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Öffentlichkeit, Medien und Demokratie in der EU Kommunikative Kleinstaaterei überwinden

Wenn Europa, wie immer wieder behauptet wird, vor allem eine Idee ist – dann kommt es ganz wesentlich darauf an, wie über diese Idee gesprochen wird. Übersetzt heißt das für die aktuelle Europapolitik: Es ist ganz entscheidend, wie Debatten etwa über den intensiv diskutierten Grexit (das Ausscheiden Griechenlands aus der Eurozone infolge der Staatsschuldenkrise) oder über den nun eingetretenen EU-Austritt Großbritanniens (Brexit) verlaufen. Wenn Europaskeptiker auch aufgrund solcher »Erfolge« immer lauter die Grundsatzfrage nach der Legitimität einer europäischen Politik- und Entscheidungsebene stellen, hängt es ganz wesentlich auch an der Struktur und dem Verlauf der öffentlichen Debatte, ob sie irgendwann die Oberhand gewinnen und Europa und die Europäische Union irgendwann als eben gescheiterte Idee in den Geschichtsbüchern landen.

Vielfach wird gerade in europafreundlichen Kreisen beklagt, dass »die Medien« zu wenig oder zu negativ über Europapolitik berichten würden. Diese Sichtweise gibt es so ähnlich auch in der Kommunikationsforschung: Zum dort konstatierten europäischen »Kommunikationsdefizit« gehört allerdings vor allem der Umstand, dass die mediale Berichterstattung und Diskussion eine echte europäische Dimension oft vermissen lassen. Stattdessen wird vor allem aus nationaler Perspektive über europäische Politik gesprochen. Dabei ist es egal, ob es um die finanzielle Ebene geht wie zuletzt bei der Diskussion um Eurobonds, um die anderswo in der Union angeblich viel laxer gemessene Luftqualität oder die Maßnahmen im Kampf gegen das Coronavirus: Wozu braucht es die EU, wenn ohnehin die nationalen Staats- und Regierungschefs politische Probleme lösen? Und schon wird aus dem Kommunikations- ein Legitimationsdefizit.

In der Kommunikationswissenschaft werden die Bedingungen europapolitischer Debatten unter dem Stichwort europäische Öffentlichkeit erforscht. Daran arbeitet immer wieder auch die EU-Kommission, die nicht zuletzt mit dem von ihr gesponserten Sender Euronews und ihrer Linie eines liberalisierten europäischen Medienmarktes so etwas wie einen paneuropäischen Kommunikationsraum für ernsthafte europäische Debatten schaffen will. Leider ist das Ergebnis bislang ernüchternd: Eine europäische Öffentlichkeit, wie man sie etwa aus den Mitgliedstaaten kennt, gibt es nicht. Da hilft auch das Internet nicht weiter. Wegen gewachsener wirtschaftlicher und politischer Strukturen, sprachlicher Barrieren und träger Nutzungsgewohnheiten herrscht in Europa weiterhin kommunikative Kleinstaaterei.

Dass man diesen Befund nicht schulterzuckend hinnehmen muss, legt die Idee von der Europäisierung nahe. Wenn eine einheitliche europäische Öffentlichkeit derzeit noch eine Utopie darstellt, so könnten sich doch die nationalen Öffentlichkeiten europäisieren: etwas mehr europäisch gesinnte Berichterstattung hier, ein zunehmend transnationaler Fokus da – und schon ist man auch kommunikativ auf dem Pfad zu einer immer engeren Union. Dass Themen wie Klimaschutz oder Migration schon von der Definition her grenzüberschreitend zu verstehen sind, sollte ebenfalls helfen.

Die politischen und kommunikativen Impulse für eine solche Europäisierung infolge eines Post-Corona-Neustarts könnten und müssten aus Brüssel kommen. Hier befindet sich das Kraftzentrum der EU: Die maßgeblichen Entscheidungen werden im Berlaymont-Gebäude vorbereitet, dem Sitz der EU-Kommission – und auf der anderen Straßenseite im dortigen Ratsgebäude von den nationalen Spitzenpolitikern beschlossen, gemeinsam mit den Abgeordneten im nur wenige Gehminuten entfernten EU-Parlament. Die Beschlüsse wiederum werden von rund 1.000 dauerhaft akkreditierten Korrespondenten an die europäischen Bürgerinnen und Bürger kommuniziert.

Gemeinsam bilden diese Gruppen ein ganz besonderes Milieu, das einen genaueren Blick wert ist – weil just diese professionellen Europäer die Botschaften untereinander aushandeln, auf deren Grundlage sich das »Publikum« ganz maßgeblich ein Bild vom Zustand der Union und ihrer Politik bildet. Sie bewegen sich auf engstem Raum im Brüsseler Europaviertel und treffen sich Tag für Tag bei Pressekonferenzen, Hintergrundgesprächen, Arbeitsfrühstücken, von der Lobby gesponserten Mittag- und Abendessen, Interviewterminen und in vielen weiteren Konstellationen, bei denen stets derselbe Tausch stattfindet: Information gegen Öffentlichkeit.

Für meine Dissertation, die im Februar an der Freien Universität Berlin angenommen wurde und im Laufe des Jahres bei Nomos veröffentlicht wird, habe ich mehr als 300 dieser EU-Politiker und -Journalisten nach der Brüsseler Kommunikationskultur befragt: in welcher Rolle sie sich und die jeweils andere Gruppe sehen, was sie von ihrem Publikum denken, wie ihrer Meinung nach Europapolitik am besten zu kommunizieren sei und ob dabei eher die Politiker oder eher die Journalisten auf dem Fahrersitz Platz nehmen. Das ist wichtig, weil die meisten europäischen Bürgerinnen und Bürger auch in Zeiten von Blogs, YouTube und Social Media den »alten« Medien weiterhin das meiste Vertrauen entgegenbringen, wenn es um Politikberichterstattung geht. In letzter Konsequenz können deren Inhalte sogar Wahlentscheidungen beeinflussen, wie jüngst eine Studie zum Brexit-Abstimmungsverhalten im Raum Liverpool gezeigt hat. Dort wird die europafeindliche Sun wegen eines Skandals Ende der 80er Jahre seit Jahrzehnten nicht mehr gelesen – mit der Folge, dass die Menschen in dieser Gegend europafreundlicher sind.

Zurück nach Brüssel, wo Politiker und Journalisten aus aller Herren Länder zwar ein äußerst heterogenes Bild von Kommunikations- und Politikstilen abgeben. Doch weil jeder Mitgliedstaat nur einen Kommissar und maximal 96 Abgeordnete stellt, muss man als Politiker oder Journalist zwingend mit Leuten aus anderen Teilen Europas zusammenarbeiten. Deshalb gibt es in Brüssel einen Grundkonsens, wie Politiker und Journalisten trotz sprachlicher und kultureller Unterschiede miteinander sprechen und arbeiten können – eben eine gemeinsame Kommunikationskultur. Es gibt allgemein anerkannte und eingehaltene Regeln der Zusammenarbeit und ein gemeinsames Grundverständnis von effektiver Kommunikation. Dazu zählt die routinemäßig genutzte Strategie des »Leaking« innerhalb einer klar definierten Medienhierarchie. Soziale Medien gelten als ähnlich wichtiger Kanal wie der öffentlich-rechtliche Rundfunk, noch relevanter sind im Brüsseler Konsens aber die großen Tageszeitungen und auf EU-Politik spezialisierte Onlinemedien wie Politico. Diese und weitere Gemeinsamkeiten sprechen eindeutig für eine starke Europäisierung, wenngleich dieser Befund in einem international geprägten Arbeitsumfeld wie Brüssel geradezu zwingend erscheint.

Wenn »die in Brüssel« eine gelingende Kommunikation hinkriegen – warum schaffen es die anderen 450 Millionen Einwohner nicht? Die Gründe dafür spiegeln sich in den Ergebnissen meiner Befragung. Dass sich Politiker und Journalisten auch in Brüssel tendenziell zynisch gegenüberstehen, also von sich selbst das Beste behaupten und dem Gegenüber reinen Eigennutz in der Kommunikation unterstellen, spielt nur eine Nebenrolle. Gravierender ist beispielsweise das Publikumsbild der Brüsseler Eliten: Drei von vier Politikern und Journalisten glauben, dass gewöhnliche Bürger EU-Politik ohnehin nicht verstehen. Man traut dem Publikum also wenig zu. Vielleicht ist es auch deshalb Konsens unter den Befragten, dass Nachrichten aus Brüssel nur verstanden werden, wenn man sie aus einer nationalen Perspektive erzählt. Dass das dem Kern der europäischen Politik nicht gerecht wird, liegt auf der Hand. Es verwundert nicht, dass fast alle Politiker und Journalisten in Brüssel diese Art der Berichterstattung eigentlich ablehnen. Aber sie glauben eben auch, dass ihr Publikum genau das erwartet – ebenso wie die heimischen Redaktionen. Und am Ende spricht in der Tagesschau vor allem Angela Merkel und im französischen Fernsehen Emmanuel Macron.

Die Politiker spielen bei alledem natürlich gerne mit. Warum sollten die nationalen Spitzenpolitiker nicht die Gelegenheit nutzen und nach jedem der vielen Gipfeltreffen ihre Sicht der Dinge in die Schlagzeilen tragen? Zumal, auch das ist ein Ergebnis meiner Befragung, in Brüssel anders als phasenweise in nationalen Kontexten nicht Journalisten die Politiker vor sich hertreiben. Im Gegenteil: In Europa setzt die Politik die Agenda, die Medien folgen ihr zumeist.

Wie kann, wie sollte es also weitergehen mit dem europäischen Kommunikationsdefizit? Es hilft wenig, neidvoll auf jene kleine, europäisierte Elitenöffentlichkeit zu blicken, die sich um Medien wie Politico oder die Financial Times gebildet hat. Deren Publikum besteht fast durchweg aus hoch gebildeten, kosmopolitischen Politik-, Wirtschafts- und sonstigen Entscheidern und hat mit der europäischen Gesellschaft in all ihrer Vielfalt nur wenig gemein. Auch lassen sich die Strukturen der weiterhin überwiegend national verfassten Öffentlichkeiten nicht auf die Schnelle ändern. Stattdessen ist der Weg einer graduellen Europäisierung der richtige. Entscheidend dabei: Der Impuls dafür muss von der Politik kommen.

Zwar ist es alles andere als gesichert, dass die Politikerinnen und Politiker eine »europäischere« Politikdebatte wollen – schließlich kommen sogar EU-Abgeordnete bislang über national bestimmte Wahllisten ins Amt. Wenn es der Politik aber ernst ist mit der Überwindung des europäischen Kommunikations- und Legitimationsdefizits, dann muss sie jetzt handeln. Die Vorschläge liegen längst auf dem Tisch: Die EU-Kommission könnte auch jenseits des gescheiterten Spitzenkandidaten-Systems direkt gewählt werden und EU-Abgeordnete über europaweite Listen ins Parlament einziehen. Das politische Personal der EU und aus den Mitgliedstaaten dürfte nicht wie bislang Journalisten aus dem eigenen Land häufiger ansprechen als andere. Politiker müssen den »nationalen Dreh« in der politischen Kommunikation so gut es geht vermeiden und Europapolitik stattdessen auch im Fernsehen und in der Zeitung aus einer gesamteuropäischen Perspektive diskutieren. Wenn das irgendwer problemlos könnte, dann das Brüsseler Politikpersonal. Doch man wird dieses Potenzial nur nutzen können, wenn auch politisch das Verhältnis von europäischer und nationaler Ebene neu austariert wird – eben hin zu mehr Europa, mit mehr Kompetenzen für die EU. Das mag in der aktuellen Lage schwerfallen, ist aber weiterhin der Königsweg – nicht zuletzt, weil in europäisierten Politikfeldern auch die politischen Debatten eine tendenziell stärkere europäische Perspektive einnehmen.

Dass Europapolitik »besser« im Sinne von »positiver« kommuniziert werden müsse, ist derweil ein Irrglaube. Die Dominanz der unkritischen Europapatrioten in Brüssel ist längst vorbei, und das ist kein Problem. Ideenwettbewerb und Meinungsvielfalt tun jeder Demokratie gut. Das Erstarken der Europaskeptiker und die schrillen Töne der Populisten haben zumindest geholfen, die Diskussion über Europa und die EU zu entstauben. Sie haben sie spannender gemacht: Es geht jetzt um nicht weniger als den Fortbestand der vielbeschworenen Idee vom geeinten Europa.

Umso wichtiger ist es, dass die Bedeutung von Berichterstattung und Debatte erkannt wird und die gemäßigten politischen Kräfte die nächste Europäisierungsstufe zünden. Die Medien werden folgen. Dass eine Verständigung über Sprach- und Kulturbarrieren hinweg bestens funktionieren kann, machen die Politiker und Journalisten in Brüssel täglich vor. Das kann man studieren und daran kann man anknüpfen – und zwar bevor es zu spät ist.

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