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Oder: wie 1917 den Ersten Weltkrieg zum Spektakel macht Krieg im Film

Vom Thema »Krieg« scheint eine ungewöhnliche Faszination auszugehen – konfrontiert er doch das moderne Ideal einer rationalen (und friedfertigen) Gesellschaft mit den eigenen primitiven Abgründen. Für die meisten Menschen in Europa und der sogenannten »westlichen Welt« insgesamt ist Frieden zur Normalität geworden. Während Zeitzeugen etwa des Zweiten Weltkriegs langsam aussterben, bleibt »Krieg« für die jüngere Generation in aller Regel entweder eine abstrakte Vorstellung oder ein Zustand in weiter Ferne. Neben den Berichten aus Kriegsgebieten in den Nachrichten sind es vor allem Filme, die das Bild von »Krieg« in unseren Köpfen prägen. Aber warum sollte man sich überhaupt in Friedenszeiten mit »Krieg« beschäftigen? Und was können Filme bei dieser Auseinandersetzung mit dem Thema leisten?

Im Grunde folgt die Darstellung des Kriegs im Film einer langen Tradition in allen Bereichen der Kunst. Von Homers schriftlicher Fixierung des Trojanischen Krieges in der Ilias über Eugène Delacroixs Monumentalgemälde Die Freiheit führt das Volk über die Julirevolution 1830 in Frankreich bis hin zu dem Song Zombie der irischen Band The Cranberries über den Nordirlandkonflikt: Kriegerische und kriegsähnliche Auseinandersetzungen wurden schon immer zum Mythos von Erzählungen, symbolisch aufgeladen und meist aus einem kritischen Blickwinkel.

Heute ist Krieg, zumindest aus »westlicher« Sicht, vor allem fester Bestandteil der Unterhaltungsindustrie, die, so absurd es auch erscheinen mag, beide Begriffe in einen Zusammenhang bringt. Vor allzu realistischen Darstellungen werden die Zuschauer/innen meistens »geschützt«, sonst wäre es ja auch für einige nicht unterhaltsam. Die Gewalt bleibt entweder Teil einer fantastischen Welt (etwa in den Filmen Herr der Ringe), des Kampfes Gut gegen Böse (z. B. Marvel: Infinity War) oder sie ist notwendiger Aspekt eines actiongeladenen Dramas (Game of Thrones). Alle Jahre wieder erscheint dann aber auch ein »klassischer« Kriegsfilm (der dazu auch noch reale Kriege thematisiert) und räumt bei der größten Preisverleihung der Filmbranche, den Oscars, ein paar Auszeichnungen ab. Bei der diesjährigen Verleihung der Academy Awards wurde dem Film 1917 von Sam Mendes diese Ehre zuteil (für beste Kamera, beste visuelle Effekte und bester Ton).

Der Film handelt von zwei jungen britischen Soldaten und deren Mission, einem anderen Bataillon eine lebensrettende Nachricht zu überbringen. Ein Himmelfahrtskommando durch die umkämpften Fronten des Ersten Weltkriegs. Schon vor Veröffentlichung sorgte der Film medial für Furore, war er doch scheinbar in einer Einstellung, also ohne Schnitte (»One Shot«) gedreht. Kamera, Schauspiel und die gesamte Crew samt Technik müssen hierbei einer akribisch geplanten Choreografie folgen. Je länger die Sequenz, desto größer der Aufwand. Ähnlich wie bei Alfred Hitchcocks Cocktail für eine Leiche oder Alejandro González Iñárritus Birdman handelt es sich bei 1917 jedoch nicht wirklich um einen »One Shot«. Schnitte wurden vielmehr so geschickt platziert, dass sie den Zuschauer/innen nicht auffallen. Dennoch beeindrucken lange, temporeiche Kamerafahrten durch großartige Kulissen und die ambitionierte Leistung wurde zu Recht mit dem Oscar für die beste Kamera belohnt.

Aber nicht nur die Kamera lässt 1917 glänzen. Von der Farbgestaltung, die das düstere Kriegsszenario in blassgraue und erdige Töne taucht, bis zu den kontrastreichen Lichteffekten strotzt der Film vor visuellen Highlights. In Kombination mit dem Soundtrack des Komponisten Thomas Newman bekommt das Kriegsdrama eine überaus spannungsgeladene Atmosphäre. 1917 brilliert filmtechnisch auf fast allen Ebenen und wird so zu einem realitätsnahen Erlebnis. In Echtzeit können Zuschauer/innen am Kriegsgeschehen teilhaben und das von Stacheldraht und Leichen übersäte Niemandsland wird zum sinnlich erfahrbaren Nervenkitzel. Bevor jedoch die Kritik bei all der Technikhuldigung in einen Lobgesang zu münden droht, wie aufregend doch der Erste Weltkrieg gewesen sei, bedarf es einer kurzen Reflexion über die politische Perspektive.

Idealerweise finden sich in der Filmgeschichte dafür perfekte Kontrastfolien. Beispielsweise das grandiose Werk Im Westen nichts Neues (Lewis Milestone, 1930). Ein Klassiker unter den Antikriegsfilmen. Er erzählt von der anfänglichen Überzeugung einiger Schüler, für ihr Vaterland in den Krieg zu ziehen und deren Entwicklung zu Tätern und Opfern des willkürlichen Tötens. Jede Szene unterstreicht die fatalen Folgen einer unsäglichen Gewalteskalation. Jeder Dialog bezeugt die psychische Belastung des Menschen in einem zermarternden Stellungskrieg. Im Gegensatz zu 1917 braucht er dafür keine technischen Effekte. Wo 1917 ausschließlich auf der großen Leinwand in hochauflösenden Bildern Wirkung entfalten kann, erschütterte Im Westen nichts Neues sogar auf dem Röhrenbildschirm – und benötigte dabei nicht einmal Farbe. Ein anderes Beispiel wäre Stanley Kubricks Meisterwerk Wege zum Ruhm (1957), dessen satirischer Unterton die Absurdität der Kriegspraxis und die Unarten der Machtstrukturen selbst in den eigenen Reihen entlarvt. Es sind Filme, die ohne erhobenen moralischen Zeigefinger an die Vernunft eines vom Krieg geschundenen Europas appellieren.

Vergleicht man die Filme nun mit 1917, wird deutlich, wie wenig letzterer sich tatsächlich mit dem Krieg als solchem beschäftigt. Eine offensichtliche Kritik, wie sie Im Westen nichts Neues bietet, bleibt hier die meiste Zeit beiläufig und verschwindet im Hintergrund der (zugegeben beeindruckenden) visuellen Effekte. Auch die Handlung kommt nicht über eine klassische (eindimensionale) Heldenmission hinaus – Subtilität à la Kubrick sucht man vergeblich. Die Story erweist sich generell als das größte Problem des Films, ordnet sie sich doch die meiste Zeit der effekthaschenden Oberfläche unter – die Logik folgt der Optik und letztendlich dem Pathos. Der Protagonist verlässt leichtfertig seine Deckung und muss kurz darauf, in epischer Kinematografie, vor einem abstürzenden Flugzeug fliehen. Lebensbedrohliche Wunden sind von einem Moment auf den anderen plötzlich nicht mehr von Belang. Gegen Ende des Films findet der Held unter unzähligen Soldaten im Lazarett zufällig den Bruder seines gefallenen Freundes und besiegelt die erfolgreiche Mission mit einem brüderlichen Handschlag.

Nicht nur der Story mangelt es an Komplexität. Auch die Charaktere lassen leider jegliche Tiefe vermissen. Vor allem der Protagonist, Lance Corporal William Schofield (wiewohl großartig gespielt von George MacKay), entfaltet im Verlauf der Handlung einen geradezu klischeehaften Heroismus. Der einsame Held ohne Ecken und Kanten, der, auf sich allein gestellt, die Welt (genau genommen »nur« ein Bataillon) retten muss. Der, selbst in größter Not, einer Frau und ihrem Kind seinen letzten Proviant schenkt und nebenbei das Kind mit einem Gedicht von Edward Lear beruhigt. Es ist zwar ein netter Kniff, Lears Nonsens-Literatur in dem irrationalen Kriegstreiben unterzubringen. Trotzdem ist die Szene exemplarisch dafür, wie der Film erkennbar versucht Gefühle zu erzwingen. Sie ähnelt einer Gesangsszene, bei der die Großaufnahme der Soldaten für sentimentales Mitgefühl sorgen soll. Letztlich wirkt die perfekteste Gesangseinlage jedoch wie ein kitschiger Abklatsch der herausragenden Schlussszene aus Wege zum Ruhm.

Mit der letzten Einstellung gelingt Sam Mendes schließlich doch noch ein poetischer Moment der kritischen Reflexion. Der Film endet mit dem gleichen Bild, mit dem er begonnen hat. In einem Moment der Stille sitzt der Protagonist an einen Baum gelehnt. Die beiden Einstellungen werden zum metaphorischen Rahmen, ein Kreislauf, der den endlosen Kampf abertausender Soldaten darstellt. Der Krieg wird desillusioniert: als gnadenlose Sisyphos-Arbeit ohne ersichtliches Ziel. Die Szene wirkt geradezu wie eine Allegorie der aktuellen Situation Europas. Längst sind die USA nur noch bedingt bereit, Sicherheit zu garantieren, jetzt kommt die Corona-Krise hinzu, die offenbart, wie plötzlich sich eine Gesellschaft im Ausnahmezustand wiederfinden kann und sich freiwillig einer neuen (hoffentlich vorübergehenden) Ordnung fügt.

Die tröstliche Formel »besser spät als nie« wendet für den Film 1917 trotzdem nicht das Blatt. Nimmt man nämlich dessen Wirkung in seiner Gesamtheit und das Gefühl beim Verlassen des Kinosaals, so regt der Film sicherlich kaum zu einer nachhaltigen Auseinandersetzung mit dem (Un)Sinn von Kriegen an. Stattdessen überwiegt eine erschöpfte Erleichterung, diese adrenalingeladene Achterbahnfahrt der Eindrücke und Gefühle überstanden zu haben. Leid und Elend von Kriegen, welches für viele Menschen leider auch heute noch Alltagsrealität ist, fällt hier, wie so oft, unter den Tisch.

Die Ignoranz, mit der der Film der Thematik »Krieg« begegnet, ist ein Makel für das ganze Genre. Unterstützt durch eine pompöse Filmmusik (Im Westen nichts Neues kommt komplett ohne Musik aus!) gleicht der Spießrutenlauf des Protagonisten durch Schützengräben, einstürzende Tunnelsysteme und reißende Flüsse eher einem dramatisch durchorchestrierten Abenteuerfilm. Der Krieg ist im Grunde reine Kulisse und völlig austauschbar. Mit einer anderen Ausstattung würde der Hindernisparcours des Protagonisten eher an Indiana Jones und die Anfangsszene aus Jäger des verlorenen Schatzes von Steven Spielberg (1981) erinnern. Typisch für einen Blockbuster wird die Kulisse zur Projektionsfläche eines »High-budget«-Attraktionskinos, das sich durch hochwertige Technik und ein renommiertes Schauspielerensemble (Benedict Cumberbatch, Andy Garcia, Colin Firth) zu profilieren versucht.

Man mag fragen, ob die Behandlung der Kriegsthematik nicht prinzipiell mit einer gewissen aufklärerischen Verantwortung einhergeht? Ist es nicht unter anderem auch Aufgabe der Kunst, die Aufarbeitung solcher Tiefpunkte der Menschheitsgeschichte anzuregen?

Sam Mendes schafft weder Raum für ein Hinterfragen noch irgendeine Möglichkeit der moralischen Läuterung. Der Film bleibt, wie der französische Philosoph, Autor und Filmemacher Guy Debord urteilen würde, reines Spektakel. Für dieses ist »das Endziel nichts, die Entwicklung alles. Das Spektakel will es zu nichts anderem bringen als zu sich selbst«. (Gesellschaft des Spektakels, 1967). 1917 zelebriert das eigene technische Filmschaffen und lässt Krieg zur Attraktion werden. Es ist schon ein Paradoxon, dass der Erste Weltkrieg auf der Leinwand so real und unmittelbar erfahrbar gemacht werden und gleichzeitig so wenig berühren kann.

Blockbuster haben ein Recht darauf, reines Unterhaltungskino zu sein, keine Frage. Allerdings wäre es zumindest leichtfertig, wenn Filme, besonders beim Thema Krieg, Unterhaltung anstelle einer konstruktiven Erinnerungskultur setzten. Dass, auch nach dem Abspann, die gegenwärtige Lebensrealität vieler Menschen durch Kriegsgräuel bestimmt wird, sollten die Zuschauer/innen nicht einfach vergessen. Wem dafür die Vorstellungskraft fehlt, empfehle ich, den ebenfalls im letzten Jahr erschienenen Film Für Sama (von Waad al-Kateab und Edward Watts) zu schauen und sich dadurch der tatsächlichen Folgen des Kriegs bewusst zu werden.

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