Die deutsche Volkswirtschaft steht erkennbar am Scheideweg. 2024 ist das Bruttoinlandsprodukt um 0,2 Prozent zurückgegangen. In 2025 wird sie nur geringfügig, so die derzeitigen Prognosen wachsen. Während die einzelnen Werte nicht bedenklich sind, ist es der Trend sehr wohl: Während die deutsche Wirtschaft stagniert, wachsen die übrigen großen Volkswirtschaften meist deutlich. Dies hat – wie schon zur Jahrtausendwende – erneut eine Debatte ausgelöst, ob die Bundesrepublik sich zum »kranken Mann Europas« entwickele. Während dieses – auch von ideologiegetriebenen Verunglimpfungen der aktuellen Bundesregierung begleitete – Verdikt reichlich übertrieben erscheint, ist die konjunkturelle Stagnation doch ein Warnzeichen. Denn sie deutet daraufhin, dass die enormen wirtschaftlichen Schocks der vergangenen Jahre, von der Coronapandemie bis zur Energieknappheit und Hochinflation durch den russischen Überfall auf die Ukraine, ein grundsätzliches Problem des Geschäftsmodells der Bundesrepublik offenlegen: Funktioniert die Orientierung auf Exporte und Industrie noch?
Brüchige Meisterschaft
Die deutsche Volkswirtschaft hängt mit einer Exportquote von knapp 50 Prozent weit stärker von Ausfuhren ab als andere große Volkswirtschaften. Diese gern gelobte Exportweltmeisterschaft erwies sich als brüchig, als ab der Pandemie die ausgefransten Lieferketten rissen und deutsche Fabrikbänder stillstanden. Sie erweist sich aber auch als brüchig, wenn der weltweite Warenaustausch unter dem Ukraine-Krieg, dem britischen EU-Austritt oder dem Ringen Chinas und der USA um die globale Vorherrschaft leidet – und sich fundamental die Frage stellt, ob die in den 90er Jahren angebrochene zweite Ära der Globalisierung in ein Zeitalter wieder nationaleren Wirtschaftens übergeht.
Die Exportweltmeisterei wirkt auch gefährdet angesichts der Zweifel, ob deutsche Vorzeigeindustrien wie Automobil- und Maschinenbau bis zur Pharmaindustrie überhaupt global weiterhin so gefragt sein werden: Deutsche Hersteller hinken bei Elektroautos hinterher, chinesische Produzenten holen im Maschinenbau auf und andere Nationen bei der Produktion von Medikamenten. Was auch an mangelnder Innovation deutscher Firmen liegt. Die Konzerne tragen Namen wie Daimler, Siemens oder Bayer, was auf große Ideen ihrer Gründer hinweist, die aus dem 19. Jahrhundert datieren. Im Aktienindex Dax 40 finden sich mit SAP und Zalando nur zwei Firmen mit digitalen Geschäftsmodellen, während Schwergewichte im US-Börsenindex S&P wie Amazon, Apple oder Google Ideen aus jüngster Zeit geschäftlich ausbeuten.
Mangelnde Innovationskraft und hohe Energiekosten gefährden die industrielle Stärke Deutschlands.
Die deutsche Industrie stellt einen Großteil der Exporte. Gleichzeitig ist die Volkswirtschaft mit einem Anteil von rund 25 Prozent an der Wirtschaftsleistung weit stärker industriell geprägt als die USA, Japan, Großbritannien oder Frankreich. Das war bisher ein Vorteil. Auch, weil es gutbezahlte Arbeitsplätze sicherte, während der stärkere Strukturwandel zu Dienstleistungen in anderen Nationen oft eine Flut an schlechtbezahlten McJobs auslöste, begleitet von einem Stimmenhoch für Rechtspopulisten etwa im deindustrialisierten Rust Belt der USA oder in Nordfrankreich. Doch nun gefährdet mangelnde Innovationskraft die industrielle Stärke Deutschlands genauso wie es die seit dem Stopp von russischem Gas und Öl deutlich höheren Energiekosten im Vergleich zu Konkurrenten wie China und den USA tun. Die Chemieproduktion schrumpfte zeitweise um 20 Prozent gegenüber dem Vor-Ukrainekriegsniveau.
Das bisherige deutsche Erfolgsmodell basiert zu guten Teilen auf freien Exportmärkten, alten Ideen und billiger (fossiler) Energie. Das geht so nicht weiter. Dazu kommt die demografische Entwicklung, die durch Personalmangel das wirtschaftliche Wachstum auf ein Drittel des langjährigen Durchschnitts von 1,3 Prozent drücken könnte.
Das alles klingt zusammengenommen wie eine düstere Perspektive für den Wohlstand, an den sich die Deutschen gewöhnt haben. Ja, der wirtschaftliche Abstieg ist möglich. Aber er lässt sich verhindern. Durch verstärkte Anstrengungen der Unternehmen. Und durch einen wirtschaftspolitischen Neustart mit einer Reihe von Konzepten, wie sie auch in der SPD diskutiert, aber nicht unbedingt in der vorigen Ampelkoalition umgesetzt werden. Die Rede ist von Industriepolitik, Investitionsoffensive, Energiewende, Handelspolitik, EU-Vertiefung, Gerechtigkeit, Finanzwende, Migration, Gleichberechtigung und Bildung: zehn Vorschläge für eine bessere Zukunft des Landes.
Ende der ordoliberalen Nabelschau
Die Probleme der deutschen Industrie lassen sich gleich besser verstehen, wenn man sich klarmacht, dass Konkurrenten wie die USA und vor allem China ihre Unternehmen massiv subventionieren. Damit erledigt sich die ordoliberale Nabelschau, ob Deutschland da mitmachen soll oder nicht: Wer angesichts solcher Konkurrenz Erfolg haben will, muss in der aktuellen Ära die Innovation nicht überall, aber in vielversprechenden Industrien fördern, gerade in Klimatechnologie – so wie das die USA und China bei der E-Mobilität von Tesla, BYD und GWM vorgemacht haben.
»Moderne staatliche Industriepolitik fördert Forschung und Entwicklung und auch das Anlaufen der Produktion.«
Die Bundesrepublik war vor 15 Jahren führend bei der Solartechnik, bis man sich nationale Stars wie Solarworld, Solon und Q-Cells von subventionierten chinesischen Konkurrenten kaputtmachen ließ. Moderne staatliche Industriepolitik dagegen fördert massiv Forschung und Entwicklung, aber auch für eine gewisse Zeit das Anlaufen der Produktion – und erneuert dadurch sowohl das Ideenreservoir deutscher Firmen wie es exportfähige Produkte generiert. Um die Industriestärke zu sichern, bedarf es auch einer staatlichen Investitionsoffensive in die darniederliegende Infrastruktur, von Verkehrswegen über digitale Netze und die Verwaltung bis zu Bildungseinrichtungen, wovon im übrigen Unternehmen wie Bürger gleichermaßen profitieren.
Ein besonderer Schwerpunkt sollte dabei in einer Energiewende liegen, die fossile Importe durch erneuerbare Quellen ersetzt, um ehrgeizige Klimaziele zu erreichen, dauerhaft die Kosten energieintensiver Branchen wie der Chemie im Vergleich zur internationalen Konkurrenz zu begrenzen und unabhängig von Diktatoren in Russland, Katar oder sonstwo zu werden.
»Die Erneuerung der deutschen Exportstärke bedarf nicht nur guter Produkte, sondern auch offener Märkte.«
Die Erneuerung der deutschen Exportstärke bedarf nicht nur guter Produkte, sondern auch offener Märkte, für die sich die Bundesrepublik an die Spitze einer expansiven EU-Handelspolitik setzen sollte, die neue Abkommen wie Mercosur mit südamerikanischen Staaten durchsetzt und auf geopolitische Konflikte wie zwischen China und den USA mäßigend einwirkt. So viel für Exporte getan werden sollte, so wäre ein reines Festhalten an der bisherigen Abhängigkeit davon angesichts der weltpolitischen Entwicklungen doch naiv.
Die deutsche Wirtschaft bedarf zusätzlicher Quellen der Stärke. Diese könnten zum einen im engeren ökonomischen Austausch mit anderen EU-Staaten liegen, der sich durch eine EU-Vertiefungmittels einer Kapitalmarkt-, Digital- und Dienstleistungsunion erreichen ließe, die als Initialzündung für Prosperität wirkte wie einst die Schaffung des Binnenmarktes für Waren Anfang der 90er Jahre. Eine weitere Quelle der Stärke liegt in einer Steigerung der Binnenkaufkraft, die zu mehr Wachstum durch mehr Konsum führt. Erreicht wird dies durch eine Förderung gewerkschaftlicher Bemühungen um angemessene Bezahlung, vor allem aber durch eine durchgreifende Reform von Steuern und Sozialabgaben mit einem klaren Ziel: Mehr Netto für die Mittelschicht und Geringverdiener, dafür ein später greifender, höherer Spitzensteuersatz für Topverdiener und eine stärkere Belastung großer Vermögen und Erbschaften. Was eindeutig für mehr Gerechtigkeit in der Bundesrepublik sorgen würde, nachdem die Ungleichheit der Einkommen und Vermögen sowohl erschreckend hoch ist wie auch im längeren Zeitvergleich zugenommen hat.
Agenda gegen den wirtschaftlichen Abstieg
Während die Belastung Vermögender dem Staat Einnahmen bringen, kosten zahlreiche der hier unterbreiteten Vorschläge zunächst Geld, bevor sie Einnahmen generieren: Dies gilt für Industriepolitik genauso wie für staatliche Investitionen, eine Energiewende oder Steuer- und Abgabensenkungen für breite Bevölkerungsschichten. Eine Agenda gegen den wirtschaftlichen Abstieg hat also eine Finanzwende weg von Investitionshindernissen wie der grundgesetzlichen Schuldenbremse zur Voraussetzung, die ökonomisch unsinnig ist: So sehr ein Staat grundsätzlich ein Ausufern seiner Verbindlichkeiten auf Niveaus von über 150 Prozent der Wirtschaftsleistung vermeiden sollte, um an den Finanzmärkten kreditfähig zu bleiben, so wenig ist die Bundesrepublik mit ihrer Stabilitätskultur dafür anfällig, in die Nähe solcher Verschuldung zu gelangen.
Was die demografische Entwicklung als Abstiegsfaktor angeht, hilft nur eine Gegenstrategie mit mehreren Pfeilern. Dazu gehört die Ermutigung von Migration, die rein zahlenmäßig den wichtigsten Beitrag gegen den Personalmangel leisten kann. Um einen solchen hochumstrittenen Kurs politisch durchzusetzen, sollte den skeptischen Bürgern zugesichert werden, dass sie durch Schaffung ausreichenden Wohnraums, Kinderbetreuungsangebote und anderer staatlicher Leistungen gerade in Ballungsgebieten durch die Zuwanderung keine Nachteile zu befürchten haben und die Regierung beispielsweise straffällige Migranten konsequent in sichere Herkunftsländer abschiebt.
Der Personalmangel ließe sich auch durch mehr weibliche Berufstätigkeit angehen, die durch finanzielle Fehlanreize wie Ehegattensplitting und Minijobs sowie mangelnde Kinderbetreuungsangebote niedriger ist als von vielen Frauen gewünscht; ihre Ermutigung wäre ein Beitrag zu mehr Gleichberechtigung. Personalmangel ist schließlich auch eine Folge unzureichender Qualifizierung, weshalb der wachsende Anteil junger Menschen, die ohne Schulabschluss und Ausbildung ins Berufsleben stolpern, letzter Anlass für eine Bildungsoffensive sein sollte, die nicht mehr um das Genöle problemarmer Akademikereltern kreist, sondern endlich um Kinder und junge Menschen mit Startnachteilen.
Was die Ampel umsetzt
Was von diesen Vorschlägen gegen wirtschaftlichen Abstieg setzt die Ampelregierung um? Sie geht durchaus manches an, am prominentesten vielleicht bei der Energiewende. Sowohl in derIndustriepolitik, bei staatlichen Investitionen, Migration oder Bildung bleibt sie jedoch auf halbem Weg stecken.
SPD und Grüne hatten im Wahlkampf 2021 mehr versprochen.
Dabei ist aufschlussreich, dass sowohl SPD und Grüne im Wahlkampf 2021 mehr versprochen hatten: sowohl deutlich mehr Industriepolitik und staatliche Investitionen mittels einer Finanzwende wie auch mehr Gerechtigkeit durch eine Steuerreform zugunsten von Mittelschicht und Geringverdienern. Plus Kindergrundsicherung flankiert durch eine Belastung von Gutverdienern und Vermögen wie auch mehr Gleichberechtigung aufgrund von besseren Berufschancen für Frauen durch eine Eindämmung von Ehegattensplitting und Minijobs.
Dies alles haben beide Parteien nicht gegen den Koalitionspartner FDP durchgesetzt. Der Wahlkampf zur Bundestagswahl 2025 sollte deshalb auch ein Wettstreit um Konzepte werden, wie sich der wirtschaftliche Abstieg aufhalten, Klimaschutz, Wohlstand, Gleichberechtigung und Bildung verbessern lassen. SPD und Grüne haben bei dem, was sie Wählerinnen und Wählern schon 2021 versprachen, einiges aufzuholen.
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