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© picture alliance / dpa | Ian Langsdon

Anmerkungen zu Ferdinand von Schirachs "Jeder Mensch" Konkrete Utopie

Wer etwas wagt, dem ist Häme gewiss. Insbesondere, so scheint es manchmal, in der dem Aufbruch abgeneigten, bedenkenschweren Bundesrepublik. Ein ehemaliger Bundeskanzler brachte angeblich in einem Bonmot zum Ausdruck, was in Deutschland allzu oft dominierende Denkweise ist: »Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen.« So ist auch das jüngste Projekt Ferdinand von Schirachs Jeder Mensch zuweilen mit Spott bedacht, treffender: lediglich beschrieben worden. Oftmals handelt es sich bei der von einigen vorgetragenen Aburteilung indes um bloße Oberflächenkritik.

Man darf wohl, um im juristischen Jargon zu bleiben, in dubio annehmen, dass ein versierter und hochreflektierter Autor und Jurist wie von Schirach, ebenso wie diejenigen, die ihn begleiten, sich der von vielen Seiten vorgebrachten Einwände wohl bewusst sind. Natürlich weiß einer der profiliertesten deutschen Umweltanwälte, dass es vom Bundesimmissionsschutzgesetz bis hin zur REACH-Verordnung und dem Pariser Klimaabkommen ein weitreichendes, ausdifferenziertes und multidimensionales Umweltrecht gibt. Natürlich wissen der Max-Planck-Direktor für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht und ein führender Staatsrechtslehrer an der Ludwig-Maximilians-Universität, dass die vorgeschlagenen Rechte partiell eine Doublette des existenten nationalen und europäischen Rechts sind. Natürlich weiß einer der renommiertesten Anwälte der Bundesrepublik, dass es auch so etwas wie »Überkonstitutionalisierung« gibt und die Welt nicht allein an dominanten Betonungen von Individualrechtspositionen genesen wird. Sie alle hätten von Schirach wohl davon abgebracht (wenn überhaupt nötig), diesen Ergänzungsvorschlag der Menschen- und Grundrechtsdokumente zu unterbreiten, wäre dem Projekt nicht eine Tiefendimension eigen. So verwundert einen die mitunter plumpe, rhetorikreiche Kritik in manchen Feuilletons, Blogbeiträgen und Kolumnen, die sich zuweilen in negatorisch-überheblicher Polemik erschöpfen. Sie sieht nicht, sie beschäftigt sich nicht ernsthaft mit dem tiefgründigeren Dahinter und Darüber der naturgemäß schirachschen Reflektiertheit des Anliegens.

Beabsichtigt sind vom Autor, seinen Begleitern und Unterzeichnern weder ein Substitut des gegenwärtigen Rechts noch ist die Schrift als Befund des Fehlenden zu lesen. Was Ferdinand von Schirach vorgelegt hat, ist, um den großen Philosophen des Überschreitens und Hinausreichens, Ernst Bloch, zu bemühen, eine »konkrete Utopie«, ein Beitrag zum »Noch-nicht-Sein«. Zugleich ist Schirachs Beitrag eine Gegenwartsdiagnose, eben mit »utopischem Überschuss«.

Von Schirach hat in den vorgelegten Artikeln die größten Herausforderungen der Gegenwart benannt, chartahaft auf wenige Zeilen konzentriert und als einklagbare Individualrechte konzipiert. Umweltschutz, diese in eine Vielzahl von Rechtsregimen fragmentierte Fundamentalbedingung allen Seins, wird von seinem umstrittenen Status als bloß objektives Politikziel, blasse Staatszielbestimmung oder dubioses Kollektivrecht zu einem wirkmächtigen Individualrecht konkretisiert, wie es derzeit vor zahlreichen Gerichten – meist ohne konkrete, positiv-rechtliche Grundlage – geltend gemacht wird.

Digitale Selbstbestimmung und Schutz gegen Ausforschung sowie Manipulation werden als Schild gegen das, was Shoshana Zuboff als »Surveillance Capitalism« analysiert und angeprangert hat, in Stellung gebracht. Der Schutz des genuin Humanen im Zeitalter der künstlichen Intelligenz findet sich im zweiten Satz dieses Absatzes. Wie zeitgemäß von Schirachs Vorschlag insofern ist, lässt sich an dem umfassenden Gutachten der Datenethikkommission der Bundesregierung (2019), dem erschöpfenden Bericht der Enquete-Kommission Künstliche Intelligenz des Bundestages (2020) und dem Verordnungsvorschlag der EU-Kommission (2021) ablesen. Die Essenz der ca. 1.000 Seiten findet sich gebündelt in sechs Worten des Artikel 3 Satz 2 in von Schirachs Entwurf niedergelegt.

Das Postulat der Wahrheit, der vierte Artikel, ist angesichts der Deformation des politischen Diskurses und der demokratischen Kultur in den letzten Jahren – auch und gerade in dem Land, das vielen als Wiege der liberalen Demokratie gilt – erforderlich. Die matten Pauschaleinwände gegenüber dem Wahrheitsbegriff, die jüngst gegen von Schirachs Anliegen erhoben worden sind, lassen allenfalls Unkenntnis erkennen, spielt dieser doch vom Strafrecht über das Verfassungsrecht, wie etwa Peter Häberle oder Uwe Volkmann gezeigt haben, bis hin zu Wahrheitskommissionen im Völkerrecht eine gewichtige Rolle. Niemand käme auf die Idee, diesen allein wegen der Bezugnahme auf den gewiss komplexen Wahrheitsbegriff ihre Legitimität oder Funktion abzusprechen.

Artikel 5 des Vorschlags gewährleistet sodann eine marktwirtschaftskonforme Globalisierungsgestaltung. Sie ist seit Dekaden überfällig. Der Vorschlag gäbe den vielzähligen, gegenwärtigen Instrumenten vom Lieferkettengesetz bis hin zu Corporate-Social-Responsibility-Labeln wie dem »Grünen Knopf« als Beitrag zu einer menschenrechtskonformen Welt eine normative Grundlage und prägnante Grundierung. Von Schirach und seine Berater wissen, dass Recht dann am effektivsten ist, wenn es unmittelbar einklagbar ist. So garantiert der letzte Artikel eine Klagemöglichkeit dieser ergänzenden Rechte vor den Europäischen Gerichten, die auch in der Vergangenheit der europäischen Idee konkrete Gestalt gegeben haben.

Die aufs Wesentliche reduzierte Sprache, mit der von Schirach die Herausforderungen der Gegenwart appellhaft und zukunftsweisend in ergänzenden Grundrechten formuliert hat, ist ebenso bemerkenswert wie gelungen. Manchmal sind es eher wenige, markige Zeilen, die ihrem Inhalt nach gar nicht so innovativ anmuten, als lange, unverständliche und technische, die Sache aber gewiss genauer abbildende Regelwerke, die Wirkung entfalten. Das weiß jeder Verfassungsjurist, wie auch, dass die normative Kraft gerade aus dem Abstrakten zu gewinnen ist. Man denke an den zunächst angefeindeten Menschenwürdesatz als Portalnorm des Grundgesetzes und seine Wirkmächtigkeit wie weltweite Rezeption. Auf das (noch) Unkonkrete kommt es an.

Was ist es also, was die Kritiker des Projekts zur zum Teil beißenden Kritik motiviert? Gewiss: Pathos, Narration und ein Quäntchen Naivität sind erkennbar und machen angreifbar. Aber sind diese nicht oftmals conditio sine qua non für Neues, Wirkmächtiges, der tiefere Grund der normativen Kraft? Kein Momentum aus dem Spröden. Die Kritik und der von Schirach vorgelegte Text liegen, so scheint es, auf zwei unterschiedlichen Ebenen. Man sollte ihn nicht als rein politischen, rechtswissenschaftlichen Text lesen und sich dann über Naivität ereifern. Von Schirach schreibt ja »unter dem Neigungswinkel seines Daseins« (Paul Celan). Warum sonst hätte er gegen Ende eine biografische Anmerkung angefügt? Er nennt es Entwurf und nimmt Vieles, was zuletzt beckmesserisch vorgebracht wurde, selbst vorweg.

Vollkommen verkannt oder gar ausgeblendet wird in der partiell eher destruktiven als konstruktiven Kritik an Jeder Mensch, das dem Impuls innewohnende, europäische, demokratische Potenzial. Die in Artikel 11 Absatz 4 des EU-Vertrags verankerte Bürgerinitiative fristet bislang ein Schattendasein. Von den 78 Initiativen waren die meisten ebenso unbekannt wie erfolglos. Vielleicht gelingt es Jeder Mensch, weil es ein alle betreffendes Fundamentalprogramm artikuliert, dieser löblichen Idee der direktdemokratischen Teilhabe Leben einzuhauchen und mehr europäische Einigkeit und europäische Öffentlichkeit zu stiften, nicht zuletzt Vertrauen in das europäische Projekt zu stärken. Dazu bedarf es freilich noch einer Transnationalisierung des schirachschen Vorschlags. Der Prozess der »Konferenz zur Zukunft Europas« mit der Auftaktveranstaltung am 9. Mai diesen Jahres und den folgenden vier Bürgerkonferenzen im weiteren Jahresverlauf bietet dazu eine ideale Plattform.

Auch in der Vergangenheit war denjenigen, die Neues gewagt und gefordert haben, mitunter Spott beschieden. Die Déclaration des Droits de l’Homme von 1789 ist von Jeremy Bentham einst als »nonsense upon stilts« bezeichnet worden, Olympe de Gouges kritisierte die maskuline Verengung, Karl Marx den bloßen Widerschein egoistisch-kapitalistischer Verhältnisse und Hannah Arendt später deren Wirkungslosigkeit. Hoffen wir, um jedes Menschen willen, dass auch von Schirachs von manchen jüngst gewissermaßen als »nonsense upon stilts« apostrophiertes Projekt letztlich ein ähnlicher Erfolg beschieden sein wird wie jenem frühen Menschenrechtsdokument, zu dem wir heute bewundernd auf- und zurückblicken.

Ferdinand von Schirach: Jeder Mensch. Luchterhand, München 2021, 32 S., 5 €.

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