Eigentlich ist ja immer Beethoven-Jahr. Kaum ein anderer Komponist ist so präsent in unserem Konzertleben und in unserem Kulturbewusstsein. Seine Musik lässt keinen kalt. Gar nicht so einfach, der Geburtstagsfeier des musikalischen »Alle Menschen werden Brüder«-Botschafters – mit den Worten der Kulturstaatsministerin eine »nationale Aufgabe« – auch noch unter Corona-bedingten Einschränkungen besonderen Glanz zu verleihen. Immerhin platzierte die deutsche EU-Ratspräsidentschaft den Musiktitanen mit einer Ausstellung in Brüssel und ließ nicht nur den »An die Freude«-Schlusschor der 9. Symphonie als »Europa-Hymne« erklingen, sondern gleich das ganze Werk. 2017 beim G20‑Gipfel in Hamburg wünschte sich Angela Merkel Beethovens Neunte in der Elbphilharmonie. Diese Musik sollte nicht, wie damals oft unterstellt, der Unterhaltung oder gar Feier der anwesenden Politiker dienen. Vielmehr bekamen nationale Egozentriker wie Donald Trump oder Wladimir Putin zu hören, was sie nicht hören wollten: »Alle Menschen werden Brüder«. Zum politischen Symbol der Wende wurde ein Konzert mit Beethovens Neunter im Berliner Konzerthaus am Gendarmenmarkt im Dezember 1989, also unmittelbar nach dem Mauerfall. Stardirigent Leonard Bernstein vereinte dafür Musiker aus Ost und West in einem Orchester. Und am Ende des in 20 Länder übertragenen Konzerts ließ er den Schlusschor aus aktuellem Anlass »Freiheit schöner Götterfunken« statt »Freude schöner Götterfunken« singen.
Beethovens symphonische Monumente wie die Neunte wurden im Laufe der Geschichte in ganz unterschiedlichen politischen Kontexten gedeutet und genutzt. So erklang das Werk 1942 am Abend vor Hitlers Geburtstag unter der Stabführung Wilhelm Furtwänglers in Berlin, während in den Konzentrationslagern das Morden industrielle Ausmaße annahm. Überhaupt hat die politische Vereinnahmung dieser Symphonie eine wechselvolle Geschichte. Als Komponist mit Nähe zur Arbeitermusikbewegung zählte Hanns Eisler sie in der Zeit der Weimarer Republik zum kulturellen Besitz der »aufsteigenden Arbeiterklasse«. Für das Zentralorgan der KPD, der Roten Fahne sollte das Werk gar »den Millionenmassen der bis dahin Unterdrückten zujauchzen: ›Seid umschlungen, Millionen‹«. Schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in der Zeit des Vormärz, feierte die Neue Zeitschrift für Musik die Neunte und ihren Komponisten als Symbol der »Freiheit und Gleichheit, Emancipation der Völker Stände und Individuen«, ja sah in dem Werk »unbedingte Hingebung an die Menschheit, dieser ächte Socialismus, wie ihn Beethoven zuerst ausgesprochen hat«. In Dresden studierte Richard Wagner die Neunte kurz nach den Barrikadenkämpfen des Mai 1849 ein, und zwar mit keinem Geringeren als dem russischen Anarchisten Michail Bakunin als Gast der Generalprobe. Dieser ermunterte anschließend die Orchestermitglieder, im nahenden Weltenbrand ihr Leben für die Symphonie zu wagen.
Die politische Deutungsgeschichte der Neunten hatte aber nicht nur demokratisch-linke oder sozialistische Stationen. So druckte die Zeitschrift Die Musik Anfang des Ersten Weltkriegs einen Feldpostbrief mit der Aufforderung »den grossen deutschen Freudenhymnus anzustimmen: Seid umschlungen, Millionen«. Der Musikologe Herrmann Abert konstatierte pathetisch, dass Beethovens »Kampf- und Heldensinfonien«, der »Erzklang in Beethovens Kunst« alle anderen übertönen würde. Die Nationalsozialisten kürten den Komponisten zum Symbol deutscher Selbstbehauptung und für die Zeitschrift für Musik war es 1938 bei den Düsseldorfer »Reichsmusiktagen« selbstverständlich, »die große deutsche Musik der Vergangenheit in erster Linie durch Beethovens Neunte Sinfonie repräsentieren zu lassen«. Dabei passte die Botschaft »Alle Menschen werden Brüder« so gar nicht zur Ideologie des Dritten Reichs, was Hanns Eisler im selben Jahr zu der ironischen Ergänzung »mit Ausnahme der Juden, der Neger und vieler anderer« bewegte.
Besonders das schon im 19. Jahrhundert mit Beethovens Musik verbundene Deutungsmuster »per aspera ad astra« oder »durch Kampf zum Sieg« wurde bald nach der Machtergreifung in den Dienst der nationalsozialistischen Ideologie gestellt. So deutete 1934 Arnold Schering, einer der damals führenden Musikwissenschaftler, Beethovens Fünfte als »Symphonie der nationalen Erhebung« und bemühte in diesem Zusammenhang das Bild »des Existenzkampfes eines Volkes, das einen Führer sucht und endlich findet«. Im Zweiten Weltkrieg soll die 5. Symphonie zum Durchhalten bis zum »Endsieg« animieren. Die Radiozeitung der NSDAP schrieb zu einer Beethoven-Konzertübertragung im Reichsrundfunk: „(…) wir fühlen uns unter den Schicksalshämmern, die wir zu hören meinen, verpflichtet hart zu werden«.
Beansprucht wurde die sogenannte Schicksalssymphonie aber auch von der Gegenseite. So erklang das charakteristische »TaTaTaTaaa« als symbolträchtiger Radio-Jingle bei der englischen BBC. Der Rhythmus des Anfangsmotivs bildete auch das Morsezeichen »V«, das für Victory im Krieg gegen Deutschland stand. Geradezu infam wurde Beethovens heroisches »per aspera ad astra«, der Appell zum Kämpfen, Durchhalten und Überwinden schließlich von den Nazis noch angesichts der totalen Niederlage für ihre »Endsieg«-Propaganda instrumentalisiert. Dabei symbolisiert Beethovens Musik doch auch die tiefe Sehnsucht nach Frieden, wie sie etwa ganz unmittelbar im »Dona nobis pacem« der Missa Solemnis zum Ausdruck kommt.
Ludwig van Beethoven wuchs in seiner Geburtsstadt Bonn, unter der Regentschaft des aufgeklärten Kurfürsten Maximilian Franz, zum gebildeten, an humanistischen Ideen und moralischen Werten orientierten Bürger heran. Einen großen Einfluss auf seine Entwicklung hatten auch die inspirierenden Ideale Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit der Französischen Revolution von 1789. Schon in jungen Jahren wollte Beethoven seinen Teil dazu beitragen, die Menschen ethisch, ästhetisch und politisch zu veredeln. Wie Hölderlin und Hegel wurde er 1770 in ein Aufbruchsklima hinein geboren, mit der Emphase einer moralischen Selbstbestimmung und mit einem neuen Menschenbild wie es etwa in den literarischen Werken Goethes und Schillers zum Vorschein kam. In diesem Kontext lässt sich Beethovens Musik durchaus als geistiger Ausdruck seiner Zeit verstehen. So wehrt sich zum Beispiel in seiner Befreiungsoper Fidelio Leonore als mutige und selbstbestimmte Frau erfolgreich gegen eine ungerechte, willkürliche und gewalttätige Herrschaft. Trotz seiner Begeisterung für die Französische Revolution wäre der deutsche Tondichter nicht selber gegen das feudale System aufgestanden, von dem er finanziell und gesellschaftlich profitierte. Anekdoten zufolge weigerte sich Beethoven in adliger Runde allerdings so manches Mal, etwas zu deren Unterhaltung am Klavier beizutragen und verweigerte so seine Unterordnung. Eine Darbietung vor unaufmerksamen Zuhörern soll er sogar mit den Worten »für solche Schweine spiele ich nicht« abgebrochen haben.
Zu seinen Idealen gehörten eine unverbrüchliche Tugend- und Heldenhaftigkeit sowie ein sich Behaupten und über sich hinaus Wachsen. Während der Niederschrift seines berühmten »Heiligenstädter Testaments« formulierte er das heroische Motto »ich will dem Schicksal in den Rachen greifen, ganz niederbeugen soll es mich gewiss nicht«. Nicht zuletzt hatte die Allgegenwart des Krieges in seiner Zeit Einfluss auf diese Haltung. Kriegshelden galten als Vorbilder, was sich auch in Kompositionen Beethovens wie Wellingtons Sieg spiegelt. Darüber hinaus wurden viele seiner irritierend grenzüberschreitenden Werke als »Avantgarde« bezeichnet – ursprünglich ein Begriff aus der Sphäre des Militärischen für diejenigen, die vorausgehen.
Ja, Beethoven lässt sich als Avantgardist charakterisieren, und das in ästhetischer wie ethischer Hinsicht. Angefangen vom ersten Klaviertrio über die Zyklen der neun Symphonien und 32 Klaviersonaten bis hin zu den letzten Streichquartetten verbindet sein Werk ein einzigartiger Ausdrucks- und Formwille, eine utopisch-visionäre Kraft. Für den Musikphilosophen Theodor W. Adorno war Beethovens Œuvre gar »Prototyp einer ihrer gesellschaftlichen Bevormundung entronnenen, ästhetisch voll autonomen, nicht länger bediensteten Musik«. Adornos besonderes Interesse galt musikalischen Ausnahmefiguren wie Beethoven, die in widriger Zeit zu eigenem Ausdruck derselben fanden. Wenn er in seinem Fragment gebliebenen Buch Beethoven. Philosophie der Musik über den Komponisten schreibt, dann identifiziert er dessen Kompositionstechnik mit der Vereinigungskraft des Hegelschen Systems, wo trotz aller Freiheiten die unterschiedlichen Elemente in ein Ganzes überführt werden. Darüber hinaus verweisen Beethoven-Werke wie die späten Streichquartette mit ihrer Gebrochenheit und ihren fragil-elegischen Melodien für Adorno auch auf die innere Not, die der Aufbruchsstimmung folgte. Vom Hochgefühl in Beethovens Eroica, von Hegels Idealismus einer versöhnten Totalität in der bürgerlichen Gesellschaft bleibt in Beethovens Spätwerk oft nicht viel mehr als ein brüchiges Zerrbild. Adorno zufolge hat gerade solche Musik ästhetische und geschichtliche Wahrheit, welche die gesellschaftlichen Antagonismen nicht verschleiert, nicht falsche Harmonie vortäuscht, sondern die Negativität zum Ausdruck bringt. Wahre Musik lässt sich nicht in den Dienst der Unterhaltung nehmen. Sie enthält sich aller Beschönigungen und wird so zum Refugium einer unverstellten Wahrheit und Freiheit. Deshalb haben Beethovens Werke für Adorno »Erkenntnischarakter«.
Gerade für unsere Zeit hält Beethovens Musik einen großen Reichtum an Wahrnehmungen, Gefühlen und Gedanken bereit. Ja sie kann subversive Potenziale entfalten, den Rhythmus des Funktionierens unterbrechen und Sinnfragen stellen, die über das scheinbar Selbstverständliche hinaus neue Horizonte öffnen. Sie kann zur Freiheit verführen und zur Veränderung aufrufen. Beethoven, der Komponist der Freiheit, der leidenschaftliche Aufklärer und dionysische Ekstatiker, der Massen bewegende Großtöner und verinnerlichte Romantiker, polternde Exzentriker und nach den Sternen greifende Visionär – er wird uns auch in Zukunft nicht kalt lassen.
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