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© Tanja-Denise Schantz/Pixabay

Keine Zukunft ohne Geschichte und einen fundierten Blick auf die Gegenwart

Von den 156 Jahren, die die SPD mittlerweile existiert, war sie nur ein knappes Drittel lang in nationaler Regierungsverantwortung. Im Vergleich zu den zweimal vier Jahren in der Weimarer Republik und den Jahren der Brandt-/Schmidt-Kanzlerschaften ist die derzeitige dritte Phase (abgesehen vom Intermezzo 2009–2013) mit gut 20 Jahren die längste. Ihre größten Zuwächse an Stimmen und Mitgliedern erzielte die Partei häufig jedoch in Zeiten, in denen sie in der Opposition war; vor dem Ersten Weltkrieg etwa gewann sie über ein Drittel der Stimmen und hatte über eine Million Mitglieder. Die SPD ist somit nicht nur ihren Ursprüngen nach eine Oppositionspartei. Es scheint heute fast vergessen, wie sehr diese Erfahrung ihr historisch gewachsenes Selbstverständnis, an das jeder aussichtsreiche Versuch einer »Erneuerung« anknüpfen muss, geprägt hat.

Die SPD war zugleich stets auch Programmpartei, und programmatisch hat sie sich keineswegs erledigt, nur erschöpft. Die These Ralf Dahrendorfs (und vieler anderer), der zufolge sich die SPD im Erfolg quasi selbst erledigt habe, stimmt nicht einmal teilweise. Denn die beiden Ur-Themen der sozialdemokratischen Ideengeschichte sind von bleibender Aktualität: Zum einen die Frage der Teilhabe im breitesten Sinne und damit der Demokratie, zum anderen die Frage der Bildung im Sinne einer Menschenbildung, in der Individual- und Gemeinwohlinteressen in einem ausgewogenen Verhältnis zueinander stehen. Beide Themen – Teilhabe und Bildung – waren und bleiben dabei stets eng an ganz bestimmte Gesellschafts- und Menschenbilder gebunden. Eine Sozialdemokratie, die das 21. Jahrhundert mitgestalten will – und die vielen tausend Parteimitglieder, die sich tagtäglich mit großer Ausdauer und Energie um den Erhalt dieser Idee bemühen, lassen daran keinen Zweifel –, sollte sich diesen Themen wieder stärker zuwenden, überhaupt wieder stärker in größeren Horizonten und grundsätzlicheren Ansprüchen denken.

Die SPD war über lange Zeit, hinsichtlich ihrer sozialen Basis und des sozialen Raums, in dem sie entstanden ist, eine Klassenpartei, eine Arbeiterbewegungspartei. Das aber war sie nie ausschließlich, sondern sie strebte immer auch danach, jene »89 Prozent« (Ferdinand Lassalle) zu erreichen, die ohne nennenswerten Besitz waren. Es ging in letzter Instanz (oder: perspektivisch) immer um die soziale und politische Teilhabe aller in einer Gesellschaft lebenden Personen, im breitesten demokratischen Sinne. Die »soziale Frage« war stets eine politische Frage – eine Binsenweisheit, mit der sich dennoch jede immer wieder neu und anders damit konfrontierte Generation selber auseinandersetzen muss. Gerade in Zeiten, in denen die liberale, repräsentative Demokratie gewaltig unter Druck steht, scheint es essenziell, an das politische Ur-Werk der SPD, nämlich die Durchsetzung der Demokratie in Deutschland, nicht nur ritualisiert zu erinnern, sondern daran aktiv und kreativ anzuknüpfen.

Aktuell steht die Sozialdemokratie jedoch vor allem für eine kleinteilige, wähler-, nein kundenorientierte Verwaltung der bestehenden Verhältnisse. Sie hat im Laufe der Zeit unbestritten viele wichtige Reformen angestoßen. Anspruch kann und sollte es aber nach wie vor sein, sich als Champion für die Demokratie nicht nur selbstverständlich nach rechts abzugrenzen, sondern für eine größtmögliche Teilhabe im umfassendsten sozialen, kulturellen und politischen Sinne in der Gesellschaft zu engagieren. Dass auf dieser Ebene derzeit nicht viel (oder kaum hörbar) diskutiert wird, ist sicher auch eine Folge der schattigeren Seite sozialdemokratischer Geschichte, die sehr lange sehr männlich und »einheimisch« dominiert war.

Ebenso nachdrücklich sei daran erinnert, dass die SPD immer eine Kämpferin für Bildung, Selbstbildung, soziale Mobilität und Aufstieg war. Und dabei ging es nie darum, dass jede und jeder sich zum Akademiker entwickeln oder es zu großem Wohlstand bringen muss. Zum ursprünglichen Menschenbild und damit Programmdenken der Sozialdemokratie gehörte es vielmehr, jedem Einzelnen die bestmögliche, weitgehend ungehinderte Entfaltung zu ermöglichen – Umstände zu schaffen, die, entsprechend den individuellen Begabungen und Neigungen, eine freie persönliche Entwicklung befördern.

Obwohl es im Bildungswesen seit den 60er Jahren viele Reformen und – man traut sich das Wort kaum mehr zu gebrauchen – »Fortschritte« gegeben hat, bleibt es ein großer Skandal, dass Deutschland regelmäßig ganz oben unter jenen Ländern rangiert, in denen die Bildungschancen von Kindern nach wie vor am stärksten davon abhängig sind, in welchem Milieu sie aufwachsen. Ein gebührenfreies Studium zu fordern, zugespitzt formuliert, reicht bei Weitem nicht aus. Man erreicht eine große Zahl von Menschen nicht mehr, wenn man die Themen Bildung, Chancengleichheit und damit das Versprechen einer freien und zugleich gemeinwohlgebundenen Selbstentfaltung nicht wieder stärker in den Vordergrund rückt. Bildung im Sinne von Aufklärung und Selbstaufklärung, das Ideal einer infolgedessen humaneren Gesellschaft – dies waren die weit ins 20. Jahrhundert hineinwirkenden, tatsächlich »geschichtsmächtigen« Kernanliegen der sozialdemokratischen Bewegungen des 19. Jahrhunderts. Davon ist viel verloren gegangen. »Fördern und Fordern«, die ideellen Leitplanken der sogenannten Hartz-IV-Reformen, verbreiteten einen ganz anderen Geist. Von dem Gedanken der Selbstaufklärung und Selbstentfaltung war in diesem Programm, das an sich freilich notwendig war, nicht mehr viel übrig.

Zurück zu Marx?

Schließlich sei auch an Karl Marx und den nach ihm benannten Ismus erinnert, der in der sozialdemokratischen Entstehungsgeschichte eine nicht zu überschätzende Rolle gespielt hat und mit dessen Bedeutung für sozialdemokratische Politik man sich heute unbefangener denn je befassen kann. Vertieft man sich etwas genauer in diese Zusammenhänge, so lassen sich daraus einige durchaus allgemeingültige Schlüsse hinsichtlich der Genese und Vergä­nglichkeit politischer Ideenbewegungen ziehen. Eine der großen Überraschungen meiner Forschungen zur ursprünglichen Anziehungskraft der marxschen Ideen und Texte auf Sozialisten und Sozialdemokratinnen in ganz Europa war die Einsicht, dass dafür nicht irgendein kommunistisches Utopieversprechen ausschlaggebend war, sondern die erfolgreiche Behauptung, mittels des »wissenschaftlichen Sozialismus« endlich die Geschichte und, wichtiger noch, die Gegenwart »wirklich« verstehen zu können. Was Marx (und der kongeniale Friedrich Engels) der frühen Sozialdemokratie schenkte, war demnach nicht so sehr ein Machbarkeitsversprechen, sondern ein »wissenschaftlich« verbrieftes, sprachgewaltiges und damit politisch mobilisierbares Durchschaubarkeitsversprechen.

Marx hat Begriffe geprägt und Theorien entworfen, die vielen damals das Gefühl gaben, die Zusammenhänge einer nicht nur immer raueren, sondern auch zunehmend komplexeren sozialen Wirklichkeit zu verstehen. Er hat den Kapitalismus als Matrix erkannt und damit zugleich für viele seiner Zeitgenossen sichtbar und verständlich gemacht. Er hat ihn für beherrsch- und überwindbar erklärt (während heute noch nicht einmal die Beherrschung des Kapitalismus als ein Anspruch erster Ordnung übrig geblieben zu sein scheint). Diese Fähigkeit, die zeitnahe gesellschaftliche Lage erklären zu können, oder zumindest die ziemlich effektive Behauptung einer solchen Fähigkeit, unabhängig davon, wie »richtig« oder »falsch« man im Einzelnen mit der Analyse (die Marx routiniert mit purer Spekulation und deftiger Polemik vermischte) liegt, braucht jede ernsthaft um nachhaltige, also nicht nur emotionale, sondern rationale Zustimmung bemühte Partei.

Das, was derzeit aus der SPD an Einlassungen zur Arbeitswelt, zur digitalen Wende, zur Wissensrevolution, zur Erosion des gesellschaftlichen Zusammenhalts usw. zu hören ist, hinterlässt jedoch selten einen fundierten, vom Willen zur Gegenwartsdurchdringung gezeichneten Eindruck. Vielmehr wird die Wählerschaft zunehmend als Kundschaft betrachtet, der man quasi auf Zuruf – Stichwort: »Bürgernähe« – portionierte Maßnahmenpakete »liefern« müsse, um diese zufriedenzustellen. Wenn diese Lieferungen sich dann aber nicht in steigenden Zustimmungswerten niederschlagen, durchzieht die diversen Erklärungsversuche eine merkwürdige Logik: Zumindest implizit beruht diese auf einer Anspruchshaltung der Partei auf Zustimmung und verrät zugleich einen ratlosen Unmut gegenüber den sich abwendenden Wählerinnen und Wählern. Die allgegenwärtige, von tiefer Unsicherheit getragene Frage, warum die SPD so wenig Würdigung für ihre »Errungenschaften« erfährt, offenbart letztlich ein enorm verkürztes Politikverständnis. Politik ist kein Bestellvorgang. Souverän wäre es, für einen eigenen Politikentwurf zu werben, Prinzipien dezidierter zu formulieren und präzisere Zukunftsvorstellungen einer Gesellschaft zu entwickeln, in der die Grundsätze einer sozialen Demokratie (wieder) stärker gelten.

Politische Sprache mit Deutungsanspruch

Dass dies derzeit so wenig gelingt, hat nicht zuletzt und nicht nur an der Oberfläche mit politischer Sprache und Kommunikationsfähigkeit zu tun. Man spürt deutlich, dass es (uns allen) an Begriffen fehlt, dass es schwerfällt, eine immer komplexere Welt auf »einen« Begriff zu bringen – also wirklich zu begreifen. Die Lösung liegt nun nicht darin, alte Begriffe wieder aufzuwärmen. Marx hat ja eine Reihe solcher Begriffe geliefert, zum Teil hat er sie erfunden, zum Teil, etwa den der Militärsprache entlehnten Begriff der »Reservearmee«, vereinnahmt und munter umgedeutet. »Klassenkampf«, »Mehrwert«, »Profit«, »Kapital« oder »Verelendung« sind eingängige Termini bzw. Metaphern, mit denen er (scheinbar) klare ökonomische, politische und gesellschaftliche »Wahrheiten« transportieren konnte. Sie transportierten alles auf einmal: Empörung, Erkenntniswillen und Emanzipation.

Die heutigen Begriffe müssen wir wohl noch finden. Gerade dafür ist der Austausch zwischen Wissenschaft, Zivilgesellschaft, Kultur und Politik essenziell, denn es gibt sie ja, moderne Begriffe mit soziologisch-philosophischer Deutungs- und politischer Sprengkraft: »Beschleunigung« und »Resonanz« (Hartmut Rosa), »Risikogesellschaft« (Ulrich Beck), die »Gesellschaft der Singularitäten« (Andreas Reckwitz), »Königreich der Angst« (Martha Nussbaum) oder auch das »Fremdsein« im eigenen Land (Arlie R. Hochschild), um nur einige zu nennen. Auch und gerade weil dies alles vorsichtigere, weniger »schlagende« Begriffe sind, sollte man sich intensiv mit ihnen auseinandersetzen und nach weiteren suchen. Es geht dabei um weit mehr als »PR«. Es geht darum, tatsächlich einen Begriff von dem, was in der Welt passiert, zu haben und die damit verbundenen Deutungsangebote – und, ja: »Erzählungen« über das Gestern, Heute und Morgen – auch in die Gesellschaft hinein zu kommunizieren.

Derzeit gibt es zwei dominante Krisenerzählungen: die fatalistische Krisenerzählung der AfD, die eine Mischung aus altem Rassismus und neuen Ressentiments als Programmatik verkauft, und die optimistische Krisenerzählung der Grünen, die mit beeindruckender Ausdauer, Disziplin und intellektueller Kraft gerade ein beinahe bilderbuchartiges Beispiel dafür liefern, was »programmatische Erneuerung« – und zwar mit Blick auf nichts weniger als die Rettung der Welt – heißen kann. Der Idee der sozialen Demokratie würde in dieser Gemengelage die Suche nach einer pragmatischen Krisenerzählung sowohl historisch als auch politisch gut anstehen. Man denke ein wenig intensiver an die großen Debatten, die die SPD über die »soziale Frage«, über »Lohngesetz«, »Ostpolitik« und »Nachrüstung« geführt hat. Sie hat viel Übung im weltanschaulichen Spagat und viel Erfahrung im lagerübergreifenden Brückenbauen. Nicht zuletzt aus diesem Grund kann »Erneuerung« nur im intergenerationellen und parteiübergreifenden, gesellschaftszugewandten Gespräch stattfinden. Vermeintliche Modernisierungsakte wie die Auflösung der Historischen Kommission oder die Auslagerung von Programmarbeit in »Debattencamps« zerstören das Fundament, auf der dieses Gespräch beruht.

(Im Juli 2018 protestierte die Autorin in einem offenen Brief gegen die Auflösung der Historischen Kommission beim SPD-Parteivorstand. Der Brief, der von über 1.000 Historikerinnen und Historikern unterzeichnet wurde, stand ebenfalls unter dem Titel »Keine Zukunft ohne Geschichte«.)

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