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© picture alliance / imageBROKER | Bernard Jaubert

Warum eine Gesellschaft divers sein kann, aber nicht gespalten sein muss Konfliktfähig

Die moderne Gesellschaft gibt Konflikten einen großen Raum. Dissens ist vielerorts erwünscht und wird jedenfalls nicht um jeden Preis unterdrückt. Der Konflikt zwischen Regierung und Opposition ist ebenso institutionalisiert, wie der zwischen den Tarifparteien, die etablierte Meinungsfreiheit sorgt für Konflikte ebenso wie das Rechtssystem, das die Bürger mit guten Gründen für Streit ausstattet, um danach selbst über die Streitfälle zu entscheiden. Ehescheidungen sind rechtens, und seit sie nicht mehr durch Schuldnachweise erschwert sind kommen sie häufiger vor.

Zugleich verfügt die moderne Gesellschaft über eine Reihe von Einrichtungen, die verhindern, dass der Zusammenhalt in ihr nicht den vielen Konflikten, die sie zulässt, zum Opfer fällt.

Als erste solche Einrichtung ist die Indifferenz aufgrund von Arbeitsteilung und Rollentrennung zu nennen. Ein Paar streitet, es streitet so heftig, dass es zerfällt. Nun teilt sich mitunter der zuvor gemeinsame Freundeskreis auf, die einen halten es mehr mit der Frau, die anderen mehr mit dem Mann. Doch der Bäcker und das Finanzamt machen dabei nicht mit. Sie werden keine Partei im Streit ergreifen und etwa der Frau keine Brötchen mehr verkaufen oder die Steuererklärung des Mannes nachsichtiger beurteilen.

Das gilt auch für andere Konflikte. Es gibt keine protestantischen Brötchen, die an Katholiken oder Muslime nicht verkauft werden könnten. Und es gibt keine christdemokratischen Steuererklärungen, die von sozialdemokratischen Finanzbeamten legalerweise besonders behandelt würden. Der muslimische Polizist hat keinen Grund, einen Verdächtigen als Mitglied der eigenen Konfession zu behandeln anstatt als vermutlichen Straftäter. Umgekehrt begeht ein deutschstämmiger Polizist einen Rechtsbruch, wenn er »racial profiling« betreibt. Man würde es in unserer Gesellschaft merkwürdig finden, wenn jemand beim Arztbesuch sich zunächst einmal erkundigen würde, was der Mediziner wählt oder welcher Konfession die Ärztin angehört, bevor er sich behandeln lässt. Wer nach einem muslimischen, männlichen oder weißen Arzt ruft, muss mit der Rückfrage rechnen, ob er nicht lieber eine gute Ärztin haben möchte. Die Rollen sind indifferent angelegt was Konflikte angeht, die nichts zur Sache tun. Man kann sich beim Arzt über Diagnosen streiten und beim Bäcker über die Qualität der Ware, aber nicht über Ehen, Konfessionen, Parteien. Das hegt Konflikte ein.

Eine Ausnahme von dieser Einhegung eines Konflikts durch Rollentrennung ist festzuhalten. In kleinen Gemeinschaften, beispielsweise Dörfern, kann das Rollenverhalten allgemeinen moralischen Gesichtspunkten unterworfen werden. Hier mag also die konfessionelle oder politische Abweichung auffallen, und selbst Ehescheidungen mögen Konsequenzen beim Bäcker oder Arzt haben. Von amerikanischen Gemeinden ist bekannt, dass man sich in ihnen nicht als Wählerin der Demokraten zu erkennen geben kann, ohne negative Folgen im Alltagsleben befürchten zu müssen. Auch für Dörfer im bayerischen Wald oder rund um Jena würden wir vielleicht nicht die Hand dafür ins Feuer legen, dass sie frei von solchem Konfliktverhalten sind, das den Streit in einer Hinsicht auf viele anderen Hinsichten ausdehnt. Die Voraussetzung dafür ist eine doppelte: Man muss die Parteinahme beobachten können, und es darf keine Ausweichmöglichkeiten gegenüber den unsachlich agierenden Bäckern, Ärzten und sonstigen Mitmenschen geben.

Ein zweites Merkmal der modernen Gesellschaft, welches verhindert, dass ein besonderer Konflikt sie als ganze erfasst und spaltet, ist die Vielzahl der Konflikte, die es in ihr gibt. Je mehr Konfliktlinien nämlich existieren, desto unwahrscheinlicher ist es, dass sich die streitenden Personen stets auf derselben Seite eines Konflikts befinden. Wir sind politisch anderer Ansicht als jemand, der wirtschaftlich genauso wie wir Arbeitnehmer ist. Wir sind zusammen mit Sozialdemokraten oder sogar Kommunisten Mitglied von Werder Bremen. Wir sind die Arbeitgeberin des eigenen geschiedenen Mannes. Wir gehören mit anderen Sündern derselben Kirche an.

Konflikteinhegung durch Rollentrennung

Anders formuliert: Wir streiten verlässlich mit Personen, die wir in anderen Konflikten auf unserer Seite oder wenigstens in einer neutralen Position sehen wollen. Auch das sorgt für eine Einhegung der Konflikte und sogar für ihre Mäßigung, denn wir können nicht beliebig intensiv mit jemandem streiten, den wir in anderen Konflikten auf unserer Seite benötigen. Um nur ein aktuelles Beispiel zu geben: Die Vertreter einer Quotierung von Vorstandspositionen in modernen Unternehmen müssen, um der Frauen willen, die sie vertreten, nicht nur gegen unsachliches Männerverhalten streiten, sondern müssen, um Quoten durchzubringen, sich auch an die unsachlichen Männer, sei es in Vorständen, sei es in Parlamenten, mit Appellen zur Kooperation wenden. Das steht einem schlichten Konflikt von Frauen gegen Männer, einem gesellschaftsweiten Geschlechterkampf im Wege.

Werfen wir jetzt einen Blick auf gespaltene Gesellschaften, die es gibt. Schauen wir beispielsweise nach Nordirland. In Belfast gibt es noch heute, mehr als zwanzig Jahre nach dem Ende des Bürgerkriegs, Mauern und Drahtzäune zwischen protestantischen und katholischen Vierteln. Man wohnt also konfessionell. Mehr als 90 Prozent aller Schüler wird in konfessionellen Schulen erzogen und begegnet bis zum Erwachsenenalter nur zufällig einem Kind oder Jugendlichen der anderen Konfession. Der Prozentsatz gemischtkonfessioneller Ehen lag 1994 um die sechs Prozent, heute soll er etwa zehn Prozent betragen; in Deutschland bewegt sich die Zahl bei einem Drittel aller Ehen.

Auch die Beschäftigung folgt vielfach den konfessionellen Linien. 13 Jahre nach dem Friedensabkommen gehörten in 40 Prozent aller Betriebe sieben von zehn Beschäftigten einer Konfession an. Nur 3,6 Prozent aller Protestanten arbeiteten in katholisch dominierten Firmen, immerhin 14,3 Prozent alle Katholiken in protestantisch geprägten. Die politischen Parteien folgen der konfessionellen Unterscheidung, so wie es vielerorts die Sportvereine tun.

Fanatismus wird politisch attraktiv

Tatsächliche soziale Spaltungen wie die in Nordirland sind oft durch einen sich verbreitenden Fanatismus gekennzeichnet. Er geht mit der Bereitschaft zu starken Abstraktionen einher. Ein Bezugsgesichtspunkt – die nordirische Unabhängigkeit oder der Verbleib im Königreich – macht von konkreten Beziehungen unabhängig, weil er es erlaubt, Argumente und Partner zu substituieren. Hauptsache, sie dienen dem Gesamtzweck.

Dadurch wird man gleichgültig in der Frage, was man um der Identifikation willen zu tun oder zu leiden hat. Es erweitert sich so die aktive wie die passive Opferbereitschaft. Hinzu kommt ein Fetischismus, der sich mit irgendetwas Konkretem aus dem Gedächtnisvorrat des Konflikts identifiziert: diese Fahne, diese Parade, diese Straßenzüge, diese Schlacht.

Das macht den Fanatismus politisch attraktiv. Eine Gruppierung, der es gelingt, ihn in Dienst zu nehmen, wird in der Auswahl ihrer Programme von den Interessen ihrer Unterstützer relativ unabhängig. Sie kann ihnen erhebliche Nachteile in anderen Rollenbereichen abfordern, kann im Grenzfall sogar Kriege anzetteln oder wirtschaftliche Katastrophen zumuten. Wichtige Vorteile gegenüber einem Gegner, der damit rechnen muss, dass seine Anhänger ihn ersetzen könnten, und der sich darum auf eine Politik der Erfüllung von wirklichen oder vermeintlichen Wählerwünschen spezialisiert.

Schon der Nationalismus – »Right or wrong, my country« – wurde nach diesem Muster aufgezogen, und auch die Nachfolgefetischismen auf ethnischer und religiöser Grundlage, die ihn unterdessen abgelöst haben, verdanken ihre politische Attraktivität einer durch sie erwirkten Generalisierung der Folgebereitschaft. Die Unterstützung für politische Fanatiker kann darum nicht mehr nur aus Interessenlagen, sozialer Benachteiligung oder typischer Unterschichterfahrung erklärt werden. In einer Gesellschaft, die auf Rollen, nicht auf Personen beruht, sind persönliche Identifikationen mit wirklichen oder vermeintlichen Gruppen dazu verurteilt, abstrakt zu bleiben. Man kann nicht sein ganzes soziales Leben als Deutscher, als Parteimitglied, als fromme Muslima oder als Insasse der linksalternativen Szene führen. Bei aller ethnischen, religiösen oder ideologischen Fremdenfeindlichkeit – die Kommunikation mit den jeweils Abzulehnenden kann nicht vermieden werden.

Allerdings kann sie, vor allem in überschaubaren Verhältnissen, feindselig eingefärbt bleiben, und dazu trägt es bei, wenn über Familien und kommunale Gemeinschaften das Netzwerk der die Feindseligkeit bestätigenden Personen stark erweitert wird. Wenn in jeder Familie ein Opfer oder ein Täter im Bürgerkrieg benannt werden kann, überall Benachteiligte durch die Taten der anderen Seite namhaft sind und diese Benachteiligungen seit Langem schon an einem einzigen Rollenmerkmal wie beispielsweise dem der Konfession zu hängen scheinen, konkretisiert sich die Identifikation mit der Gruppe.

Es gibt zwar keine protestantischen Brötchen, aber wenn der Bäcker der Cousin von dem ist, dessen Attentat meine Nichte zum Opfer fiel, macht es mir das unmöglich, bei ihm einzukaufen. Die vergangenen Opfer werden zum Motiv und belegen die Geschichte der Diskriminierung. Man kann nicht sein ganzes Leben ausschließlich als irischer Katholik führen. Doch wird man über lange Zeiträume so behandelt, als sei man vor allem das und damit ein niederes Wesen ohne Anspruch auf gleiche Rechte, dann festigt das die Vorstellung, man sei zunächst und zumeist irischer Katholik. Ähnliche Muster sind in Ländern zu beobachten, in denen ebenfalls ein intensiver, gebietsübergreifender Gebrauch von ethnischen oder konfessionellen Unterscheidungen gemacht wird: Indien, Israel, Iran, Südafrika.

Die Schwelle zur Spaltung wird nicht überschritten

Die sozialen Konflikte in unseren Breiten sind weit davon entfernt, gesellschaftliche Spaltungen dieser Art hervorzubringen. Die Soziologen mögen mit einigem Aufwand noch Klassen identifizieren, aber ein Klassenbewusstsein gibt es so wenig wie einen Klassenkampf. Man kann sich Olaf Scholz nicht als Arbeiterführer vorstellen.

Auch andere Konflikte bringen es nicht zur politischen Organisation: Es gibt weder eine Migrantenpartei noch eine Frauenpartei, eine Armenpartei oder eine Landbewohnerpartei. Dafür gibt es Wechselwähler fast aller Arten. Wer der AfD die Fähigkeit zusprechen wollte, das Land politisch in Ost und West zu spalten, müsste berücksichtigen, dass bei der jüngsten Bundestagswahl etwa 70 Prozent ihrer Zweitstimmen aus dem Westen kamen. Dass es viele Bürger gibt, die weder einmal im Osten oder im Westen waren, ist zwar bedauerlich, beruht aber auf beiden Seiten nicht auf »No-go-Areas« und offen kommunizierter Diskriminierung.

Es gibt also starke Ungleichverteilungen – etwa des Einkommens, des Vermögens, der beruflichen Positionen und der Mobilität –, aber keine gegeneinander isolierten Parallelgesellschaften. Das gilt auch für jene großstädtischen Quartiere, die oft mit diesem Begriff beschrieben werden, sich aber bei näherem Hinschauen als äußerst inhomogene, nach beiden Seiten durchlässige und keineswegs einem »Ghetto« ähnelnde Gebilde erweisen.

Aus all diesen Überlegungen kommt man zu der Erkenntnis, dass die Spaltung der Gesellschaft mehr ein rhetorischer Topos ist als eine gesellschaftliche Wirklichkeit. In Wahlkämpfen – »Versöhnen statt Spalten«, »Freiheit statt Sozialismus« – wurde und wird er ebenso gerne eingesetzt wie in Talkshows und anderen massenmedialen Formaten. Dort dient er zur Überhöhung der eigenen Konfliktlinien, zur Übertreibung ihrer Bedeutung für das Ganze, zur Mobilisierung von Zustimmung. Das soll nicht heißen, es könnte gar keine Spaltung in modernen Gesellschaften geben. Beispiele dafür wurden erwähnt. Doch die allermeisten unserer Streitigkeiten haben, so bitter sie auch sein mögen, glücklicherweise nicht die Kraft, eine solche Spaltung herbeizuführen.

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