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Ungleichheit nimmt auch zwischen deutschen Grundschulen zu (K)eine Schule für alle

Die Diskussion über soziale Ungleichheit im deutschen Bildungssystem wurde jahrzehntelang fast ausschließlich mit Blick auf die Sekundarstufe, insbesondere die Gymnasien geführt. Bei dieser Schulform sind die Zugangschancen stark an die soziale Herkunft gebunden, sie entscheidet über den Aufstieg im Bildungssystem. Zusätzlich zu dieser vertikalen Ungleichheit gibt es allerdings mittlerweile vermehrt Anzeichen von wachsenden horizontalen Ungleichheiten an den Grundschulen.

Fast 100 Jahre ist es her, dass die gemeinsame vierjährige Grundschule für alle Kinder in Deutschland zur Pflicht wurde. Mit der Weimarer Reichsverfassung von 1919 und dem Grundschulgesetz von 1920 wurde das System aus zumeist kostenpflichtigen privaten Vorschulen und anschließenden Gymnasien nachhaltig geändert. Ein Grund für diese Entwicklung war unter anderem der von dem Ökonomen Thomas Piketty beschriebene Rückgang wirtschaftlicher Ungleichheit seit der Vorkriegszeit und die damit verbundene Schwäche der alten Elite. Zwar gab es nach dem Zweiten Weltkrieg heftige Diskussionen über die Grundschule, welche sich in unterschiedlichen Grundschulzeiten in den Bundesländern niederschlugen – in Hamburg, Bremen und Schleswig-Holstein waren es sechs, in Berlin sogar acht Jahre. Doch zwei Aspekte der Reformen von 1919 und 1920 wurden nicht mehr infrage gestellt: dass die Grundschule in Deutschland mindestens vier Jahre dauert und eine Schule für alle Kinder ist. Sie wurde deshalb bis in die 60er Jahre auch »Volksschule« genannt und war so jahrzehntelang das Symbol für eine Schulform, die alle Schichten der Gesellschaft integriert.

Dagegen ist besonders das Gymnasium von jeher jene Schulform, zu der bestimmte Personengruppen deutlich seltener Zugang erhalten: Ob das »katholische Arbeitermädchen vom Lande« in den 60er Jahren oder der »Migrantenjunge aus der Großstadt« heutzutage. Nirgendwo werden soziale Ungleichheiten offensichtlicher als beim Übergang auf weiterführende Schulen wie das Gymnasium. Unter Verweis auf zweite oder dritte Bildungswege werden diese »vertikalen« Ungleichheiten, die sich durch das streng gegliederte Schulsystem herausbilden, in der öffentlichen Diskussion relativiert. Das gymnasiale Entwicklungsmilieu bietet seinen Schülerinnen und Schülern jedoch weitere Vorteile als nur die Hochschulzugangsberechtigung. So zeigen Studien, dass der Arbeitsmarkt es auch heute noch honoriert, wenn die zweite Fremdsprache einer Bewerberin oder eines Bewerbers Latein war – eine Möglichkeit, die es nur auf dem Gymnasium gibt. Gymnasien haben außerdem im Vergleich zu Gesamtschulen oder beruflichen Gymnasien häufiger internationale Partnerschulen oder langjährig gewachsene Netzwerke, die z. B. Auslandsaufenthalte deutlich erleichtern.

Allerdings gibt es mittlerweile – aufgrund der Fokussierung auf die Rolle des Gymnasiums in der öffentlichen Diskussion weitgehend unbemerkt – auch Hinweise auf horizontale Ungleichheiten innerhalb des Grundschulsystems. Diese Symptome einer waagerechten Segregation sind zwar nicht flächendeckend zu beobachten, treten aber bei genauerer Analyse deutlich hervor und lassen sich anhand von drei Beispielen verdeutlichen. Interessanterweise treten die Symptome verstärkter horizontaler Segregation in Verbindung mit zunehmender Einkommens- und Vermögensungleichheit in der deutschen Gesellschaft auf.

Das erste Beispiel finden wir in Nordrhein-Westfalen. Seit Gründung der Bundesrepublik gibt es im dortigen Grundschulbereich (in kleinerem Ausmaß auch in Niedersachsen) ein Parallelsystem von öffentlichen Gemeinschaftsschulen und öffentlichen Bekenntnisschulen. Im Schuljahr 2017/18 gab es 88 evangelische, 814 katholische, zwei jüdische und eine mennonitische Weltanschauungsschule. Ihnen stehen 1.881 Grundschulen »ohne Bekenntnisbezug« gegenüber. Laut Daten des Statistischen Landesamtes liegt der Anteil von Bekenntnisgrundschulen in Münster bei knapp 70 %, in Düsseldorf bei rund 45 % und in Köln bei 35 %. Über viele Jahre war diese ungewöhnliche Doppelstruktur wohl unproblematisch für die soziale Differenzierung und führte darüber hinaus auch dazu, dass es in NRW im Bundesvergleich besonders wenige private Grundschulen gab. Allerdings nutzen immer mehr Eltern – trotz einer zunehmenden Säkularisierung der Gesellschaft – Bekenntnisschulen, um ihre Kinder von Schülerinnen und Schülern mit anderen ethnischen oder weltanschaulichen Wurzeln abzugrenzen, auch weil es keine festen Einzugsgebiete für diese Schulform gibt (seit dem Schuljahr 2008/09 bestehen insgesamt keine Grundschuleinzugsgebiete mehr in NRW). Dies ist besonders problematisch, da in NRW die soziale Spaltung der Gesellschaft entlang ethnischer und religiöser Grenzen verläuft.

Die Privatisierung von Grundschulen ist das zweite Anzeichen, das auf eine zunehmende horizontale Ungleichheit im deutschen Schulsystem deutet. Zwar ist der Anteil privater Grundschulen aufgrund der oben genannten historischen Entwicklung traditionell niedrig. Doch ihre Anzahl steigt schnell, von 1992 bis 2016 um 345 %. Zum Vergleich: Der Anteil privater Schulen im allgemeinbildenden Bereich legte insgesamt um »nur« 138 % zu. Der starke Privatisierungsanstieg ist einerseits auf Nachholungseffekte in den ostdeutschen Regionen zurückzuführen; andererseits kam es aber auch zu einem hohen Zuwachs privater Grundschulen im städtischen Raum. In den größeren Städten Mecklenburg-Vorpommerns (Schwerin, Rostock, Greifswald und Neubrandenburg) sowie in Potsdam liegt der Anteil privater Schulen mit Grundschulteil an allen Grundschulen bei 25 bis 40 %. Einige westdeutsche Städte, vor allem Universitätsstädte, weisen einen Privatgrundschulanteil von rund 25 % auf (etwa Freiburg im Breisgau, Heidelberg, Darmstadt oder Regensburg). Es hat sich somit ein Parallelsystem von öffentlichen und privaten Grundschulen herausgebildet. Bedenklich sind dabei vor allem die Entwicklungen in Mecklenburg-Vorpommern, denn private Grundschulen sind hier in den größeren Städten häufig an Schulen mit einer gymnasialen Oberstufe angeschlossen. Die eigentlich durch die Weimarer Reichsverfassung und im deutschen Grundgesetz vorgesehene Abschaffung der Vorschulen scheint also in neuer Gestalt im Grundschulbereich wiedergekehrt zu sein. Dies gefährdet das Ideal einer gemeinsamen Grundschule für alle Kinder und widerspricht Art. 7 Abs. 5 des Grundgesetzes, der im Kern die Gründung privater Grundschulen begrenzt.

Denn Studien des WZB belegen, dass private und öffentliche Grundschulen besonders in Großstädten sozial gespalten sind. Weitere Studien zeigen, dass die soziale Zusammensetzung der Schulgemeinschaft an privaten Grundschulen heute vergleichbar mit jener der öffentlichen Gymnasien ist. Die Tatsache, dass Privatschulen einzugsgebietsfrei sind, sich Eltern also die Schule wohnortunabhängig aussuchen können und nicht für die Wunschschule umziehen müssen, ist ein Grund für diesen Trend.

Das wichtigste und folgenschwerste Merkmal horizontaler Ungleichheit im Grundschulbereich ergibt sich allerdings aus der wohnräumlichen Segregation. Diese hat in den letzten Jahrzehnten in einigen deutschen Städten stark zugenommen und ist besonders deutlich bei Familien mit Kindern ausgeprägt. In 36 der 74 größten deutschen Städte gibt es mittlerweile Viertel, in denen mehr als die Hälfte aller Kinder in Familien aufwachsen, die Hartz-IV-Leistungen beziehen. Auf der anderen Seite stehen Wohngebiete, in denen es kaum noch Armut gibt. Besonders deutlich wird dies in Berlin, wo die soziale Spaltung an den Grundschulen mittlerweile das gleiche Ausmaß angenommen hat wie an den Sekundarschulen, mit ganz erheblichen Konsequenzen für den Schulbetrieb. Denn gerade Schulen in sogenannten sozialen Brennpunkten haben es besonders schwer, Lehrkräfte zu finden. Die Belastung ist hoch: Schülerinnen und Schüler stammen überwiegend aus benachteiligten Familien, Sprachprobleme und lernabträgliche Verhaltensweisen, die den Unterricht zusätzlich stören, kommen hinzu.

Die zunehmende soziale Spaltung der deutschen Gesellschaft insgesamt schlägt sich also über den Wohnungsmarkt und den Rückzug des Staates aus der Wohnraumversorgung mittlerweile direkt in den Grundschulen nieder. Je homogener Grundschulen in ihrer Sozialstruktur werden (ob nun durch Wohnsegregation, Privatisierung oder Bekenntnisschulen), desto wichtiger wird die soziale und ethnische Zusammensetzung für die Schulwahl von Eltern. Ab einem gewissen Niveau könnte ein »Point of no return« erreicht sein, und ein Gegensteuern unmöglich werden. Die empirische Bildungsforschung und die Politik sollten deshalb die beschriebenen Trends stärker in den Blick nehmen.

(Dieser Beitrag erschien zuerst in den »WZB-Mitteilungen«.)

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