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Steht der russische Krieg in der Ukraine für einen Epochenumbruch? Krieg und globaler Umbruch

Für gewöhnlich sind Historikerinnen und Historiker zurückhaltend damit, einen Epochenumbruch auszurufen. Vor allem dann, wenn es um Ereignisse der Gegenwart geht. In der Rückschau weist so manche vermeintliche Epochenschwelle bei genauerer Betrachtung mehr Kontinuitäten als Veränderungen auf.

Umso bemerkenswerter ist es, wenn der Tübinger Osteuropa-Historiker Klaus Gestwa in einem kürzlich erschienenen Aufsatz konstatiert, der russische Angriff auf die Ukraine am 24. Februar 2022 habe »weit über die Ukraine und Russland hinaus […] zu einem Epochenumbruch« geführt. Weiter schreibt Gestwa: »Angesichts der toxischen Mischung aus Russlands Angriffskrieg, Klimakrise und Covid-Pandemie erlebt die Welt gerade eine ›Super-Zeitenwende‹, bei der es für die Politik im 21. Jahrhundert zu entscheidenden Weichenstellungen kommen wird.«

Erschienen ist der Beitrag in dem von Gestwas Kollegen Ewald Frie und Mischa Meier herausgegebenen Sammelband Krisen anders denken, der die Resultate des interdisziplinären Tübinger Sonderforschungsbereichs »Bedrohte Ordnungen« zusammenfasst und einer auch nicht-wissenschaftlichen Leserschaft zugänglich macht.

Anstoß für Fortschritt?

Der russische Krieg in der Ukraine ist dabei nur ein Thema unter vielen. Gleichwohl ist es reizvoll, die übergeordnete These der Forscherinnen und Forscher vor dessen Hintergrund zu beleuchten. Sie lautet, dass Bedrohungen nicht nur ungeahnte Risiken böten, sondern auch Chancen auf dringend erforderliche Veränderungen. Die Rede ist von »Möglichkeitsräumen«, die sich im Angesicht der Bedrohung eröffneten und die es politisch auszufüllen gelte.

Bedrohungen seien demnach »offene Situationen mit hohem Konfliktpotenzial«, nach deren Beilegung »vieles oder alles anders sein [kann] als zuvor«, das aber nicht zwangsläufig so sein müsse. Das ist grundsätzlich nicht neu, sondern fügt sich in Bekanntes ein, etwa, dass Kriege nicht nur eine destruktive Seite haben, sondern auch den Anstoß für wichtige gesellschaftliche, politische und technologische Fortschritte geben können.

Menschliches Leid und ökonomische Kosten

Ob der russische Krieg in der Ukraine in der Rückschau neben all seiner Gräueltaten auch als Ausgangspunkt für eine solche positive Dynamik gesehen werden wird, steht in den Sternen und lässt sich seriös nicht prognostizieren. Das gilt in besonderer Weise für die kriegführenden Staaten. Es gilt aber auch für den Rest der Welt, wenngleich es dort seit Kriegsbeginn vor gut anderthalb Jahren – in diesem Punkt ist Klaus Gestwa zuzustimmen – bereits zu bemerkenswerten Veränderungsansätzen gekommen ist, im Westen insgesamt und auch in Deutschland. Der frühere deutsche Botschafter in Russland, Rüdiger von Fritsch, hat dazu eine lesenswerte Übersicht verfasst, die neben der westlichen Perspektive auch den indischen und chinesischen Blickwinkel miteinbezieht – dazu gleich mehr.

Viele denkbare militärische Auseinandersetzungen konnten abgewendet werden.

Wie wenig der russische Angriff auf die Ukraine in ein westliches Verständnis von Politik nach 1945, vor allem jedoch nach 1990/91 passt, illustriert anschaulich das Buch Warum wir Kriege führen des US-amerikanischen Politikwissenschaftlers und Ökonomen Christopher Blattman. Es ist im Original bereits 2022 erschienen und war bei Kriegsausbruch abgeschlossen. Blattman argumentiert in bester liberaler Tradition, verweist unter anderen auf Steven Pinker, der vorgerechnet hat, dass die Anzahl der Kriegsopfer in der Geschichte stetig zurückgegangen sei (was allerdings nur zutrifft, wenn man die Opferzahlen relativ zur stark gewachsenen Weltbevölkerung betrachtet). Neben den eigentlichen Kriegen verweist Blattman auf die aus seiner Sicht sehr viel größere Anzahl an denkbaren militärischen Auseinandersetzungen, die – mitunter im letzten Moment – abgewendet werden konnten. Grund dafür sei das Wissen der handelnden Politiker um menschliches Leid sowie die ökonomischen Kosten eines Krieges, weswegen sie in den allermeisten Fällen zu Kompromissen bereit gewesen seien.

Daran ausgerichtet ist Blattmans Instrumentarium zur Vermeidung beziehungsweise Beilegung bewaffneter Konflikte. Folgt man seinen Empfehlungen, entsteht allerdings der Eindruck, die westliche Politik habe in den Jahren und Monaten vor dem russischen Überfall auf die Ukraine sehr viel richtig gemacht – und es dennoch nicht vermocht, den Krieg abzuwenden. Sowohl die von Blattman angemahnte Dialogbereitschaft als auch die Etablierung grundlegender Interdependenzen standen zweifellos hoch oben auf einer westlichen politischen Agenda. Allerdings hat weder das eine noch das andere Putin davon abgehalten, seine Kriegsmaschinerie gegen die Ukraine in Bewegung zu setzen. In der Rückschau wird derzeit vor allem die Politik der wirtschaftlichen Abhängigkeit als ein Kardinalfehler der westlichen und besonders der deutschen Russlandpolitik gewertet.

Westliche Illusionen

Blattmann hat ein kluges Buch geschrieben, reich an Empirie und historischen Anekdoten, angesiedelt in einer westlichen Denktradition, für die das Führen von Kriegen spätestens seit dem Ende der Sowjetunion keine vernünftige Option mehr darstellte. Was sowohl er als auch die überragende Zahl westlicher Politiker und Kommentatoren allerdings übersehen haben: Das ihrer Argumentation zugrundeliegende Fortschrittsnarrativ war einseitig, es entsprach weder der Weltsicht Putins noch jener eines Großteils der russischen Bevölkerung.

Dabei erscheint zurückblickend recht klar, dass sowohl der Georgienkrieg 2008 als auch die Annexion der Krim 2014 sowie die anschließende militärische Auseinandersetzung in der Ostukraine den russischen Expansionspfad frühzeitig vorgezeichnet haben. Davor viel zu lange die Augen verschlossen zu haben, war zweifellos ein Fehler, den sich in Deutschland alle politischen Parteien ankreiden lassen müssen.

»Russland ist heute eine Diktatur.«

Auch Rüdiger von Fritsch erinnert zu Beginn seines Buches an die Illusionen, denen der Westen mit Blick auf Putin aufgesessen war. Von den drei Zielen, die dieser in seiner Rede im Deutschen Bundestag 2001 formulierte, wurde keines realisiert: von Demokratie, Marktwirtschaft und der Aufarbeitung der russischen Geschichte ist nichts übriggeblieben; Russland ist heute eine Diktatur.

Im Ukrainekrieg habe sich Putin verkalkuliert, vor allem was die Standhaftigkeit und Geschlossenheit des Westens anbelangt. Gleichwohl bleibt die Situation hochbrisant, selbst den russischen Einsatz von Atomwaffen hält von Fritsch für möglich, etwa, wenn eine ukrainische Rückeroberung der Krim bevorstünde. Ein Einlenken Russlands und die Aufnahme von Friedensverhandlungen seien denkbar, falls Putin den Rückhalt in der Bevölkerung zu verlieren drohe. Die Wahrscheinlichkeit dafür sei mit der Mobilmachung gestiegen, zumal Putin damit den »ungeschriebenen Gesellschaftsvertrag Russlands« gebrochen und den Krieg ins Volk getragen habe. Für diesen Fall sollte der Westen vorbereitet sein. Leider belässt es von Fritsch bei dieser These, den dafür nötigen politischen Rahmen liefert sein Buch nicht.

Offene geopolitische Fragen

Stattdessen richtet er im Weiteren das Augenmerk über den russisch-ukrainischen Konflikt hinaus, wodurch die isolierte Betrachtung des Krieges aufgebrochen und dieser auf einer globalen Agenda verortet wird. Dabei wird nicht zuletzt deutlich, dass die hierzulande vielbemühte »Zeitenwende« in erster Linie eine innenpolitische Betrachtungsweise darstellt. Im geostrategischen Maßstab relevant ist allenfalls die Frage, wie stark Russland aus dem Krieg herauskommen und welchem politischen Lager es sich zuschlagen wird, dem Westen unter Führung der Vereinigten Staaten oder jenem eines autoritären Chinas. Dies gelte es bei den Modalitäten eines etwaigen Friedensschlusses zu berücksichtigen. In einem eigenen Kapitel befasst sich von Fritsch zudem mit der Positionierung Indiens auf der Weltbühne, dem er ein Festhalten am Prinzip der Blockfreiheit und das robuste Eintreten für die nationalen Interessen prognostiziert.

«Der größte Veränderungsdruck liegt auf Europa und auf Deutschland.«

Der größte Veränderungsdruck hingegen, das darf man aus von Fritschs Ausführungen schlussfolgern, liegt auf Europa und insbesondere auf Deutschland. Europa müsse sich auch militärisch zu einem souveränen Akteur entwickeln, dazu befähigt, Regionalkonflikte an der eigenen Peripherie ohne die Vereinigten Staaten beizulegen. Voraussetzung dafür sei eine deutsche Führungsrolle, die das Land aktiv annehmen müsse – was konkret heißt, sich auch strategisch darauf vorzubereiten. Die Voraussetzungen dafür seien nicht zuletzt infolge der angekündigten Aufwertung der Sicherheits- und Verteidigungspolitik gegeben, wenngleich die Absage an einen nationalen Sicherheitsrat aufgrund ressort- und parteienpolitischer Dissonanzen einen bedauerlichen Schritt in die falsche Richtung darstelle.

Ein Ende des russischen Krieges in der Ukraine ist derzeit noch nicht in Sicht. Einen »Epochenbruch«, so viel kann man aber jetzt schon festhalten, stellt er nicht dar. In einer Welt, die sich grundsätzlich »im Umbruch« befindet, ist er lediglich ein Baustein unter mehreren, sein Ausgang wird eine künftige Ordnung beeinflussen, sie aber nicht maßgeblich formen.

Christopher Blattmann: Warum wir Kriege führen. Und wie wir sie beenden können (Aus dem amerikanischen Englisch von Birthe Mühlhoff). Ch. Links, Berlin 2023, 536 S., 26 €.

Ewald Frie & Mischa Meier (Hrsg.): Krisen anders denken. Wie Menschen mit Bedrohungen umgegangen sind und was wir daraus lernen können. Propyläen, Berlin 2023, 548 S., 32 €.

Rüdiger von Fritsch: Welt im Umbruch. Was kommt nach dem Krieg? Aufbau, Berlin 2023, 205 S., 18 €.

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