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Was wir aus der Geschichte über das Ende militärischer Konflikte lernen Kriegsziel Erschöpfung

Der Krieg in der Ukraine ist zu einem Erschöpfungskrieg geworden: Keine der beiden Seiten ist in der Lage, mit einer durchschlagenden Offensive die gegnerische Seite zu überwältigen oder zur Aufgabe ihres politischen Willens zu zwingen. So ist die militärische Lage jenseits völkerrechtlicher und moralischer Überlegungen zu beschreiben.

Der Krieg wird vor allem als ein Artilleriekampf geführt, bei dem der Gegenseite möglichst hohe Verluste zugefügt werden sollen. Mitunter kommt es auch zu räumlich begrenzten Vorstößen, die aber keine kriegsentscheidende Bedeutung haben. Im Erschöpfungskrieg setzen beide Seiten darauf, dass sie selbst länger durchhalten als der Gegner, um schließlich in einem »zähen Ringen« zuletzt doch noch den eigenen Willen durchsetzen zu können. Das kann sich über Jahre hinziehen.

Der russische Angreifer hat neben der Erschöpfung des ukrainischen Militärs freilich noch eine »zweite Front«, an der es um Erschöpfung geht: die physische wie psychische Ermattung der ukrainischen Zivilbevölkerung. Da sind die Raketen- und Drohnenangriffe gegen ukrainische Städte und Infrastruktureinrichtungen, mit denen die Durchhaltebereitschaft und -fähigkeit der Bevölkerung zermürbt werden soll. Sie soll damit zum Aufgeben gebracht werden, sei es in Form einer Kapitulation, sei es im Verlassen des Landes und der Flucht irgendwohin nach Westen.

Eine vergleichbare Form des Erschöpfungskrieges steht der Ukraine nicht zur Verfügung, weil der Westen ihr die dafür erforderlichen Waffensysteme nicht liefert beziehungsweise darauf dringt, dass die Ukrainer ihren Widerstandskampf nur auf dem eigenen Territorium führen und kein russisches Gebiet angreifen, jedenfalls kein Gebiet, das vor Beginn des russischen Angriffs schon zu Russland gehörte.

Insofern hat der Krieg, der an der Front durchaus symmetrisch geführt wird, eine asymmetrische Seite, bei der Russland eindeutig im Vorteil ist. Dass sich das ändern könnte, ist nicht abzusehen und wird von den westlichen Unterstützungsmächten auch nicht gewollt, weil es das Risiko einer Eskalation zum Atomkrieg erheblich steigern würde.

Nicht nur deswegen hat die ukrainische Seite in diesem Erschöpfungskrieg die schlechteren Karten. Sie kann ihre Unterlegenheit gegenüber dem Aggressor nur ausgleichen, indem sie an der Front nachhaltige Erfolge erzielt und das russische Militär mitsamt den zugehörigen Söldnereinheiten so weit zurückdrängt, dass die Aussicht Russlands auf ein Erreichen seiner Kriegsziele immer geringer wird.

Nicht zuletzt deswegen bedrängt die politische Führung der Ukraine die westlichen Staaten fortgesetzt mit dem Wunsch nach Lieferung von mehr Waffen, schwereren Waffen und vor allem von Munition. Aber selbst wenn es dem ukrainischen Militär gelänge, die russischen Truppen von ukrainischem Staatsgebiet zu vertreiben, wäre damit der Krieg nicht zwingend zu Ende. Als Erschöpfungskrieg gegen die Zivilbevölkerung und Infrastruktur könnte er auch danach in Form von Luftangriffen noch fortgeführt werden. Dafür, wie es dann weitergeht, wird ausschlaggebend sein, ob sich die russische Führung davon verspricht, dadurch den Fehlschlag ihrer »Spezialoperation« nicht eingestehen zu müssen und womöglich den Widerstandswillen der Ukrainer doch noch ermatten zu können.

Derlei lässt sich nur ausschließen, wenn der russischen Führung durch die Weiterführung des Krieges größere Nachteile entstehen, als sie im günstigsten Fall von dessen Fortführung erwarten darf. Damit kommen die gegen Russland verhängten Wirtschaftssanktionen des Westens ins Spiel, die, so jedenfalls die Ankündigung, erst dann gelockert oder gar aufgehoben werden sollen, wenn der Krieg definitiv zu Ende sei. Das ist, wenn man so will, die dritte Front des Ermattungskrieges, an der beide Seiten, Russland auf der einen, der Westen auf der anderen Seite, die Wirtschaft des je anderen so zu schwächen suchen, dass ihm die Fähigkeit oder der Wille zur Weiterführung des Krieges abhanden kommen.

Auch an dieser Front geht es also um eine physische wie psychische Ermattung, und auch hier herrscht eine begrenzte Bewegung, wenn die westlichen Sanktionen verschärft oder die russischen Energielieferungen weiter reduziert beziehungsweise gänzlich eingestellt werden. Auch das folgt der Frage: Wer hält länger durch?

Verlauf und Ende

Erschöpfungskriege entwickeln sich zumeist dann, wenn es dem Angreifer nicht gelingt, in einer schnellen und umfassenden Offensive die militärischen Fähigkeiten des Angegriffenen zu zerschlagen, ihn wehrlos zu machen und ihm seinen Willen aufzuzwingen. Wenn der Angegriffene stattdessen hartnäckigen und hinhaltenden Widerstand leistet, womöglich Gegenoffensiven startet, mit der Folge, dass weder der Angreifer noch der Verteidiger Aussicht auf schnellen Erfolg hat.

Es gibt freilich auch Erschöpfungskriege, die von vornherein als solche geplant waren. Das ist aber eigentlich nur Seemächten möglich, die für die Gegenseite tendenziell unangreifbar sind und über die Fähigkeiten zur Durchsetzung einer Handelsblockade verfügen. An die Stelle der Entscheidungsschlacht tritt dann die wirtschaftliche Ermattung; man meidet die Risiken der Schlacht und verlässt sich auf die weniger riskante Strategie des Aushungerns. Der britische Strategietheoretiker Liddell Hart hat das als indirect approach bezeichnet.

Das war nicht der russische Plan; eher lag es als Direktive dem wirtschaftlichen Gegenhandeln des Westens zugrunde, das zunächst ja ebenfalls auf ein ökonomisches Auspowern Russlands setzte, bis sich zeigte, dass die Ukraine schneller ermattet sein würde als Russland und man diese Zeitlücke durch eigene Waffenlieferungen schließen musste, wenn die Ukraine den Krieg nicht verlieren sollte.

Die Strategen der wirtschaftlichen Macht hatten deren Verspätung gegenüber der militärischen Macht übersehen. Die strategischen Pläne Russlands ähnelten dafür denen der Deutschen zu Beginn des Ersten Weltkriegs (wobei die politischen Konstellationen dieses Krieges freilich andere waren), als man auf Grundlage des Schlieffenplans in einer schnellen Umfassungsoperation Frankreich besiegen wollte. Aber die deutschen Angriffsoperationen scheiterten an der Marne, weil Franzosen und Briten entschiedenen Widerstand leisteten und ihre Kräfte geschickt einsetzten. Die Deutschen zogen sich zurück und gruben sich ein, nachdem es auch beim »Wettlauf zum Meer« nicht gelungen war, die gegnerische Seite zu umfassen. Von da an begann an einer Front von den Vogesen bis zum Ärmelkanal der Ermattungskrieg. Es ist also kein Zufall, wenn jetzt das Kriegsgeschehen im Donbas dem des Ersten Weltkriegs an der deutschen Westfront frappierend ähnlich ist.

Ende des 19. Jahrhunderts hatte der Historiker Hans Delbrück in Anlehnung an bei Clausewitz zu findende Überlegungen zwischen Niederwerfungs- und Ermattungsstrategie unterschieden und damit in Deutschland den »Strategiestreit« ausgelöst, in dem es die preußische Militärelite als eine Frage der Ehre ansah, darauf zu bestehen, dass Preußen seine Kriege grundsätzlich nach den Vorgaben der Niederwerfungsstrategie geführt habe.

Zeit als strategische Ressource

Nur die wenigsten begriffen, dass es, wenn man auf eine Ermattungsstrategie setzte, darum ging, den Faktor Zeit in eine strategische Ressource zu verwandeln. Ob man sich das leisten konnte, war eine Frage der geopolitischen Konstellationen. Diese aber sprachen mit Verhängung der britischen Seeblockade gegen Deutschland. Das Problem war, dass der Große Generalstab in Berlin nicht von einer Kriegsbeteiligung der Briten ausgegangen war – eine politische Dummheit, wie sich bald herausstellen sollte.

Offenbar hat auch der Generalstab in Moskau nicht mit einer nachhaltigen Unterstützung der Ukraine durch den Westen gerechnet, was neben dem effektiven Widerstand der Ukrainer zum Scheitern seiner Kriegspläne führte. Im Übrigen ist der Partisanenkrieg eine Variante des Ermattungskrieges, bei dem nicht die geografischen Vorteile einer Seemacht, sondern die Opferbereitschaft einer Bevölkerung in die Waagschale des Krieges geworfen werden. Die Geschichte der Dekolonisation ist über weite Strecken eine Geschichte von Ermattungskriegen.

Bereits im November 1914 sprach der deutsche Generalstabschef von Falkenhayn gegenüber Reichskanzler von Bethmann Hollweg davon, das Beste, was die deutsche Seite in diesem Krieg noch erreichen könne, sei ein Unentschieden und Bethmann solle politisch darauf hinwirken, dass der Krieg in diesem Sinne beendet werde. Offenbar war sich Falkenhayn darüber im Klaren, dass ein nach den Vorgaben der Ermattungsstrategie geführter Krieg für Deutschland nicht zu gewinnen war.

Aber wie sollte es der Reichskanzler schaffen, die gegnerische Entente zu einem solchen Unentschieden zu bewegen, wenn man dort darauf setzte, dass man einen Ermattungskrieg am Ende gewinnen werde. Und wie sollte er der deutschen Bevölkerung klar machen, dass alle bisher gebrachten Opfer umsonst gewesen waren, dass der Krieg nicht gewonnen werden könne, wiewohl man »tief in Feindesland« stand.

An dieser Aufgabe ist Bethmann gescheitert, und in Gestalt der Dolchstoßlegende, dem angeblichen Stoß »verräterischer Elemente« in den Rücken des »im Felde unbesiegten Heeres«, hat das später zum Scheitern der Weimarer Republik beigetragen.

Auch hier befindet sich die Führung Russlands in einer ähnlichen Lage: Sie hat Siegeserwartungen geweckt, die nicht in Erfüllung gegangen sind. Sie sitzt in der Falle – wenn denn ihre Hoffnungen durch den Zusammenbruch der Ukraine nicht doch noch aufgehen. Aber das würde voraussetzen, dass der Westen die Ukraine fallen lässt, um das Putin-Regime zu retten. Das ist unwahrscheinlich. Es würde im Westen, vor allem in Mittel- und Osteuropa zu einer neuen »Dolchstoß«-Erzählung führen, in der die Deutschen gute Chancen auf die narrative Position des »Erdolchers« hätten.

Das kleine Zeitfenster der Diplomatie

Es gibt in Deutschland einige, die fordern, die Waffen sollten endlich schweigen, damit die Diplomaten mit Friedensgesprächen beginnen können – als ob das so einfach wäre, dass man nur wollen müsste. Sie haben die vorgestanzte Logik des Erschöpfungskrieges nicht begriffen. Ein solches »Umschalten« hat, wenn überhaupt, nur eine Chance in dem Zeitfenster zwischen dem Scheitern der Niederwerfungsstrategie und dem Beginn des Erschöpfungskrieges.

Hat der erst einmal begonnen, stehen die Diplomaten unter denselben Erfolgserwartungen wie die Militärs: Sie dürfen keinen Schritt zurückweichen, sonst werden sie der Feigheit oder Unfähigkeit, wenn nicht des »Dolchstoßes« bezichtigt. Sie werden dann abgelöst und durch erklärte Hardliner ersetzt. Derweilen geht der Krieg weiter, und die aufgeschobene Entscheidung wird im Erfolg der Ermattung gesucht. Je früher der eintritt, desto eher endet der Krieg.

Manche in Deutschland meinen, man solle das Ende des Ermattungskriegs herbeiführen, indem man die Waffen- und Munitionslieferungen an die Ukraine einstellt. Man müsste dabei freilich die europäischen Partner und auch die USA davon überzeugen, dass auch sie das tun. Andernfalls liefe es nur auf ein Ausscheren Deutschlands aus der bislang leidlich geschlossenen Front des Westens hinaus.

Die anderen würden den Ausfall Deutschlands kompensieren, Deutschland wäre isoliert, womöglich verantwortlich für das Ende der NATO und den Zerfall der EU. Und gleichzeitig würde der Krieg in der Ukraine weitergehen. Es wird also darauf ankommen, alles dafür zu tun, dass Russland beziehungsweise das Putin-Regime diesen Krieg infolge Erschöpfung beenden.

Kann die Diplomatie dabei eine Rolle spielen, dann die, dem Herrn im Kreml diesen Ausgang klar und deutlich vor Augen zu führen. Dabei wird sie umso überzeugender sein, je geringer die russische Aussicht ist, diesen Krieg irgendwie und irgendwann doch noch gewinnen zu können. Das ist die Logik des Erschöpfungskrieges, die nicht nur für das Militär, sondern auch für die Diplomatie gilt.

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