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Herausforderungen für Schulen, Lehrkräfte und Bildungspolitik Kinderarmut, Migration und Schulsegregation

Im Frühjahr 2006 machte die Berliner Rütli-Hauptschule Negativschlagzeilen: Ein Klima aus Gewalt und Angst sowie Sprachbarrieren hatte ein normales Unterrichten unmöglich gemacht. Inzwischen ist aus der Problem- eine Vorzeigeschule auf dem Campus Rütli geworden, in Berlin ging die Schulform der Hauptschule auf in Gemeinschaftsschulen und der Berliner Senat unterstützt seither Schulen mit einem hohen Armutsanteil unter der Schülerschaft mit einem Bonusprogramm.

Doch längst nicht überall hat die Bildungspolitik der Länder mit einem Abbau selektiver Schulformen reagiert. Das Bildungssystem der Bundesrepublik Deutschland steht seit Langem vor zwei großen Herausforderungen, denen es nur zögerlich gerecht wird: dem beträchtlichen Anteil an Schüler/innen, deren Familien in relativer Armut leben, und dem Drittel, der einen sogenannten Migrationshintergrund hat, wobei laut Bildungsbericht 2016 die Anteile in westdeutschen Bundesländern, in Ballungszentren und in (westdeutschen) Großstädten deutlich höher liegen. Diese Kinder und Jugendlichen tragen ein großes Risiko, Opfer der nach wie vor eklatanten Ungleichheit der Bildungschancen aufgrund der sozialen Herkunft zu werden. Oftmals vererbt sich die Bildungsarmut in einkommensarmen und gering gebildeten Familien. Die Kluft zu den Bildungschancen privilegierter Kinder ist seit dem »PISA-Schock« im Jahr 2000 jedenfalls kaum geringer geworden.

Zum quantitativen Umfang dieser Herausforderungen ist festzuhalten, dass immerhin fast ein Fünftel der Kinder im Vorschulalter zu Hause nicht Deutsch spricht, womit frühe Bildungseinrichtungen wie Kitas und Grundschulen zu einem weichenstellenden Ort für den weiteren Bildungsweg werden. Auch relative Armut ist hierzulande unter Kindern weit verbreitet: Je nachdem, welches Konzept und welche Datenquelle zur Erfassung von Kinderarmut angewandt wird, galten 2017 rund 1,9 bis 2,7 Millionen Unter-18-Jährige als armutsgefährdet. Der Anteil von Minderjährigen in SGB-II-Bedarfsgemeinschaften, landläufig als »Hartz-IV-Familien« bezeichnet, lag Ende 2017 bei rund 15 % der Unter-18-Jährigen, bundesweit waren es rund zwei Millionen.

Sozialräumliche (Kinder-)Armutstrends

Eine hohe Konzentration von Armut in der Schülerschaft ist eine besondere Herausforderung für die Gesellschaft und vor allem ihre Bildungseinrichtungen. Das ist vor allem in den Stadtteilen der Großstädte, die als sozial und/oder ethnisch segregiert gelten, der Fall, aber auch in sozioökonomisch benachteiligten Gebieten der ländlichen Gemeinden. Ein Beispiel dafür, dass sich innerhalb der regionalen Armutsballungsgebiete ebenso wie in vielen Großstädten die Schere zwischen Arm und Reich auf Quartiersebene weiter öffnet, ist Mülheim an der Ruhr. Eine Untersuchung von Thomas Groos und Nora Jehles hat die soziale Segregation anhand stadtteildifferenzierter sozialräumlicher Daten auch für die Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen bestätigt. Die dortigen SGB-II-Quoten der Unter-Sechsjährigen streuen demnach von unter 10 % in den südlichen bis zu 56 % bei einigen nördlichen Stadtteilen. Diese Auseinanderentwicklung macht auch vor Bildungsinstitutionen wie Kitas und Grundschulen nicht Halt: Die Forscher beobachteten, dass es mehr und mehr Grundschulen gibt, in denen sich Kinder aus benachteiligten Familien konzentrieren, während sich andere Einrichtungen trotz vergleichbarer räumlicher Lage zu Anlaufstellen für Kinder aus besser gestellten Familien entwickeln. Groos und Jehles stellten hierzu fest, dass die SGB-II-Quoten von Schüler/innen der 24 untersuchten Grundschulen mit einer Streuung von 7 bis 82 % noch deutlich über das Ausmaß der oben erwähnten sozialräumlichen Segregation in der Ruhrgebietsstadt hinausgingen. Diese noch tiefer greifende Schulsegregation sei auf die freie und damit sozial stark selektive Grundschulwahl der Eltern zurückzuführen, die es in Nordrhein-Westfalen seit dem Schuljahr 2008/09 gibt. Mit anderen Worten: Die sozial homogene Zusammensetzung der Schülerschaft an Grundschulen richtet sich nicht nur nach dem (räumlichen) Einzugsgebiet, sondern wird durch eine selektive Schulwahl von Eltern noch verstärkt, sodass sich auch die Schullandschaft weiter spaltet in Schulen mit Schüler/innen aus wohlhabenderen Familien und in solche mit Schüler/innen aus einkommensarmen Familien. Eine solche Auseinanderentwicklung der Einrichtungslandschaft ist sogar schon bei Kitas feststellbar.

Im Bereich der weiterführenden Schulen spielt in den Bundesländern mit nach wie vor stark gegliedertem Schulsystem auch die Schulform eine entscheidende Rolle: In NRW waren 2014 rund 44 % der Sekundarstufenschüler/innen an Hauptschulen und 43 % an Förderschulen armutsgefährdet, während ihr Anteil an Schüler/innen der Sekundarstufe I insgesamt 23 % und an Gymnasien unterdurchschnittliche 9 % betrug. Auch Schüler/innen mit Migrationshintergrund konzentrieren sich insbesondere in westdeutschen Großstädten an Schulen in benachteiligten Stadtvierteln und an Schulformen, die sie unzureichend für den Fall eines späteren Besuchs der gymnasialen Oberstufe qualifizieren.

Diese Entwicklungen verdeutlichen vor allem eines: Schulen sind nicht gleich, sondern sie haben es mit ganz unterschiedlichen Schülerschaften und damit auch Herausforderungen in Bezug auf den Unterricht, auf Sprachförderung, auf den Ganztag und weitere Angebote wie Schulsozialarbeit, Ernährung, Bewegung u. v. m. zu tun. Vielfalt in deutschen Klassenzimmern herrscht nicht nur in Bezug auf den Förderbedarf, sondern auch in Bezug auf die ethnisch-kulturelle und sozioökonomische Herkunft. Viele Grundschulen befassen sich kaum mit dem Thema »Kinderarmut« und den Auswirkungen auf die Schul- und Unterrichtspraxis, weil nur wenige Schüler/innen davon betroffen sind. An einigen Schulen ist es hingegen ein drängendes Problem, wenn rund Dreiviertel der Schülerschaft aus Familien mit SGB-II-Bezug kommen, in denen nicht wenige mit einer anderen Sprache als Deutsch aufwachsen. Solche Bildungseinrichtungen haben einen deutlich erhöhten Bedarf beispielsweise an personellen und sachlichen Ressourcen, an kleineren Klassen und einer besseren Lehrer-Schüler-Relation, um trotz einer benachteiligten Schülerschaft gute Arbeit leisten zu können. Gerade für solche Schulen wären besonders gute Rahmenbedingungen notwendig, die eine tatsächlich individuelle und umfassende Förderung ermöglichten. Die Realität ist oftmals eine andere, denn die Verteilung der Ressourcen erfolgt allzu oft nach dem Motto »Je älter die Schüler/innen und je höher die Bildungsgänge umso umfänglicher auch die Mittelausstattung«, wodurch segregierte Schulen oftmals sogar über eine besonders schlechte personelle, sachliche und bauliche Ausstattung verfügen.

Herausforderungen für die Bildungspolitik

Bildungspolitisch ergibt sich daraus ein ganzes Bündel von Herausforderungen, denen Bund, Länder und Kommunen gerecht werden müssen. Erstens ist im Koalitionsvertrag ein Rechtsanspruch auf einen Ganztagsplatz an Grundschulen bis 2025 vereinbart. Dieser ist nicht nur zur besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf sinnvoll, sondern auch vor der Erkenntnis bildungswissenschaftlicher Studien, die im Ganztag ein Instrument sehen, um die Schere der Bildungsungleichheit aufgrund der sozialen Herkunft zu schließen. Zweitens wäre Schulsozialarbeit ein probates Mittel. Deren Verankerung als Pflichtaufgabe im Kinder- und Jugendhilfegesetz oder in den Schulgesetzen der Länder, die Schulsozialarbeiter/innen für Schulen mit heterogener Schülerschaft verbindlich festschreibt, würde Schulen und Lehrkräfte von sozialpädagogischen, unterrichtsfremden Aufgaben entlasten.

Ein dritter Ansatzpunkt, der bereits in manchen Bundesländern praktiziert wird, ist eine Förderung von Schulen nach Sozialindex, vergleichbar mit dem PlusKITA-Programm in NRW, welches zusätzliche Personalmittel für Kitas mit einem hohen Anteil an Kindern »mit erschwerten Startbedingungen« bereitstellt. Einzelne Bundesländer wie Hessen, Berlin oder Bremen weisen Schulen je nach deren räumlicher Lage und Konzentration von Schüler/innen aus armutsgefährdeten Familien einen beträchtlichen Teil personeller und Sachmittel zusätzlich zu, andere Bundesländer wie NRW praktizieren zwar eine Schulförderung nach Sozialindex, ihr Ausmaß ist aber so unerheblich, dass sie in der Praxis kaum ins Gewicht fällt.

Handlungsmöglichkeiten von Schulen und Lehrkräften

Auch wenn die Ursachen für Kinderarmut und Segregation durch einzelne Schulen nicht beseitigt werden können, so gibt es doch zahlreiche Handlungsmöglichkeiten für Schulleitungen, Kollegien und Lehrkräfte, um armutsbetroffenen Schüler/innen Unterstützungs-, Teilhabe- und Förderangebote zu verschaffen. Diese sind so breit gefächert wie die mehrdimensionalen Folgen von familiärer Armut bei Kindern und Jugendlichen und können im materiellen, sozialen, kulturellen oder gesundheitlichen Bereich greifen. So sollten Schulen und Lehrkräfte im materiellen Bereich darauf achten, dass die Komponenten des Bildungs- und Teilhabepakets wie der Zuschuss zum Mittagessen, Kosten für Klassenfahrten und Exkursionen, Nachhilfeförderung und für den Schulbedarf von betroffenen Familien in Anspruch genommen werden, wozu die Information über und die Unterstützung bei der Beantragung der Mittel etwa durch Schulsozialarbeiter/innen oder Lehrkräfte essenziell ist.

Da armutsbetroffene Kinder und Jugendliche selten Mitglieder in Vereinen sind oder etwa ein Instrument erlernen, können im Rahmen einer qualitativ guten Ganztagsbetreuung zahlreiche (kostenfreie) Arbeitsgemeinschaftsangebote musische, kulturelle, technische, sportliche oder künstlerische Talente fördern, für die armutsgefährdete Familien sonst keine finanziellen Mittel hätten. Voraussetzung sind allerdings verbindliche, kostenfreie Strukturen wie beim gebundenen Ganztag, da beim (zudem kostenpflichtigen) offenen Ganztag erfahrungsgemäß gerade jene Kinder seltener angemeldet werden, die aus sozioökonomisch benachteiligten Familien und Quartieren kommen. Viele Schulen kooperieren hierzu mit außerschulischen Bildungsträgern aus der Kinder- und Jugendhilfe, mit Sportvereinen, Musikschulen und Künstler/innen aus dem Umfeld. Zur Refinanzierung mancher Angebote existieren auch bundeslandspezifische Programme wie etwa »Jedem Kind Instrumente, Tanzen, Singen« (JeKits) in NRW.

Andere Handlungsansätze, die Schulen bereits regulär praktizieren, sind etwa Fördervereine, die mittels Kostenübernahmen für Schüler/innen einspringen, wenn es um Schulmaterial, Taschengeld für Klassenfahrten o. ä. geht, was die Eltern nicht aus eigener Kraft finanzieren können. Ein hoher Stellenwert kommt außerdem der (bei Bedarf auch aufsuchenden) Elternarbeit zu, da die meisten Probleme der Kinder nur gemeinsam mit den Familien bewältigt werden können. Hier geht es oftmals darum, die elterliche Wahrnehmung zu ergänzen, Rat, Information und Hilfestellung anzubieten oder über weitergehende Hilfesysteme zu informieren.

Aus der Forschung ist bekannt, dass sich mit Armut einhergehende Ernährungsauffälligkeiten an Schulen beispielsweise in fehlendem Frühstück, in ungesunder Ernährung oder in der Nichtteilnahme an mittäglichen Verpflegungsangeboten äußern, was für Schüler/innen massive Konzentrations- und Leistungsprobleme mit sich bringt. Manche Schulen bieten hierzu vor Schulbeginn regelmäßig Frühstücksbuffets an, die von privaten Initiativen wie »Brotzeit e. V.« bereitgestellt werden.

Handlungserfordernisse in Bezug auf gesundheitliche Auffälligkeiten von sozial benachteiligten Schulkindern bestehen auch im Bereich von Übergewicht/Adipositas und der Zahngesundheit. Die Sicherstellung von Zahnvorsorgeuntersuchungen in Schulen ist daher ebenso ein sinnvolles Angebot wie die Integration möglichst vielfältiger Sport- und Bewegungsangebote in den schulischen Alltag, insbesondere an Ganztagsschulen. Nachahmenswert sind hier auch konzeptionelle Ansätze wie die »bewegte Schule«, aber auch Initiativen zur Ernährungsbildung im Unterricht, beispielsweise für ein gesundes Essen oder Kochen mit frischen Zutaten.

Im sozialen Bereich geht es darum, benachteiligte Kinder im Aufbau ihrer – oftmals eingeschränkten – Kontakte und Kompetenzen zu unterstützen und Ausgrenzungserfahrungen zu minimieren. Wenn Kinder im (oft materiellen) Wettstreit mit anderen nicht mithalten können, führt dies häufig zu Ausgrenzungserfahrungen, weshalb sich Antimobbing-Konzepte anbieten. Da Aggressionen auch als externalisierende Bewältigungsstrategien auftreten, sind Programme zur Gewaltprävention ebenso wie von Schüler/innen selbst organisierte Mediationsansätze sinnvoll. An einigen Schulen gibt es einen »Auszeitraum«, in den sich Schüler/innen bei Problemen zurückziehen können und Pädagogen als Ansprechpartner vorfinden.

In der pädagogischen Arbeit mit Schüler/innen aus vielfach benachteiligten Lebenslagen haben sich Programme zur Resilienzförderung zur Stärkung der sozialen Kompetenzen und Kontakte bewährt. Sie versuchen, die Widerstandskräfte von Kindern, die unter belasteten Lebensumständen aufwachsen, zu stärken, indem man personale und soziale Schutzfaktoren gezielt fördert.

All diese Handlungsansätze an Schulen entlassen die Bildungs- und Sozialpolitik der Länder und des Bundes indes nicht aus der Verantwortung, Schulen wo nötig sehr viel besser auszustatten und auch die Ursachen der Kinder- und Familienarmut sozialpolitisch entschieden zu bekämpfen.

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