurale Diskussionskultur stärker akzentuiert werden. Sonst ist man sprichwörtlich noch nicht so weit, und alle anderen Optionen wären aus Sicht der Bevölkerung ehrlicher und transparenter. Wer die Minderheitsregierung im Bund ins Auge fasst, ist folglich gehalten, sich zunächst mit scheinbar Nebensächlichem zu beschäftigen: zum Beispiel mit der verstärkten Öffentlichmachung von Ausschusssitzungen.

Kommentare (0)

Keine Kommentare gefunden!

Neuen Kommentar schreiben

Nach oben