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Wo bleibt die Verkehrswende? Klimafreundliche Mobilität für alle

Zu Recht gilt die Möglichkeit, sich frei im Raum bewegen zu können, in modernen Gesellschaften als soziale Errungenschaft. Eigenständigkeit, Unabhängigkeit, Begegnung, Austausch, gemeinsames Tun oder arbeitsteiliges Wirtschaften, all diese üblicherweise positiv konnotierten Werte und Aktivitäten sind in unserer Welt zumeist mit Mobilität verbunden. Auch besteht ein recht eindeutiger Zusammenhang zwischen Mobilitätsniveau und Einkommen: Weit vorn liegt die global agierende Businessclass mit ihren Bonusmeilen, gefolgt vom reisefreudigen Bildungsbürgertum und seinem Nachwuchs, weit hinten rangieren Einkommensschwache, Prekäre und Gehandicapte. Von Mobilitätsgerechtigkeit, wie immer man ein angemessenes und verträgliches Niveau an Mobilität auch definiert, sind die saturierten und fragmentierten Wohlstandsgesellschaften heute weit entfernt. Ganz unabhängig von dieser Gerechtigkeitsfrage gilt: Die Ermöglichung von individueller Mobilität hat physische Voraussetzungen. Sie braucht Vehikel, Infrastrukturen, Organisation, Energie, Ressourcen und Flächen. Kurz: Der Zweck benötigt Mittel, und zwar erhebliche Mittel!

Heiligt der Zweck nun die Mittel? Ein ehrlicher Blick auf die Folgen des gegenwärtigen Verkehrssystems für die soziale und natürliche Umwelt macht es im Grunde unmöglich, diese Frage vorbehaltlos mit »Ja« zu beantworten. Selbst wenn man über die 780.000 Toten und 31 Millionen Verletzten hinwegsehen würde, die dem Verkehr in Deutschland seit 1950 zum Opfer gefallen sind, die 400.000 vorzeitigen Todesfälle pro Jahr in der EU durch überwiegend verkehrsbedingte Feinstaubemissionen für vernachlässigbar hält, es ignoriert, dass Verkehrslärm Stressreaktionen und Herz-Kreislauferkrankungen massiv in die Höhe treibt, oder der Ansicht ist, das deutsche Straßennetz mit seinem europäischen Rekordniveau von 13.000 Autobahn- und 38.000 Bundesstraßenkilometern müsse trotz erheblicher Bedenken seitens des Naturschutzes weiter ausgebaut werden, so muss man doch spätestens beim Thema Klimaschutz zu der Erkenntnis gelangen, dass das heutige Verkehrssystem in keiner Weise zukunftsfähig ist.

In der industrialisierten Welt liegt der Anteil des Verkehrssektors an der Gesamtheit der klimaverändernden Emissionen – je nach Staat – zwischen einem Fünftel und einem Drittel. Und vor allem: Anders als im Stromerzeugungssektor gehen die Emissionen hier nicht zurück. In Deutschland gibt es seit 1990 keine Minderung des verkehrsbedingten Klimagasausstoßes. Ob unter dem »Kanzler aller Deutschen« (Helmut Kohl), dem »Autokanzler« (Gerhard Schröder) oder der »Klimakanzlerin« (Angela Merkel), zu keinem Zeitpunkt ist hierzulande während der zurückliegenden 28 Jahre ernsthaft der Versuch unternommen worden, den Primat des Automobils einzuhegen und die klimafreundlichen Alternativen (Fußverkehr, Radverkehr, ÖPNV, Bahn) wirklich stark zu machen. Im Gegenteil: Verkehrspolitik bedeutet in Deutschland bis heute vor allem Autovorrangpolitik, Straßenausbau und Steuerprivilegierung für schwere Limousinen. Noch nie gab es so viele Autos in Deutschland wie heute, noch nie waren sie so schwer, noch nie war die durchschnittliche Anzahl an Passagieren so niedrig. Und noch nie war der Anteil des Straßengüterverkehrs am stetig wachsenden Güterverkehrsaufkommen so hoch wie heute. Soweit zu den aus ökologischer Perspektive niederschmetternden Fakten.

Die Art und Weise, wie der Transport von Menschen und Gütern heute ganz überwiegend organisiert wird, kollidiert massiv mit dem Klimaschutz. Das Ziel des Pariser Klimaabkommens von 2015, das für die Industriestaaten die sogenannte »Klimaneutralität« bis 2050 vorsieht, also (netto) null CO2-Emissionen, ist auf den bisherigen Pfaden mit absoluter Sicherheit nicht zu erreichen. Was gebraucht wird, ist eine wirkliche Mobilitätswende, ein Verkehrssystem, in dessen Zentrum Klimaschutz, nachhaltige Mobilität sowie Teilhabe und Zugang für alle stehen.

Wie könnte eine Mobilitätswende aussehen, die diesen Namen verdient? Welche politischen Maßnahmen sind erforderlich? Und welche gesellschaftlichen Trends und technologischen Entwicklungen spielen einer Mobilitätswende in die Karten?

Die alte Trias der ökologisch orientierten Verkehrspolitik aus den 80er Jahren – vermeiden, verlagern, verbessern – ist immer noch eine gute Leitorientierung, aber sie muss neu interpretiert und erweitert werden. Gegenwartsentwicklungen wie die Digitalisierung, die gesundheitsorientierte und aktive Mobilität (Zufußgehen und Radfahren), die Elektromobilität, die Tendenz zum »Nutzen statt Besitzen« (Carsharing, Bikesharing, Ridesharing) sowie möglicherweise das autonome Fahren oder dessen Teilrealisierung in bestimmten Anwendungsbereichen, all dies kann das Spielfeld der Mobilitätspolitik stark verändern und auch die etablierten Akteure unter Druck setzen – die Automobilkonzerne, die öffentlichen Verkehrsbetriebe und die Verkehrspolitik selbst.

Verkehrsvermeidung

Die zentralen Stellschrauben der Verkehrsvermeidung im Personenverkehr sind Stadtentwicklung und Raumplanung, ökologisch wahre Mobilitätspreise und gemeinschaftliche Nutzungsformen des Automobils. Stadtentwicklung und Raumplanung haben dafür zu sorgen, dass Zwangsverkehre soweit wie möglich abgebaut werden bzw. gar nicht erst entstehen, indem sie die Lebensbereiche Wohnen, Arbeiten, Einkaufen, Lernen, Kultur, Gastronomie, Sport und Erholung gut durchmischen. Zentral sind im Stadtbereich auch die Immobilien(preis)politik und das Grünflächenmanagement. Schöne, funktional durchmischte, grüne und vitale Städte mit hoher Aufenthaltsqualität im öffentlichen Raum sowie finanziell erschwingliche Immobilienpreise und bezahlbare Mieten wirken tendenziell in Richtung Verkehrsvermeidung.

Das Gleiche tun ökologisch reelle Preise, weshalb die CO2-Besteuerung von Kraftstoffen essenziell ist. Sie sollte – wie ähnlich schon zwischen 1999 und 2003 unter Rot-Grün – schrittweise eingeführt werden, wobei das Aufkommen diesmal für sozialen Ausgleich und den Ausbau des ÖPNV zu verwenden wäre.

Das immer häufiger über Apps vermittelte Car- und Ridesharing bietet ein großes Potenzial, um Fahrten zu vermeiden und Emissionen einzusparen, da die Auslastung der Fahrzeugflotte durch Gemeinschaftsnutzung deutlich erhöht wird. Jede Stadt muss dabei für sich entscheiden, ob sie eher auf stationsbasierte Sharing-Modelle oder eher auf flexible Konzepte setzen will. Bei älteren Menschen, die in der Logik der automobilen Gesellschaft aufgewachsen sind und das eigene Automobil noch mit Statusgedanken verbinden, wird die Tendenz zum »Nutzen statt Besitzen« wahrscheinlich schwächer ausfallen, bei jungen und internetaffinen Menschen aber umso stärker. Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass das eigene Automobil im ländlichen Raum einen höheren Stellenwert behalten wird als im Ballungsraum. Hier bietet aber die Bildung von Fahrgemeinschaften ein enormes Klimaschutzpotenzial.

Das zur Verkehrsvermeidung Gesagte gilt noch stärker für den Güterverkehr. Ökologisch reelle Transportpreise führen zu einer tendenziellen Re-Regionalisierung und De-Globalisierung von Logistikketten und tragen so erheblich zur Emissionsminderung bei.

Verkehrsverlagerung

Die Agenda der Verkehrsverlagerung wurde lange Zeit als bloße Verschiebung von Straßenverkehr auf die Schiene verstanden, also etwa vom Auto auf Bus und Bahn oder vom Lkw auf den Güterzug oder das Binnenschiff. Dieser Verlagerungsansatz ist und bleibt wichtig, weshalb vor allem die Bedingungen für ÖPNV und Bahn in jeder Hinsicht verbessert werden müssen. Konkret heißt das u. a., dass im Zuge der Gemeindeverkehrsfinanzierung und der Verkehrswegeplanung von Bund und Ländern eine starke Konzentration auf die öffentlichen und schienengebundenen Verkehre erfolgen muss.

Verkehrsverlagerung muss aber heute umfassender verstanden werden. Dabei rücken zwei Aspekte in den Vordergrund: die Verlagerung von motorisiertem Individualverkehr auf Fuß- und Radverkehr sowie die intermodale Mobilität, also die Schaffung von optimalen Übergängen und Schnittstellen zwischen den verschiedenen Verkehrsarten, was durch digitale Echtzeitinformationen ganz neue Möglichkeiten der Flussoptimierung schafft.

Fuß- und Radverkehr sind nicht nur die klimaverträglichsten Formen der Fortbewegung, sondern auch die stadtverträglichsten und gesündesten. Viele Städte in Europa und Nordamerika haben sich zum Ziel gesetzt, diese Formen der aktiven Mobilität zu begünstigen. Kopenhagen etwa will, dass schon in Kürze 50 % der innerstädtischen Wege mit dem Rad zurückgelegt werden und hat eine Fülle von Maßnahmen zur Erreichung dieses Ziels ergriffen: von Radspuren zu Lasten des Autoverkehrs bis zur Ausrichtung der Ampelschaltungen an den Bedürfnissen des Radverkehrs.

Denjenigen, die glauben, die Förderung von Fuß- und Radverkehr sei keine richtige Verkehrspolitik, sondern niedlicher »Öko-Schnickschnack« für die Nische, sei folgendes gesagt: Sieht man sich die internationalen Städterankings an, so sind fußgänger- und fahrradfreundliche Städte (mit gutem ÖPNV) immer ganz vorn mit dabei, während autogerechte Städte unter ferner liefen rangieren. Das sollte selbst Wirtschaftsförderern zu denken geben.

Neben der Unterstützung von ÖPNV, Fuß- und Radverkehr wird die intermodale Mobilität immer wichtiger. Viele Menschen sind mal Fußgänger, mal Radfahrer, mal ÖPNV-Nutzer, mal Autofahrer, Taxikunden oder nutzen Carsharing. Für sie ist entscheidend, zügig von A nach B zu gelangen, weshalb sie auf gut funktionierende Übergänge zwischen den Verkehrsträgern angewiesen sind. Die Integration von Verkehrsträgern und die Bereitstellung von Echtzeitinformationen zu ihrer intermodalen Nutzung sind zwei entscheidende Schlüssel einer gelingenden Verkehrswende. Wer sagt uns eigentlich, dass wir 2035 nicht alle eine Mobilitätskarte im Portemonnaie haben, mit der wir alle Verkehrsmittel nutzen können und die am Ende des Monats wie eine Kreditkarte abgerechnet wird? Neben Strom-, Mobilfunk-, Wasser- und Heizkostenrechnung gibt es dann eben auch eine Mobilitätsrechnung.

Verbesserung der Verkehrstechnik

Verfolgt man den Hauptstrom der gegenwärtigen verkehrspolitischen Debatte in Deutschland, kann leicht der Eindruck entstehen, das Elektroauto, idealerweise autonom fahrend und mit erneuerbaren Energien angetrieben, sei die Lösung all unserer Probleme. Das ist Unfug. Selbst wenn die offenen Fragen zu selbstfahrenden und »grünen« Elektroautos einmal zurückgestellt werden, etwa die nach Batterie- und Ladetechnik, nach Stromverfügbarkeit und Ressourcenbeanspruchung, nach Fußgängersicherheit und Cyberattacken, so ist doch evident, dass auch diese Autos Straßen und Parkplätze brauchen, erhebliche (Roll-)Geräusche erzeugen und Unfälle verursachen können.

Es mag ja sein, dass es in Richtung Elektromobilität und autonomes Fahren geht, obwohl es noch vor gar nicht langer Zeit hieß, dem Wasserstoffauto und der Brennstoffzelle gehöre die Zukunft. Und die deutschen Automobilkonzerne, ihre Zulieferer und ihre Gewerkschaften tun gut daran, diese Entwicklung aktiv zu begleiten, mitzugestalten und in ihre jeweilige Strategie einzubauen. Sonst werden Google, Uber & Co. die Verkehrswende auf ihre Art prägen. Jedenfalls sollte die deutsche Automobilindustrie nicht den gleichen Fehler machen wie die deutschen Stromkonzerne, die lange Zeit glaubten, neue Technologien ignorieren zu können und deshalb heute mit dem Rücken zur Wand stehen.

Aber bei der Verkehrswende gilt es grundsätzlich Abschied zu nehmen von dem Glauben, es gebe die eine »Durchbrecher-Technologie«, die uns aller Sorgen entledigt. Es gibt sie nicht. So gesehen ist die derzeitige Idealisierung von Elektroautos und selbstfahrenden Autos eher der Versuch, die Dominanz des Automobils festzuschreiben, statt endlich einzusehen, dass Mobilitätspolitik heute mehr sein muss: Zugänge für alle schaffen, Verkehrsträger verknüpfen, das Klima schützen, nachhaltige Technologien zum Einsatz bringen und neue Mobilitätsdienstleistungen entwickeln.

Zum Schluss noch ein Wort zur »unliebsamen Wahrheit« der Verkehrspolitik, vor der viele Verantwortungsträger einstweilen zurückschrecken: In diesem Politikfeld muss mit Ermöglichung und Begrenzung gleichermaßen gearbeitet werden, weil die Mobilitätswende ansonsten nicht gelingt. Wer nachhaltige Stadtentwicklung will, muss dem Fuß-, Rad- und öffentlichen Verkehr neue Möglichkeiten schaffen, aber auch das Auto in der Stadt zurückdrängen: durch Parkraumbewirtschaftung, Verkehrsflächenumwidmung und Geschwindigkeitsbegrenzungen. Wer das Klima schützen will, kann nicht nur die Schnellstrecken der Bahn ausbauen, sondern muss auch den Straßenneubau beenden, in die Bestandserhaltung investieren und auf den deutschen Autobahnen ein allgemeines Tempolimit von höchstens 130 km/h einführen. Wer will, dass verbrauchsarme Autos an die Stelle der tonnenschweren SUVs treten, muss das Dienstwagenprivileg abschaffen und für angemessene Besteuerung sorgen. Kurz: Die Politik wird nicht ohne Konfliktbereitschaft gegenüber den Beharrungskräften auskommen. Und wir alle werden manche unserer Routinen ändern müssen. Aber wenn dies am Ende zu einer klimafreundlichen Mobilität für alle führt, wäre die Verkehrswende ein großer Gewinn mit überschaubaren Verlusten.

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