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© picture alliance / dpa | Ralf Hirschberger

Karl May und kein Ende: neue Literatur über einen schillernden Autor Krimineller, Schelm, Poet

»Die Liebe ist die einzige wirkliche Macht; alles Andere ist entweder Gewaltthätigkeit oder Verschlagenheit«, schrieb Karl May (1842–1912) in seinen Himmelsgedanken. Mit diesem Leitmotiv der Liebe und der Verbrüderung aller Menschen aus dem Jahr 1900 wollte er in seinem letzten Lebensjahrzehnt eine neue Epoche seines Schaffens einleiten. Maßgeblich angestoßen worden war Mays Aufbruch zu neuen Ufern durch die Eindrücke und Erlebnisse seiner ersten großen Orientreise 1899/1900, die bei ihm einen tiefen seelischen Zusammenbruch auslösten.

Die Jahre ab 1900 bedeuteten für May eine besondere biografische Tragik: Während er sich als Schriftsteller »neu erfinden« wollte und sich mit der Romanreihe Ardistan und Dschinnistan den von Arno Schmidt posthum verliehenen Titel als »letzter Großmystiker« der deutschen Literatur verdiente, geriet er in Deutschland in heftigste öffentliche Kontroversen: Die von May auf dem Höhepunkt seiner Popularität in den 1890er Jahren von ihm mit befeuerte Legende, selbst Old Shatterhand gewesen zu sein, brach zusammen.

Mehr noch, von Gegnern Mays wurden die mehrjährigen Haftstrafen in seiner Jugendzeit öffentlich gemacht und als Argument für die Forderung genutzt, ein ehemaliger Sträfling dürfe kein Schriftsteller für die Jugend sein. Darüber hinaus geriet May durch die Neupublikation früher Kolportageromane in den Fokus öffentlicher Debatten über vermeintliche »Schundliteratur«.

Einen beredten Eindruck von der inneren Wandlung Karl Mays bietet die im Rahmen der »Historisch-Kritischen Ausgabe« erschienene Gedichtsammlung Himmelsgedanken. Inhaltlich geht es in den Versen vor allem um die Liebe Gottes und das Gefühl des Menschen, in dieser Liebe aufgehoben und geborgen zu sein. Abgedruckt ist zwischen den Gedichten jeweils ein Aphorismus, meist mit religiösem Bezug.

Mitunter finden sich auch durchaus interessante allgemeinere Bemerkungen, etwa wenn May mit dem Satz »Die Erde wird dem Völkerfrieden nie freiwillig ihre Thore öffnen. Sie muß dazu gezwungen werden« seinen den Krieg als Mittel politischer Auseinandersetzung ablehnenden Anspruch deutlich macht und er einige Seiten weiter zudem festhält: »Das Morgenland hat dem Abendland geistig so viel, so viel geliehen, was dieses ihm mit Zinsen zurückzuerstatten hat. Wir werden noch lange, lange seine Schuldner sein.«

Wandel zum psychologischen Welterklärer

Die berühmten Grünen Bände der Gesammelten Werke Karl Mays werden seit einigen Jahren um Briefbände erweitert. Mit dem Briefwechsel mit seinen ›Kindern‹ liegt jetzt ein interessantes Konvolut mit Briefen von und an einige jugendliche Bewunderinnen und Bewunderer Mays vor. In den Briefen zeigt sich neben Mays durchschimmerndem Wunsch, als Vaterfigur gesehen zu werden, auch der Wandel des Selbstbildes des Schriftstellers – von der Old-Shatterhand-Legende hin zu einem Dichter und psychologischen Welterklärer. Spannend zu beobachten sind die Entwicklungen der Briefpartnerinnen und Briefpartner, die bei Weitem nicht schlichte Verehrerinnen bzw. Verehrer blieben, sondern zunehmend eigene Perspektiven auf May und dessen Werk entwickelten.

Eine bemerkenswerte Facette der intellektuellen Beschäftigungen Karl Mays nach der Jahrhundertwende bearbeitet Hartmut Wörner in seiner Studie Der Wegbereiter und der Lieblingsschriftsteller des ›Führers‹. Damit greift Wörner im Titel etwas provokant eine eher gängige Einordnung zu Houston Stewart Chamberlains intellektueller Vorbildrolle für die Entwicklung des Nationalsozialismus sowie eine polemische Wertung Klaus Manns zu Karl May auf.

Ausgangspunkt der Betrachtung ist ein Brief, den May im Jahr 1906 an Chamberlain schrieb und in dem er sich als Verehrer und Schüler des Letzteren bezeichnet. In Karl Mays Bibliothek findet sich ein Exemplar von Chamberlains Arbeit Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts. Die handschriftlichen Anmerkungen Mays zieht Wörner für die weitere Analyse heran.

Er macht insgesamt vier Interessenschwerpunkte Mays bei der Lektüre aus: erstens den Entwurf einer »Rassengeschichte« des Nahen Ostens, in deren Zentrum Chamberlain die Entstehung einer aus seiner Sicht auch im 19. Jahrhundert noch »rein« vorhandenen und kulturschädlichen »jüdischen Rasse« in vorchristlicher Zeit stellt; zweitens das Postulat und die Begründung der besonderen Bedeutung eines schöpferischen und kulturprägenden »Germanentums«, drittens die vehemente Kritik am römischen Katholizismus sowie schließlich viertens Chamberlains Überlegungen zum Verhältnis von Weltanschauung, Religion und Wissenschaft sowie zur Bedeutung von Kunst im selben Kontext.

Dabei verweist Wörner auf die in den gleichen Jahren von May öffentlich geäußerten positiven Bewertungen des Judentums, so dass er hier nicht von einer inhaltlichen Übereinstimmung der Positionen von May und Chamberlain ausgeht. Ambivalente Bezüge zu Chamberlain sieht Wörner etwa in Mays Roman Winnetou IV, in dem auch Fragen von »Rassenmischung« thematisiert werden – auch wenn am Ende des Buches doch die Idee einer globalen Verbrüderung aller Menschen stehe.

Abschließend setzt sich Wörner kritisch mit der von Klaus Mann im Exil 1940 publizierten und im Anhang des Bandes abgedruckten Einordung Mays als »Cowboy Mentor of the Führer« auseinander. Manns Behauptung, May habe als Autor die Brutalität der NS-Schergen mitgeschaffen und das Nazi-System sei der ultimative Triumph Karl Mays gewesen, wird Mays Intentionen in der Tat nicht gerecht.

Als einer der größten öffentlichen Widersacher Mays während des letzten Lebensjahrzehnts stellte sich der Journalist Rudolf Lebius (1868–1946) heraus. Lebius war bis zur Jahrhundertwende u. a. als Redakteur für die sozialdemokratische Presse tätig gewesen, hatte die SPD dann aber im Streit verlassen und betätigte sich fortan als Agitator mit Presseprojekten im Umfeld der »gelben Gewerkschaften«, also den – im Vergleich mit den »roten Gewerkschaften« – eher wirtschaftsfreundlicheren Arbeitnehmervertretungen.

Von Karl May wollte er finanzielle Unterstützung. Als dieser sich weigerte, begann Lebius die Vorstrafen des Schriftstellers öffentlich zu machen – eine Kampagne die darin gipfelte, Karl May als »geborenen Verbrecher« zu denunzieren. Die erste umfassende Biografie zu Lebius von Jürgen Seul schildert neben den Auseinandersetzungen von Lebius mit Karl May auch dessen weitere Lebensgeschichte.

So betätigte sich Lebius als Parteigründer in völkischen und antisemitischen Kreisen und blieb publizistisch gegen Karl May aktiv. Im Nationalsozialismus gelang ihm allerdings keine weitere Karriere, Informationsweitergabe an ausländische Zeitungen trug ihm sogar eine Verurteilung durch den Volksgerichtshof ein. Eine interessante biografische Ergänzung bildet ein Band mit Briefen von Lebius an den späteren preußischen Kultusminister Konrad Haenisch (1876–1925), mit dem er während seiner Zeit als sozialdemokratischer Journalist verbunden war. Mit seiner Zeit als Journalist in der Sozialdemokratie setzte sich Lebius u. a. mit einer mehrteiligen Artikelserie in seinem eigenen Zeitungsprojekt Sachsenstimme auseinander, die nun als Nachdruck vorliegt.

Wie sehr die Kontroversen um das vermeintlich richtige Bild von Karl May in der Öffentlichkeit bei einigen Betroffenen auch nach Mays Tod nachwirkten, zeigt die Publikationsgeschichte einer »kriminalpsychologische(n) Biografie« Karl Mays von Erich Wulfen (1862–1946). In den 1920er Jahren gehörte der als Staatsanwalt und Schriftsteller bekannte Autor zum Umfeld des Karl-May-Verlages sowie der Witwe Klara May, die ihn mit der Erarbeitung des Textes beauftragten.

Entstanden ist eine nüchtern und durchaus konsequent argumentierende Einordung, die mit Karl Mays krimineller Karriere hart ins Gericht geht, auf der anderen Seite aber die festgestellte kriminelle Fantasie auch als Ausgangspunkt der literarischen Fantasie versteht und dementsprechend festhält, Karl May sei beides gewesen, »Schelm und Poet«. Klara May, die wohl vor allem eine moralische Freisprechung ihres Mannes erwartet hatte, war über den Text entsetzt, und verbrannte das Manuskript an Silvester 1931.

Mit dem vorliegenden und von den beiden Herausgebern gut kommentierten Text auf Basis überlieferter Abschriften liegt diese Studie nun erstmals öffentlich zugänglich vor. Verglichen mit späteren Einordnungen urteilt der Autor in der Tat sehr hart und mit wenig Bereitschaft, biografische und gesellschaftliche Faktoren zur Erklärung von Karl Mays jugendlicher Delinquenz (mit) heranzuziehen.

Eine Reihe interessanter Texte zu Leben und Werk enthält auch das Jahrbuch 2020 der Karl-May-Gesellschaft, etwa Florian Schleburgs »Karl Mays apokrypher Koran«. Schleburg weist hier nach, wie Karl May tatsächliche, unzureichend übersetzte und frei erfundene Textstellen aus dem Koran in seine Romane einbaut – und dies zum Teil auch in Szenen, in denen gerade profundes Wissen der islamischen Religion vorgeführt werden soll.

Schalk im Nacken

In der Tendenz bietet der Text einen weiteren Baustein für die These, dass May entgegen seiner eigenen oftmals vorgetragenen Bildungsbeflissenheit bisweilen beim Schreiben auch der Schalk im Nacken gesessen haben muss. Albrecht Götz von Olenhusen beschreibt die Geschichte rund um die Entstehung von Arno Schmidts Karl-May-Studie Sitara und der Weg dorthin aus den 1950er und 60er Jahren und arbeitet dabei auch die wichtige Rolle des österreichischen Schriftstellers Paul Elbogen als inhaltlichen Anstoßgeber in der Exil-Zeitschrift Das neue Tagebuch im Jahr 1936 heraus.

Der Artikel ist in dem Sonderheft ebenfalls nachgedruckt. Den Beginn der neuen May-Rezeption in den 1960er Jahren behandelt der Band Abenteuer zwischen Wirtschaftswunder und Rebellion auf mehreren Ebenen. So zieht u. a. Malte Ristau einen popkulturellen Bogen vom Winnetou-Plakat des Jugendzimmers zum Che-Guevara-Plakat der Studentenbude, Gerd Ueding beschreibt die sehr wertschätzende Beschäftigung Ernst Blochs mit Karl May, und Helmuth Schmiedt schildert eindrücklich die Schwierigkeiten, die Beschäftigung mit Karl May als ernsthaftes Projekt in der akademischen Literaturwissenschaft durchzusetzen.

Die Figur des »Winnetou« gehört sicherlich zu den wirkmächtigsten Figuren, die in der deutschsprachigen Literatur entworfen wurden. Der emeritierte Koblenzer Germanistik-Professor Helmut Schmiedt hat der Romantrilogie nun eine umfassende Monografie gewidmet. Dabei skizziert er u. a. die immer tiefer greifende Verstrickung des Autors mit der Rolle selbst, »als wolle er ausprobieren, wie weit er mit seiner aus dem Ruder laufenden Selbstdarstellung gehen kann«.

Sehr erhellend sind auch die Beobachtungen Schmiedts zur Figur des »Westmanns« als einer von Karl May erfundenen Art und Weise der persönlichen Lebensgestaltung. Zentral für diese Gruppe von Figuren sei das Bereisen des amerikanischen Westens als Selbstzweck. Die Abenteuer in ihrem Leben passierten nicht auf dem Weg zu anderen Dingen, sondern verselbstständigten sich. Schmiedt macht hier die Suche nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit als zentrales Motiv für das gemeinsame Selbstverständnis der Westmänner aus.

Die fortdauernde Beschäftigung mit Karl May, mit seiner Person, seinen Themen, seinen Figuren und seinen persönlich-gesellschaftlichen Sichtweisen gibt letztlich einen beredten Hinweis auch über die Bedeutsamkeit und die inhaltliche Breite seines Werkes.

Joachim Biermann/Hartmut Wörner (Hg.): Karl May. Himmelsgedanken. Gedichte und Aphorismen aus der Zeit nach 1899. Historisch-Kritische Ausgabe. Karl-May-Verlag, Bamberg/Radebeul 2021, 648 S., 49 €. – Claus Roxin/Florian Schleburg/Helmut Schmiedt u. a. (Hg.): Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft 2020. Hansa, Husum 2020, 369 S., 29 €. – Jürgen Seul: Die Akte Rudolf Lebius. Auf den Spuren eines Skandaljournalisten zwischen Kaiserzeit und Drittem Reich. Karl-May-Verlag, Bamberg/Radebeul 2019, 409 S., 29,90 €. – Hartmut Vollmer/Hans-Dieter Steinmetz/Florian Schleburg (Hg.): Karl May. Briefwechsel mit seinen ›Kindern‹. Band I und II.; Karl Mays Gesammelte Werke und Briefe. Band 95 und 96. Karl-May-Verlag, Bamberg/Radebeul 2020, 608 und 619 S., jeweils 28 €. – Hartmut Wörner: Der Wegbereiter und der Lieblingsschriftsteller des ›Führers‹. Eine Studie zur Rezeption von Houston Stewart Chamberlains ›Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts‹ durch Karl May. Hansa, Husum 2020, 148 S., 14 €.

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