Menü

In memoriam Hermann Glaser Kreativer Protagonist einer neuen Kulturpolitik

In den 70er Jahren veränderte sich die kommunale Kulturpolitik grundlegend. Hatte man noch bis in die späten 60er Jahre hinein die traditionelle Kulturpolitik mit der Schwerpunktsetzung bei der Förderung von Institutionen wie Oper, Museen, Theater etc. als städtische Kulturangebote betrieben, so rückten nun – eigentlich schon mit der Aufbruchsstimmung, die die Bundeskanzlerschaft Willy Brandts hervorgerufen hatte (»mehr Demokratie wagen«) – alternative Kulturangebote an entsprechenden neuen Kulturorten ins urbane Blickfeld, namentlich in Gestalt von Aktions- und Kommunikationszentren. »Sprengt die Oper in die Luft« und baut stattdessen dezentrale soziokulturelle Zentren – so oder ähnlich lauteten die Losungen!

Diese »neue« Kulturpolitik, wie sie 1974 in dem Sammelband Plädoyers für eine Neue Kulturpolitik (Hanser Verlag) von ihren wichtigsten Akteuren und seit 1970 von dem Loccumer Kulturpolitischen Kolloquium formuliert wurde, hatte in den sozialdemokratischen Kulturstadträten ihre maßgeblichen Verbündeten: namentlich Alfons Spielhoff (Dortmund), Hermann Glaser (Nürnberg), Hilmar Hoffmann (Frankfurt/Main), Richard Erny (Bochum), Kurt Hackenberg (Köln) und Klaus Revermann (Wuppertal) sowie Dieter Sauberzweig, Kulturdezernent des Deutschen Städtetages (und späterer Berliner Kultursenator). »Kulturpolitik ist Gesellschaftspolitik«, so lautete das spätere Leitmotiv der Kulturpolitischen Gesellschaft, die 1976 ins Leben gerufen wurde.

Im Kontext dieses kulturpolitischen Aufbruchs wurde – initiiert von Willy Brandt und Peter Glotz – das Kulturforum der Sozialdemokratie, das bis in diese Tage progressiv wirkt, gegründet.

Die kommunalen Urgesteine der neuen Kulturpolitik in Deutschland, Hilmar Hoffmann (»Kultur für alle«) und Hermann Glaser (»Bürgerrecht Kultur«), beide bis ins hohe Alter kreative Protagonisten einer linksliberalen Kulturpolitik, sind vor wenigen Wochen verstorben. Ihnen gebührt, über Parteigrenzen hinaus, höchste Anerkennung: Sie haben sich um eine neue Kulturpolitik verdient gemacht, nach der Wende übrigens auch in den neuen Bundesländern.

Hermann Glaser hat gern davon gesprochen und geschrieben, dass man eine Sache vom Kopf auf die Füße stellen müsse – vorausgesetzt »man habe etwas im Kopf«. Er steht beispielhaft dafür, es nachhaltig getan zu haben, lebenslang als – wie er sich selber einmal nannte – »Generalist der Kulturpolitik«. Wenngleich Glaser seine Bedeutung für Theorie und Praxis der Kulturpolitik, insbesondere der Soziokultur, hatte, so erschöpfte sich sein Wirken – im Schreiben, in der Lehre und im Reden – darin keineswegs. Persönlichkeit der Zeitgeschichte der Bundesrepublik wurde er namentlich als Initiator der »Nürnberger Gespräche« sowie als Homme de Lettres, was ihm schließlich auch die Mitgliedschaft in der Schriftstellervereinigung PEN einbrachte.

Es ist schier unmöglich, sein Schrifttum mit mehr als 80 Publikationen auch nur schwerpunktmäßig zu würdigen – »in jedem Lebensjahr ein neues Buch« hieß es anlässlich seines 75. Geburtstages. Man kann das genauer in seinem autobiografischen Buch »Ach!« – Leben und Wirken eines Kulturbürgers (Klartext, 2011)nachlesen: Ein Stück böser wie auch guter deutscher Zeitgeschichte schildert er als Zeitgenosse in literarisch beachtlicher Darstellung.

Arbeit und Leben in der Zivilgesellschaft hat ihn persönlich und intellektuell lebenslang beschäftigt. Erinnert sei hier nur an weniges, beispielhaft an ein Buch, das seinerzeit viel Aufsehen erregte und Anstoß für Kolloquien und Vortragszyklen zur sozialen Demokratie wurde: Das Verschwinden der Arbeit: Die Chancen der neuen Tätigkeitsgesellschaft (Econ, 1988). Er ging seinerzeit der Frage nach, wie viel Arbeit der Mensch brauche und welche, eine unter den Vorzeichen von Globalisierung und Digitalisierung durchaus aktuelle – gerade, wie er selber noch kürzlich reflektierte, einer Tätigkeitsgesellschaft zur »Verwirklichung humaner Selbstbestimmung«.

Es wird noch vieler engagierter Forscher bedürfen, um dieses gewaltige und vielgestaltete Lebenswerk zu sichten und für die kultur- und gesellschaftspolitische Gegenwart fruchtbar zu machen.

P.S. Die erste vollständige Kulturgeschichte Deutsche Kultur 1945–2000 (Hanser, 1997) ist als Glasers wohl wichtigstes kulturpolitisches Werk vielfach übersetzt worden, zuletzt ins Chinesische – diese Fassung kam in Nürnberg wenige Tage vor seinem Tod am 18. Juni 2018 an.

Kommentare (0)

Keine Kommentare gefunden!

Neuen Kommentar schreiben

Nach oben