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Bei Sibylle Bergs und Uwe Tellkamps neuen Werken steht am Ende Ratlosigkeit Kraftakte zur Erklärung der Welt

Beide Bücher haben das ganz große Ganze im Blick, auch wenn die Welt, die hier zugleich detailsüchtig und mit breitem Pinsel gemalt wird, bei Tellkamp auf eine kleine, muffige Welt begrenzt bleibt, während die Neuschweizerin Berg die Leserschaft wieder einmal in eine von Datenströmen durchpulste, dem endgültigen Kollaps entgegentaumelnde globalisierte Zukunftswelt versetzt.

Beide Bücher schüchtern den Leser von vornherein mit ihrem puren Umfang ein: Sibylle Berg bringt es auf 700, Tellkamp gar auf 900 Seiten. Im Grunde ist der erzählerische Rahmen bei beiden Büchern sogar noch weiter gesteckt. Sibylle Bergs RCE setzt dort an, wo der Vorgängerroman GRM Brainfuck aufhört und enthält am Ende den – für manches Ohr vielleicht drohend klingenden – Hinweis »Fortsetzung folgt«, und bei Tellkamp ist leicht zu erkennen, dass er mit diesem neuen Buch an den 2008 erschienenen Erfolgsroman Der Turm anschließt, der ja bekanntlich kurz vor dem Mauerfall mit einem Fortsetzung versprechenden Doppelpunkt endet.

Diese äußerlichen Merkmale der beiden Bücher rechtfertigen es natürlich nicht, sie zusammen in einer Rezension zu behandeln. Vielmehr geht es mir hier hauptsächlich darum, wie beide Autoren mit den frei floatenden Resten utopischen Denkens in unserer Gesellschaft umgehen, welches Bild unserer Welt sie vermitteln und wie sie sich thematisch und in ihrer Schreibweise unterscheiden.

»Irgendwann, später«

Sibylle Bergs Roman ist eine Mischung aus Dystopie und Utopie. Die Handlung spielt »irgendwann, später«, also in der sich schon heute abzeichnenden Zukunft, und diese Zukunft ist eine – leider ziemlich plausible – Fortschreibung aller politischen, ökologischen, sozialen und kulturellen Fehlentwicklungen, die wir heute um uns herum in der Welt beobachten können. Für die Autorin das logische Ergebnis einer alles beherrschenden Ideologie, die den Wettbewerb zur einzigen legitimem Gestaltungskraft erklärt, die die Digitalisierung aller Lebensbereiche als Weg des Heils betrachtet und alles, was sich nicht in Geld ausdrücken lässt, für irrelevant erklärt.

Der Roman beginnt mit einer eindringlichen Schilderung der erbärmlichen Existenz, die uns im »fortgeschrittenen Jahrtausend« erwartet.

»Irgendwann Später.

Liegt da ein Mann in seiner kalten Wohnung.

Na ja, Wohnung.

Also.

Da liegt er, in einem Bärchen-Pyjama, unter einer Gewichtsdecke – die ist neben Psychopharmaka, Singleplattformen und Alkohol, ein weiterer geldwerter Vorteil der codegesponserten Massenvereinsamung, statt eines Menschen oder Hundes decken die Leute sich mit kiloschweren Textilien zu.

Sie nennen es Kuscheln.«

Die Welt, in die Sibylle Berg den Leser führt, ist geprägt von Massenelend auf der einen und maßlosem Reichtum auf der anderen Seite, von der Ohnmacht der vielen und schrankenloser, aber am Ende auch sinnentleerter Macht weniger anderer. Feste Arbeitsplätze gibt es ebenso wenig wie feste soziale Bindungen, an die Stelle einer eigenen Wohnung ist für die meisten ein Schlafplatz getreten, den sie nicht selten mit anderen teilen müssen. Selbst in der Internetbranche, wo clevere junge Leute noch gebraucht werden, arbeiten meistens nur schlechtbezahlte Scheinselbstständige an Projekten, deren tieferer Sinn ihnen verborgen bleibt, die Überwachung der Bevölkerung ist total, die Medien vollständig in den Händen des Kapitals, eine ernsthafte gesellschaftliche Diskussion über die Zukunft, das Leben, über so etwas wie Sinn findet nicht statt.

Die Spaltung der Gesellschaft beschreibt Berg so: »Viele hielten den Mist (…) nicht mehr aus. Die Jungen nicht, weil sie keine Freiheiten hatten, außer funktionierende neoliberale kleine Maschinen zu werden, die Alten, also die Vierzehnjährigen, die alle den gleichen dumpfen Traum von einem Haus mit Garten geträumt hatten und sich in hässlicher Umgebung in der Jagd auf Nahrung wiederfanden, ohne dass eines der Versprechen des Kapitalismus eingelöst worden war.« Dagegen die Gewinner: »Der Milliardär lebte seit zehn Jahren in London und es war immer langweiliger geworden, denn es gab keine Gruppen mehr, in denen man sich traf oder feierte, keine gemeinsamen Sexparties mit den Arabern, oder Wodkanächte.

Es gab Angst. Und Krieg. Es war, auch in seinen Kreisen, unerfreulich geworden. Irgendeine Endzeitsache, in der jeder versuchte zusammenzuraffen, was möglich war. Der Milliardär würde bald verschwinden. Auf eine der schwimmenden Inseln, die gerade in Milliardärskreisen der neue Investmenthit waren.«

Ihre zahlreichen Figuren führt die Autorin jeweils mit einem kurzen Steckbrief nach Art der allmächtigen Überwachungsindustrie ein. Pedro zum Beispiel:

»Gesundheitszustand: vermutlich noch fünf Jahre

Kaufkraft: lächerlich

Politische Ausrichtung: Kommunist

Gefährderstufe: null.«

Oder Karen:

»Sexualität: heterosexuell

Intelligenz: hochbegabt

Krankheitsbild: Neigung zu Zwängen

Konsumverhalten: mangelhaft

Ethnie: Gendefekt

Familiärer Zusammenhang: zwei Brüder, alleinerziehende Mutter.«

Eine erkennbare Entwicklung lässt sich an den allermeisten Figuren des Romans nicht beobachten.

Die utopische Energie erschöpft sich

Aber in London leben auch Ben, Maggy, Rachel, Pjotr und Kemal, allesamt junge Nerds mit ungewöhnlichen Fähigkeiten im Umgang mit den alles lenkenden digitalen Systemen und mit ausgesprochen anarchistischen Neigungen. Was die vier vor allem auszeichnet, ist, dass sie zwar wie die meisten anderen ihrer Generation eine gewaltige Wut auf die Verhältnisse haben, aber diese Wut schließlich nicht länger tatenlos mit sich herumschleppen wollen. Sie überwinden ihre Lethargie und entwickeln einen Plan, wie man das weltweite System der medialen Manipulation gegen seine Erfinder und Nutznießer einsetzen und so eine gewaltig-gewaltlose Revolution auslösen kann. Über die nächsten 400 bis 500 Seiten wird nun mit aller Freude an den technischen Details der digitalen Welt geschildert, wie sie, inzwischen in einem Versteck im Tessin gelandet, zu Werke gehen. Die Revolution, die im Roman lediglich »das Ereignis« genannt wird, ist die Klimax auf die die Erzählung in atemlosem Stakkato hinführt.

Ob die von den jungen Hackern ausgelöste Revolution, die eher eine digital gesteuerte globale Sabotageaktion ist, tatsächlich die Welt verbessert, bleibt am Ende aber offen. Die Revolutionäre selbst sind sich da offenbar auch nicht sicher. Immerhin ist die Zerschlagung der alten Welt ohne Mord und Totschlag vonstattengegangen, weil die jungen Revolutionäre und ihre Komplizen alle digitalisierten Waffen und Waffensysteme von Polizei und Militär gehackt und per Remote Code Execution – daher der Titel RCE – lahmgelegt haben. »Das ist doch erstaunlich«, heißt es am Ende des Romans, »dass es keine Toten gibt, kaum Plünderungen, als ob Millionen einen Augenblick Pause vom Menschsein gemacht haben, von all dem Scheiß, den sie normalerweise machen (…).«

Und wie geht es nun weiter mit unserer Welt? Anarchisten, das wissen wir aus der Geschichte, waren noch nie besonders gut, wenn es nach der Revolution an den Aufbau der ganz anderen, der neuen Gesellschaft gehen sollte. Das Versprechen, dass die Nerds die Welt retten – wie der Titel eines früheren Buches der Autorin nahelegt – ist wohl doch nicht ganz ernst zu nehmen. Am Ende sieht es auch bei Sibylle Berg so aus, als habe sich die utopische Energie beim Niederreißen der alten Ordnung weitgehend erschöpft. Eine begeisternde Vision einer besseren Welt mag uns die Autorin nicht bieten. Es war halt ein »letzter Versuch«, den totalen Verlust allen Menschseins aufzuhalten. Alles, was die Revolutionäre, bevor sie sich erschöpft schlafen legen, noch denken können ist: »Aber vielleicht wird es diesmal besser.« Wie gesagt: Fortsetzung folgt.

Tellkamp im Pegida-Strudel

Auch Uwe Tellkamp zeichnet in seinem Buch Der Schlaf in den Uhren eine Welt, die von finsteren Mächten gesteuert wird. In einem aufgelassenen Bergwerk auf der Kohleninsel in Treva – so heißt bei Tellkamp eine deutsche Stadt (vermutlich Hamburg) und zuweilen auch das ganze vereinigte Deutschland – hat eine allmächtige Überwachungs- und Manipulationszentrale ihren Sitz, in der ehemalige Stasimitarbeiter und Vertreter der altneuen gesamtdeutschen Behörden gemeinsam an der Schaffung eines politisch korrekten Bildes der deutschen Realität zusammenwirken, ein Setting, das offenbar die verschwörungstheoretische Rede vom tiefen Staat veranschaulichen soll.

In diesem unterirdischen Behördenmonstrum ist es vor allem die vom Autor sogenannte »Tausendundeinenachtabteilung«, die Nachrichten sammelt und auswertet und dafür sorgt, dass diese in Medien und Verlagen im Sinne der Manipulation der öffentlichen Meinung zu stimmigen Narrativen verbunden werden. Diese Passagen des Buches sind oft nicht viel mehr als eine literarisch getarnte Übernahme der Pegida-Losung von der »Lügenpresse«. So heißt etwa wenig subtil der Spiegel bei Tellkamp Wahrheit und sein Begründer nicht Augstein, sondern »der alte Brandenstein«, dessen journalistisches Credo nicht wie beim echten Augstein lautet »Sagen, was ist«, sondern »Das Leben ist ein Roman. Wir schreiben ihn.«

Wie wichtig dem Autor diese, je nach Geschmack satirisch oder denunziatorisch zu nennende Medienkritik ist, sieht man daran, dass sie auch dort immer mal wieder in den Text eingestreut wird, wo es vermeintlich um ganz andere Dinge geht, vor allem dort, wo Teile des Personals aus dem Turm, freilich zumeist nur als flüchtiges Eigenzitat, wieder auftreten. Da ist unter anderen Fabian Hoffmann, als Filmvorführer eine Nebenfigur in dem früheren Roman, der in dem neuen Werk nun als Erzähler auftritt. Besondere Behandlung findet auch die Figur der Krankenschwester Anne Hoffmann aus dem Turm, die in dem neuen Roman ziemlich unvermittelt als trevische Bundeskanzlerin eingeführt wird, ohne dass ersichtlich wird, wie sie an diesen Posten gelangt sein könnte. Es scheint, dass ihr Auftritt hauptsächlich deswegen erfolgt, damit der Autor bei dieser Gelegenheit seine inzwischen hinlänglich bekannten rechtslastigen Ansichten zur deutsche Flüchtlingspolitik des ominösen Jahres 2015 und ganz allgemein über die Unfähigkeit der Kanzlerin Merkel unterbringen kann.

Es ist überhaupt ein Merkmal dieses Buches, das weder der Erzähler noch die meisten anderen Figuren aus dem Turm, die hier nun nach vierzehn Jahren wieder auftauchen, wirklich plastisch werden. Wer sie nicht aus der Lektüre des früheren Buches kennt, weiß nicht recht, mit wem er es zu tun hat, wer den Turm gelesen hat, wundert sich darüber, wie etwa die Krankenschwester Anne oder der Filmvorführer Fabian hier nun völlig unvermittelt als ganz andere Menschen wieder auftauchen. Wie die meisten anderen Personen in Tellkamps neuem Roman scheinen sie gar nicht um ihrer selbst willen und damit als erkennbare Charaktere im Text anwesend zu sein, sondern vor allem, um Ansichten und Wertungen zu transportieren und zu bezeugen, die dem Autor wichtig sind, die er aber hinterher möglichst nicht selbst geäußert haben möchte.

Im Grunde bleibt bei aller Detailsucht, die den Text auszeichnet, das ganze Personal des Romans nicht wirklich anschaulich, wird es nicht wirklich zum Leben erweckt. Der ganze verrätselte Roman mit seinen vielen kaum zu entwirrenden Handlungssträngen hat überhaupt etwas Defensives, man könnte auch sagen Rechthaberisches. Und vielleicht gehört zur Defensivstrategie ja auch die monströse Überlänge; denn da man davon ausgehen kann, dass nur wenige Leser die Strecke von über 900 Seiten schaffen werden, kann der Autor, wenn Kritik geübt wird, immer sagen: Wenn Sie den ganzen Roman gelesen hätten, hätten sie einen anderen, soll heißen, positiveren Eindruck bekommen.

Verwirrender Detailreichtum

Was an beiden Büchern, dem von Sibylle Berg ebenso wie dem von Uwe Tellkamp vor allem zu kritisieren wäre, ist, dass sie Gefahr laufen, an der schieren Fülle der Details, die sie meinen aufhäufen zu müssen, zu ersticken. Bei Berg sind es die vielen technischen Details aus der Welt des Internets, die sie in ihrem Text ausbreitet. In einer kurzen Nachbemerkung zu ihrem Roman schreibt sie: »Für dieses Buch habe ich mit weit über 100 Wissenschaftlerinnen und Nerds geredet, ihre Papers, Artikel und Bücher gelesen.« Leider, so könnte man der Autorin entgegenhalten, merkt man das als Leser dem Text auch allzu deutlich an.

In einem dreizehnseitigen Glossar führt sie am Ende des Buches zudem all jene Fachtermini aus der Welt der Nerds auf, die sie in ihrem Roman in verschwenderischer Fülle verwendet. Ob die Erklärungen, die in diesem Glossar gegeben werden, dem gemeinen Leser wirklich weiterhelfen, darf aber bezweifelt werden. Siehe das Stichwort Blockchain: »Dezentral organisierte Liste von kontinuierlich erweiterbaren Datensätzen, die in einzelnen Blöcken abgelegt und mittels kryptographischer Verfahren aneinandergehängt werden. Basis für Krytowährung oder Smart Contracts.« Wer nun unter den Begriffen Kryptowährung und Smart Contract nachschaut, wird schließlich wieder auf das Stichwort Blockchain verwiesen, was ihm auch nicht wirklich weiterhilft.

Bei Tellkamp ist es die auch bei anderen Autoren zuweilen zu beobachtende Unsitte, in die Erzählung endlose, in jedem Lexikon nachzulesende, für den Fortgang der Erzählung aber völlig unnötige Detailinformationen einzustreuen, die große Teile des Textes einfach nervig wirken lassen, so die Aufzählung aller Arten und Unterarten von Eulen, Faltern, Rasiermessern etc. Dazu kommt die auch für einen Roman dieser Überlänge ungewöhnlich große Zahl an Personen der Zeitgeschichte, die zumeist mit mehr oder weniger gelungenen Tarnnamen versehen sind. So tritt etwa Joachim Gauck als Pfarrer Gander auf, Hans Modrow als Barsano und die Brüder Lothar, Thomas und Andreas de Maizière unter dem Familiennamen Delanotte.

Warum aber Willy Brandt als einziger neben Wolf Biermann, Bärbel Bohley, Robert Havemann und anderen aus der Dissidentenszene mit Klarnamen genannt wird, nicht aber Helmut Kohl, der als »Mammut« leidlich komisch maskiert wird, und Angela Merkel, die, in die aus dem Turm übernommene Figur der Anne Hoffmann gesteckt, wiederkehren muss, bleibt ein Rätsel.

Es gibt auch Positives

Nach alldem fragt sich der Leser vielleicht: Wo bleibt das Positive? Irgendetwas an beiden Büchern muss doch auch fesselnd sein, zumindest für den, der nicht schon nach wenigen Seiten aufgibt, sondern viele Stunden darauf verwendet, sie zu lesen, womöglich sie in voller Länge (!) zu lesen. In der Tat finden sich in beiden Büchern Passagen und ganze Szenen, die nicht nur gut geschrieben, sondern auch emotional ergreifend und intellektuell erhellend sind. Auch gibt es Stellen, die durch Witz und Komik bestechen, bei Tellkamp zum Beispiel seine Schilderung der Erstürmung der Stasizentrale.

Bei Sibylle Berg wird an vielen Stellen deutlich, wie sehr ihre Sprache von den Inszenierungsmöglichkeiten des Theaters geprägt ist. Vielleicht noch wichtiger ist, dass bei ihr trotz aller Lust an der zugespitzten Inszenierung immer noch eine humanistische Grundüberzeugung erkennbar bleibt. Aber auch bei ihr wird allzu oft aufkommendes Lesevergnügen alsbald wieder erstickt, wenn die Handlung unvermittelt abbricht, neue Personen und neue Handlungsstränge angetippt werden und bald schon wieder im Nichts verlaufen.

Am Ende bleibt beim Leser beider Bücher ein Gefühl der Ratlosigkeit, bei Tellkamp das dumpfe Gefühl, dass die Welt, die er beschreibt eine von Ressentiments gespeiste und um ihre spärlichen besseren Ansätze betrogene Welt von gestern ist, bei Sibylle Berg die verzweifelte Erkenntnis, dass uns am »Ende des Anthropozäns« wohl nichts anderes bleibt, als unseren eigenen Untergang möglichst turbulent zu inszenieren.

Sibylle Berg: RCE. #RemoteCodeExecution. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2022, 704 S., 26 €. – Uwe Tellkamp. Der Schlaf in den Uhren. Suhrkamp, Berlin 2022, 904 S., 32 €.

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