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© Foto: picture alliance/Imagesource RF | Joho

Bilanz des Festivalsommers 2021 Kino, Corona, Gender

Die Filmfestivals des Sommers 2021 lassen sich unter zwei Aspekten genauer fassen: Geschlechteridentität und Corona. Wie das Theater, die Musik und andere Formen öffentlicher Kultur hat auch das Kino stark unter der Coronapandemie gelitten. Während Corona aber vor allem die Rahmenbedingungen prägte und nur in seltenen Fällen schon Eingang in die filmische Erzählung fand, war das Genderthema hingegen sowohl inhaltlich als auch organisatorisch allgegenwärtig.

Vom sehnsüchtig erwarteten neuen James-Bond-Film versprach man sich nach anderthalb Jahren Pandemie eine wundersame Wiederbelebung. Der Film sollte ursprünglich im April 2020 ins Kino kommen, aber sein Start musste mehrfach verschoben werden, um das Ende des Lockdowns abzuwarten und nicht zuletzt auch die immensen Produktions- und Marketingkosten von 350 Millionen Dollar wieder einzuspielen.

Schon vor Drehbeginn hatte Daniel Craig angekündigt, dass er in No Time to Die (Keine Zeit zum Sterben) zum letzten Mal als James Bond auftreten würde. Wer in seine Fußstapfen treten könnte, beschäftigte die Filmwelt: möglicherweise ein schwarzer Schauspieler wie Idris Elba? Oder eine Frau? Gerade Letzteres wäre für die Zuschauerinnen und Zuschauer, die mit dem coolen Agenten seiner Majestät aufgewachsen sind, eine Revolution. Die Diskussionen um den ikonischen Macho-Mythos »James Bond« spiegeln Debatten wider, die sich derzeit durch die gesamte Kinolandschaft ziehen.

Jenseits eines kommerziellen Mainstreams à la Bond sind Filmfestivals so etwas wie Seismografen für die Strömungen des internationalen Kinos. Festivals bieten den Luxus einer internationalen Auswahl künstlerisch ambitionierter Filme, von denen viele nie den Weg ins Kino finden. Es wirkte für viele wie ein Wunder, dass sie nun wieder stattfinden konnten. Allerdings stand Corona in Großbuchstaben über allen Veranstaltungen, überall gab es strenge Hygieneauflagen und Maskenpflicht während der Vorführung, Impf- und Testnachweise beherrschten das Drumherum.

Am stärksten betraf das die Berlinale. Bei dem Filmfest, das normalerweise im Februar stattfindet, hatte man sich für eine Hybridlösung entschieden. Im März gab es eine Online-Veranstaltung mit Filmmarkt und Presse, im Juni nachgeholte Publikumsvorführungen in verschiedenen, über die Stadt verteilten Open Air Kinos.

Das war als Kompromiss gut gemeint, doch vieles, was ein Festival eigentlich ausmacht, die Entdeckungen und Überraschungen, die leidenschaftlichen Debatten über gelungene und misslungene Filme, die kollektive Neugier und die Energie, die eine solche Veranstaltung freisetzt, blieb dadurch auf der Strecke. Immerhin fanden die prämierten Filme und ihre Regisseure eine gewisse Aufmerksamkeit wie der Rumäne Radu Jude, der mit Bad Luck Banging or Loony Porn den Goldenen Bären gewann. Die Berlinale ist dafür berühmt, vielleicht sogar berüchtigt, abseitige Filme zwischen Avantgarde und Zeitgeist auszuzeichnen, die kaum jemanden ins Kino locken.

Das Stichwort »Porn« im Titel versprach einen gewissen voyeuristischen Reiz. Im Film geht es dann aber um ein privates Sex-Video, das im Netz landet und den Ruf einer Lehrerin ruiniert. Bevor sie vor einem Tribunal von Eltern erscheint, läuft sie lange durch die Straßen von Bukarest und begegnet überall schlecht gelaunten Menschen. Dann folgen ein essayistisches Intermezzo und eine überlange Konfrontation mit empörten Eltern. Was den Genderaspekt anlangt, war Bad Luck Banging or Loony Porn der einzige Film in dieser Festivalsaison, bei dem ein Mann den Hauptpreis eines der großen Wettbewerbe gewinnen konnte: mit einer selbstbewussten Frau in der Hauptrolle, die das wilde Video vom ehelichen Sex energisch verteidigt.

Ansonsten konnten Männer nur wenig ausrichten. Das lag auch an der bemerkenswerten Neuerung einiger Festivals in diesem Jahr. Die Preise für die besten männlichen und weiblichen Darsteller wurden durch eine genderneutrale Variante ersetzt. Der Preis der Berlinale ging an eine Schauspielerin, Maren Eggert, die Hauptdarstellerin des futuristischen BeziehungsdramasIch bin dein Mensch. Für die Regisseurin Maria Schrader war das zugleich der Beginn einer Erfolgsserie, die sich bis zum Deutschen Filmpreis im Oktober fortsetzte.

Der Preis der Berlinale-Jury ging ebenfalls an eine Frau, an Maria Speth für ihren herausragenden Dokumentarfilm Herr Bachmann und seine Klasse. Ein Jahr lang hatte die Regisseurin den Lehrer Dieter Bachmann und seine 6. Klasse an einer Gesamtschule im hessischen Stadtallendorf mit der Kamera begleitet. Die Schüler/innen kommen aus zwölf Nationen. Der Film lässt hautnah miterleben, wie soziale Integration mithilfe unkonventioneller Pädagogik gelingen kann.

Cannes, das bedeutendste unter den internationalen Festivals, war im vergangenen Jahr dem Lockdown zum Opfer gefallen. 2021 hatte man den traditionellen Termin vom Mai in den Juli verlegt. Es gab keine Hybridlösung wie in Berlin, und dieses Wagnis ging glücklicherweise auf: Die Einschränkungen waren rechtzeitig vorher aufgehoben worden und das Festival feierte seine spektakuläre Wiedergeburt. Die Begeisterung darüber, dass man wieder gemeinsam ins Kino gehen konnte, war spürbar – aber auch Beklommenheit. Überall gab es aufwändige Kontrollen, man musste sich online anmelden, bei mehrmaligem Nicht-Erscheinen drohte Ausschluss vom Reservierungsverfahren.

Mit Spike Lee hatte man zum ersten Mal einen Afroamerikaner als Jury-Präsidenten eingeladen – ein Bekenntnis zur Diversität. In Cannes, dem Lieblingsevent von Harvey Weinstein, hat die #MeToo-Bewegung in den letzten Jahren hohe Wellen geschlagen. Diesmal reagierte man sensibler auf die aktuellen Debatten um Geschlecht und Identität. An Stars herrschte kein Mangel. Jodie Foster, die 1976 als junge Schauspielerin in Taxi Driver zum ersten Mal nach Cannes kam, wurde mit einem Ehrenpreis bedacht. Die Genderikone Tilda Swinton war mit ihrer androgynen Aura in mehreren Filmen zu sehen.

Eine überraschende wie mutige Entscheidung der Jury war es, den radikalsten Film des Wettbewerbs, Titane, mit der Goldenen Palme auszuzeichnen. Für die 37‑jährige Julia Ducournau, die auch das Drehbuch geschrieben hat und bis dahin nur Insidern bekannt war, dürfte der Preis einen Karriereschub bedeuten.

Die Geschichte klingt auf den ersten Blick ziemlich haarsträubend – eine Serienkillerin wird auf mysteriöse Weise schwanger und findet am Ende einen Vater, der sie akzeptiert. Die Protagonistin ist ein Zwitterwesen, das zwischen weiblicher und männlicher Identität changiert. Titane nimmt die Zuschauer/innen mit auf eine Achterbahnfahrt der Gefühle und Effekte. Der Film spielt unverhohlen mit Genrezitaten und Splattermotiven, um schließlich in einer sehr modernen Version des biblischen Gleichnisses vom verlorenen Sohn zu münden.

Dank der coronabedingt reduzierten Präsenz des amerikanischen Starkinos, das sonst auch gerne in Cannes gefeiert wird, blieb mehr Raum für die Wahrnehmung »exotischer« Filmländer wie Iran oder Finnland. Die filmische Qualität litt darunter nicht, der Wettbewerb zeigte ein hohes Niveau.

Das Gewicht der Streamingdienste

Nach wie vor ist das Festival von Cannes eine netflixfreie Zone. Die Vereinigung der französischen Kinobetreiber, die im Aufsichtsrat des Festivals vertreten ist, besteht darauf, dass die Filme des Festivals einen Kinostart haben müssen, bevor sie auf einer Onlineplattform gezeigt werden dürfen. Seit Jahren wird über einen Kompromiss verhandelt. Bislang vergeblich.

Für Netflix waren die langen Monate der Pandemie und die damit verbundene Schließung der Kinosäle ein Geschenk des Himmels. Wer neue Filme oder Serien sehen wollte, saß zu Hause und war auf Onlineangebote angewiesen. Seit einigen Jahren verfolgt Netflix die Strategie, die Produktionen bekannter Regisseure wie Martin Scorsese oder Alfonso Cuarón zu finanzieren und sich damit langfristige Rechte zu sichern. Man lässt den Filmemachern freie Hand und schmückt sich mit dem Renommee prominenter Namen.

Entsprechend selbstbewusst und unnachgiebig tritt der Streamingdienst gegenüber einem Festival wie Cannes auf, das nach wie vor auf einer Kinoauswertung besteht. Man nahm in Kauf, dass Netflix-Produktionen dort nicht gezeigt wurden. Und erreicht damit möglicherweise langfristig, dass am Ende Cannes gezwungen ist, nachzugeben und der nicht zuletzt durch die Pandemie veränderten Marktsituation Tribut zu zollen.

Von dieser restriktiven Politik profitierte das älteste Filmfestival der Welt, die Film-Biennale in Venedig. Hier gab es prominente Regisseure, deren Filme von Netflix koproduziert waren. So der Eröffnungsfilm, Pedro Almodóvars Madres paralelas, dessen Hauptdarstellerin Penélope Cruz mit der Coppa Volpi als beste Schauspielerin ausgezeichnet wurde. Sie spielt eine selbstbewusste Fotografin, die mit Anfang 40 überraschend schwanger wird. Im Krankenhaus begegnet sie einer jungen Frau, die unter ihrer ungewollten Schwangerschaft leidet. Zudem erzählt Almodóvars Film von dem Bemühen, anonyme Massengräber aus der Zeit des Spanischen Bürgerkriegs freizulegen. Auch die Fotografin ist auf der Suche nach dem Grab ihres Großvaters, den sie nie gekannt hat. Doch die beiden Erzählstränge, das private Melodram à la Almodóvar und das politische Drama, wollen sich nicht so recht zusammenfügen.

Der Hauptpreis des Festivals, der Goldene Löwe, ging, wie in Cannes, an eine Frau, an die Französin Audrey Diwan. Ihr Siegerfilm L’évènement (Das Ereignis) ist die Adaption des gleichnamigen autobiografischen Romans von Annie Ernaux. Eine junge Studentin wird ungewollt schwanger und bemüht sich um eine Abtreibung, die im Frankreich der 60er Jahre unter Strafe steht. Die Regisseurin Audrey Diwan verzichtet in ihrem zweiten Spielfilm auf dramatisierende Spannungselemente und konzentriert sich auf die nüchterne Darstellung eines existenziellen Konflikts, der nicht nur jede betroffene Frau in höchste Entscheidungsnot bringt, sondern auch zu den Kernthemen feministischer Kämpfe gehört.

Ihr Film besticht durch seine direkte, schnörkellose Inszenierung sowie die glänzende 22‑jährige Hauptdarstellerin Anamaria Vartolomei. Es war sicher kein Zufall, dass die Hauptpreise der beiden wichtigsten Festivals an Frauen, die Geschichten weiblicher Protagonistinnen aus einer weiblichen Perspektive erzählen, gingen. Die Preise für Titane und L’évènement markieren zudem die Bereitschaft, das Risiko einzugehen, junge Regisseurinnen auszuzeichnen, die sich noch keinen Namen gemacht haben. Damit wird Neugier geweckt und Neues ausprobiert, genau das, was den Reiz eines Festivals ausmacht.

Wie die Diskussion um Genderfragen ein Festival auf problematische Weise dominieren kann, ließ sich in San Sebastián beobachten. Schon im Vorfeld hatte sich das Festival viel Ärger mit der Ankündigung eingehandelt, Johnny Depp mit einem Preis für sein Lebenswerk auszuzeichnen.

Einen ähnlichen Preis hatte er einige Wochen zuvor im kleinsten und sympathischsten Festival des Sommers erhalten, im böhmischen Karlovy Vary (Karlsbad). Dort erfreute man sich an einer Filmauswahl, die den Blick auf spannende Tendenzen in Mittel- und Osteuropa warf und erstmals Dokumentar- gemeinsam mit Spielfilmen im Wettbewerb zeigte. Johnny Depp, den in die Jahre gekommenen Piraten, feierte man dort vorbehaltlos.

Ganz anders in San Sebastián. Feministische Verbände im Baskenland und Spanien protestierten gegen die ihrer Meinung nach frauenfeindliche Entscheidung. Seine frühere Ehefrau Amber Heard wirft ihm häusliche Gewalt vor, derzeit steht man sich vor Gericht gegenüber. Das Branchenblatt Screen International empörte sich gleichermaßen wie die britische Boulevardpresse über den »notorious wife beater«, der keinen Preis verdient habe.

Angesichts der heftigen Reaktionen richtete das Festival zur Schadensbegrenzung einen feministischen Workshop ein und tat auch sonst alles, um eine aufgeklärte Haltung zu demonstrieren. Die Jury bestand aus vier Frauen und einem Mann. Die Preise für die besten männlichen beziehungsweise weiblichen Darsteller wurden wie in Berlin durch eine genderneutrale Variante ersetzt.

Die weiblich dominierte Jury kürte den rumänischen Beitrag Blue Moon zum Festivalsieger. In ihrem Debütfilm präsentiert die Rumänin Alina Grigore eine dysfunktionale Großfamilie, die in den Bergen Zimmer an Touristen vermietet. Die Männer liegen ständig im Streit. Zwei junge Frauen versuchen auszubrechen, um in Bukarest zu studieren.

Als einer der schwächsten Filme des Wettbewerbs stieß Blue Moon bei der Kritik auf wenig Begeisterung. Die Tageszeitung El País kritisierte die »groteske Entscheidung« und sprach von »politischen Preisen«. Auch nahezu alle anderen Auszeichnungen gingen an Frauen. Die (nahezu) alles beherrschende Genderdebatte – manchmal war sie fruchtbar, manchmal zu ideologisch aufgeladen in diesem Festivalsommer. Doch bei aller Kritik an einzelnen Preisentscheidungen, es überwog die Freude, dass Kino überhaupt wieder in dieser Form stattfindet. Was früher selbstverständlich schien – Filmfestivals zu besuchen – weiß man nun durch Corona als kostbares Privileg zu schätzen.

Kommentare (1)

  • Gisela Risse
    Gisela Risse
    am 03.12.2021
    „ … ich glaube, der Triumph des Films bei den Filmfestspielen von Venedig war der Tatsache zu verdanken, dass es kein Festivalfilm war, dass er also nicht grau, seriös und einschüchternd war.“ Das sagte Federico Fellini 1953 über seinen Film ’i vitelloni’. Aber, was ist denn ein Festivalfilm? Ein Film, der auf den Festivals erstmals gezeigt und später in den Kinos der Welt viele Millionen Dollar (wieder) einspielt? Ein Film, der gegen alle offiziellen Kritiken kein Reinfall sondern ein Riesenerfolg wird? Oder der dokumentarische Film, der Realismus und komplexe Zusammenhänge in Filmkunst transferiert? Oder ist es der pompöse Sci-Fi-Film, indem der Auserwählte uns aus der ökologischen Apokalypse führt und mit Gigantomanie und Klischees erschlägt? Ist der Festivalfilm ein Film, der als ästhetisches Kunstprodukt verstehbar ist, der durch individuelle Wahrnehmung von Schönheit, Sinnlichkeit, vielleicht auch Sinnhaftigkeit auf den einzelnen Zuschauer wirkt? Oder ist der Festivalfilm eine Inszenierung, in dem der Filmschaffende „nur“ seine eigene Existenz und Erlebnisse bilanziert? Oder ist es doch der Corona Film, der in der Pandemie zwischen klaustrophobischer Kasernierung und Romeo & Julia den Zuschauer triggert?
    Wie oder was auch immer. Filme entstehen in persönlichen, sozialen, politischen und globalen Kontexten. Und so werden sie auch vom Publikum gesehen und gewertet. Dass zu Zeiten der Pandemie nur ein kleinerer Teil dieses Publikums das Privileg hat ins Kino zu gehen oder Festivals zu besuchen, um in den Genuss von Filmkunst zu gelangen, ist eher zu beklagen und hoffentlich auch irgendwann bald wieder anders.

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