Welche Erinnerungskultur wollen wir?
»Es gibt kein Erinnern und keine Beziehung zur Geschichte, die nicht durch einen Wunsch, also durch etwas in die Zukunft Weisendes angeregt würde«. Diesen Satz des französischen Kunsthistorikers und Philosophen Georges Didi-Huberman führe ich mir immer wieder vor Augen, wenn neue erinnerungspolitische Vorhaben anstehen. Der Satz sagt etwas ganz Entscheidendes aus: Kultur- und Erinnerungspolitik ist nicht (oder nicht nur) Selbstzweck. Sie ist auch nicht nur auf die Vergangenheit, also auf das, an was erinnert wird, ausgerichtet. Gute Erinnerungspolitik ist immer auch an Zukunft geknüpft. Aus der Erinnerung an Vergangenes können wir Lehren für unsere Gegenwart und unsere Zukunft ziehen.
Ich möchte das an einem Beispiel festmachen, dem Denkmal für die ermordeten Juden Europas. Das Mahnmal erinnert an die schlimmste Zäsur unserer Geschichte. Der Völkermord an den Juden ist in seiner Grausamkeit unvergleichbar und darf sich niemals wiederholen. Auf diesem Selbstverständnis beruht unsere Bundesrepublik. Es wirkt bis heute in politische Entscheidungen und Haltungen mit hinein. Das haben wir zum Beispiel auch beim politischen Diskurs um die Aufnahme von Flüchtlingen gesehen.
Nun gibt es Menschen, die einen Schlussstrich unter diesen Teil der Geschichte fordern. Die sagen, dass 70 Jahre Erinnerungskultur genug sind und dass Deutschland sich durch die Betonung seiner Geschichte selber klein machen würde. Dem widerspreche ich. Wie lange muss erinnert werden, wie viele Gedenkstunden muss es geben, bis unsere historische Schuld gesühnt ist, bis die Opfer vergessen werden dürfen? Diese Frage dürfte erst gar nicht gestellt und kann daher auch nicht beantwortet werden. Deswegen darf es auch keinen Schlussstrich geben. Es gehört zum Selbstverständnis der Demokratie und es ist das Bedürfnis einer demokratischen Gesellschaft, die eigene Geschichte zu kennen und öffentlich zu reflektieren. Daran ändert sich nichts, egal ob das historische Ereignis fünf, 50 oder 100 Jahre zurückliegt.
Dazu brauchen wir eine Erinnerungskultur, die nicht nur zurückblickt. Sondern die immer wieder aufs Neue Forderungen nach einer offenen, solidarischen und demokratischen Gesellschaft stellt. Dann kann Erinnerung mehr sein als ein Ritual, als die Aneinanderreihung von Gedenktagen. Ein solches Gedenken ist immer nicht nur eine Erinnerung, sondern gleichzeitig auch immer Politik. Es gilt aber auch: Das Primat der Erinnerungspolitik ist immer die Erinnerung selbst. Das Leid der Opfer und ihrer Angehörigen zu würdigen und die eigene historische Schuld anzuerkennen, gehört weiterhin in den Mittelpunkt unserer Erinnerungspolitik. Alles andere würde das Andenken an die Opfer beleidigen.
Vieles aus dem Bereich Erinnerungspolitik wird in Deutschland auf Länderebene oder kommunal geregelt. Welche Denkmäler gefördert werden, ob ein neues Museum entsteht, was im Curriculum der Schulen steht, wird nicht in Berlin entschieden. So ist es im Grundgesetz geregelt. Haushaltspolitisch bedeutet das, dass der Bund mit rund 1,2 Milliarden Euro etwa 13 % der Gesamtausgaben für Kunst und Kultur übernimmt. In den vergangenen Jahren ist es den Kulturpolitikern und den jeweiligen Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien gelungen, die Bundesausgaben für Kultur Jahr für Jahr zu steigern.
Im Bundestag konnten wir in der Erinnerungspolitik in dieser Legislaturperiode wichtige Meilensteine setzen. So haben wir bedeutende Einrichtungen in die Bundesförderung überführen und damit dauerhaft sichern können. Wir haben wichtige Gesetzesvorhaben umgesetzt, unter anderem das Bundesarchivgesetz reformiert, die Konzeption 2000 in der Auswärtigen Kulturpolitik weiterentwickelt, das Kulturgutschutzgesetz verabschiedet und erste Schritte für die Weiterentwicklung der Behörde des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU) getan. Die Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung haben wir intensiv begleitet und uns für eine internationale Ausrichtung der Stiftung eingesetzt.
Für die Erinnerungskultur werden die Leitlinien der Bundesregierung in der Gedenkstättenkonzeption des Bundes festgeschrieben. Die Konzeption bezieht sich auf Gedenkstätten von nationaler Bedeutung, die an die nationalsozialistische Terrorherrschaft und ihre Opfer erinnern. Ein weiterer Schwerpunkt ist die Aufarbeitung der Diktatur in der Sowjetischen Besatzungszone und in der ehemaligen DDR. Auch deren Opfer soll verstärkt gedacht werden. 1999 wurde, aufbauend auf Vorschlägen einer Enquetekommission, unter dem Sozialdemokraten Michael Naumann als Beauftragter der Bundesregierung für Angelegenheiten der Kultur und der Medien, die Gedenkstättenkonzeption initiiert und veröffentlicht, 2008 wurde sie überarbeitet.
In vielen Punkten hat sich die Gedenkstättenkonzeption bewährt. Doch unsere Gesellschaft und damit auch die Auseinandersetzung mit unserer Vergangenheit ist in Bewegung: Die Zeitzeugengeneration wird immer kleiner, unsere Gesellschaft ist zu einer Einwanderungsgesellschaft geworden und populistische Strömungen stellen demokratische Errungenschaften infrage. Diesen veränderten Rahmenbedingungen muss die Gedenkstättenkonzeption Rechnung tragen.
Für mich ist unbestritten, dass die Erinnerung an Nationalsozialismus und SED-Herrschaft weiterhin das Ziel der Gedenkstättenkonzeption sein muss. Darüber hinaus, das hat mir meine Arbeit der vergangenen dreieinhalb Jahre gezeigt, brauchen wir Ergänzungen.
Auf mich kommen immer wieder Opfergruppen zu, die sich in der Öffentlichkeit nicht genügend gewürdigt fühlen. Seit Längerem schon bin ich zum Beispiel in Kontakt mit einer Initiative, die sich für einen Gedenkort für die Opfer der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik einsetzt. Während des Zweiten Weltkriegs starben in Russland, Polen und anderen osteuropäischen Ländern Millionen Menschen, unter ihnen 800.000 Einwohner Leningrads, die durch die deutsche Blockade verhungerten, an die 100.000 unbewaffnete Zivilisten, die im Zuge des Warschauer Aufstands ermordet wurden und über drei Millionen sowjetische Kriegsgefangene. An diese Menschen erinnert in Deutschland bisher kaum jemand. Die Initiative möchte das ändern und schlägt einen zentralen Gedenkort in Berlin vor.
Das Beispiel zeigt: Alle Opfer verdienen unsere Aufmerksamkeit. Es geht dabei nicht darum, das Leid der einen Gruppe gegen das einer anderen aufzurechnen. Sondern es geht darum, ein Gesamtbild der deutschen Diktaturen zeigen zu können. Um das Weltbild und die ungeheure Brutalität der Nationalsozialisten zu begreifen, gehört eben auch die explizite Erinnerung an die Millionen Menschen dazu, die in Osteuropa nur deswegen sterben mussten, weil sie laut der NS-Rassenideologie als »Untermenschen« galten.
Für mich ist entscheidend, auch der Menschen zu gedenken, die in Deutschland keine große Lobby haben. Um ein Gesamtbild der deutschen Diktaturen zu zeigen, brauchen wir deswegen Kriterien, mithilfe derer weiße Flecken in der Erinnerungsarbeit aufgearbeitet werden und alle Opfer angemessen gewürdigt werden können. Das ist eine meiner Kernforderungen für eine überarbeitete Gedenkstättenkonzeption.
Ein zweiter Punkt ist mir wichtig. Meine Erfahrungen in der Erinnerungspolitik zeigen, dass einige historische Ereignisse nicht durch die in der Gedenkstättenkonzeption gegebenen Kriterien abgedeckt werden können. Dazu gehören positive Momente unserer Demokratiegeschichte, zum Beispiel die Erinnerung an die Märzrevolution 1848 sowie die Erinnerung an die friedliche Wiedervereinigung. Die Schwerpunktsetzung der Konzeption auf die beiden deutschen Diktaturen soll weiterhin wesentlicher Bestandteil sein. Darüber hinaus brauchen wir aber eine Öffnung der durch den Bund geförderten Erinnerungsarbeit zu diesen herausragenden Beispielen der deutschen Demokratiegeschichte. Das Erinnern und Gedenken an diese Ereignisse zeigt insbesondere den jüngeren Generationen, dass Demokratie und Rechtsstaatlichkeit nicht selbstverständlich sind und wie hart sie erkämpft wurden. Hier darf keine Leerstelle entstehen, die durch andere mit rassistischen bzw. volksverhetzenden Aussagen gefüllt wird.
Ich setze mich dafür ein, dass diese Punkte in ein überarbeitetes Gedenkstättenkonzept aufgenommen werden. Leider scheint die Kulturstaatsministerin Monika Grütters (CDU) das anders zu sehen und hat bisher kein überarbeitetes Konzept vorgelegt. Ich kämpfe hier für ein Vorankommen noch in dieser Legislaturperiode.
Was bleibt aus sozialdemokratischer Perspektive noch zu tun?
Sozialdemokratische Erinnerungs- und Gedenkpolitik stellt vor allem jüngere Generationen in den Mittelpunkt. Die Zeitzeugen der beiden deutschen Diktaturen werden immer weniger, das ist eine gewaltige Herausforderung für die Erinnerungspolitik. Es ist essenziell, auch für zukünftige Generationen die Berichte und die Erlebnisse dieser Menschen zu bewahren. Berichte müssen deswegen digitalisiert und archiviert werden. Das Bestreben von Gedenkstätten und Erinnerungsorten, digitale Medien in ihre Ausstellungen und ihre Arbeit einzubinden, sollte besonders gefördert werden. Auch insgesamt gilt es, die pädagogische Arbeit der Gedenkstätten zu fördern. Viele Gedenkstätten sind Opfer ihres eigenen Erfolges geworden. Weil sie gute Arbeit leisten, wollen immer mehr Schulklassen und Gruppen kommen und Führungen buchen. Mittlerweile haben Gedenkstätten monatelange Wartezeiten für Schulklassenführungen. Der Bund muss hier schlicht und ergreifend mehr Geld zur Verfügung stellen, damit mehr pädagogisches Personal eingestellt wird und Führungen sowie andere Angebote ohne lange Wartezeiten angeboten werden können.
Ein weiteres Thema liegt mir sehr am Herzen, die Zukunft der Stasi-Unterlagenbehörde. Die SPD-Fraktion hat sich erfolgreich für eine Expertenkommission zur Aufarbeitung des SED-Unrechts eingesetzt. Im parlamentarischen Verfahren konnten jedoch nicht alle Vorschläge der Expertenkommission in Bezug auf die Zukunft der BStU berücksichtigt werden. Hier wollen wir in der neuen Legislaturperiode nachsteuern.
Im Zeichen der Versöhnung Erinnerungs- und Gedenkpolitik zu gestalten, bedarf es eines internationalen Fokus und Verweisen in die Gegenwart. Im Bereich der aktuellen Flüchtlingspolitik ist es der SPD gut gelungen, Bezüge zwischen früheren und heutigen Flüchtlingsbewegungen herzustellen. Dies gilt es weiter zu fokussieren. Eine besondere Bedeutung kommt hier der Stiftung Flucht, Versöhnung, Vertreibung zu. Deren Austausch mit internationalen Stiftungen sowie dem Europäischen Netzwerk für Erinnerung und Solidarität sollte noch stärker als bisher gefordert und gefördert werden. Das Netzwerk könnte in Verbindung mit dem Europäischen Kulturerbejahr 2018 gestärkt und bekannter gemacht werden. Ziel ist es auch, neue Mitgliedsländer, zum Beispiel Österreich, zu gewinnen.
Diese Punkte sind nur Beispiele für das, was in der Erinnerungspolitik noch zu tun ist. Sie skizzieren, dass Erinnerungspolitik nicht abgeschlossen ist, dass sie einem stetigen Wandel unterliegt. All das prägt die Auseinandersetzung mit unserer Gesellschaft. Einen Schlussstrich zu ziehen, würde dem nicht gerecht werden.
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