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© Foto: picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild | Jens Büttner

Neuere Literatur über die Gefahren für die liberale Demokratie Krise, Dämmerung, Zerfall, Tod…

In der Süddeutschen Zeitung wurde schon von »Demokratiedämmerungsliteratur« (Sonja Zekri) gesprochen, die in den Bücherregalen lagert, denn alle Autoren teilen eine Einschätzung: Die Demokratie leidet. Sie leidet unter dem Bedeutungsverlust ihrer Institutionen und an unübersichtlichen Entscheidungsverfahren, unter dem Aufstieg des Rechtspopulismus (von dem zurzeit die größte Bedrohung für sie ausgeht) und sie leidet – nicht zuletzt – an mangelndem Selbst- und Sendungsbewusstsein.

Das war zu Beginn des 21. Jahrhunderts noch anders, obwohl Colin Crouch schon damals das Heraufziehen postdemokratischer Zustände in konsolidierten Demokratien beschwor. In Postdemokratie revisited räumt er jetzt aber ein, stark übertrieben und den Rechtspopulismus sträflich unterschätzt zu haben. Wer also ein postdemokratisches System studieren möchte, sollte nicht länger Großbritannien unter Tony Blair betrachten, sondern Ungarn unter Victor Orbán.

Dass die Kritik der nicht-sozialdemokratischen Linken an den real existierenden Demokratien des Westens unter dem Eindruck autokratischer Tendenzen inzwischen deutlich moderater ausfällt als früher, belegt auch das neueste Buch von Donatella della Porta. Während sie in ihren früheren Schriften nicht müde wurde, der Parteiendemokratie deliberative oder partizipative Konzepte als höher entwickelte Formen der Partizipation entgegen zu stellen, gibt sie unter dem Eindruck der rechtspopulistischen Gefahr diese konfrontative Haltung auf: Progressive soziale Bewegungen sollen nun die liberale Demokratie unterstützen und erneuern, jedenfalls nicht länger als »Zombie-Demokratie« (David Runciman) entlarven. Doch die in Florenz lehrende italienische Politologin bleibt auf dem rechten Auge blind – moderne nationalistische oder autoritäre, xenophobe oder antisemitische soziale Bewegungen finden bei ihr leider keine Beachtung.

Überschaut man die in den vergangenen Jahren stark angewachsene Literatur über die Stagnation demokratischer Bewegungen, dann war die überraschende Wahl von Donald Trump der entscheidende Anstoß für eine Rückbesinnung auf die Kernelemente demokratischer Systeme. Dass in der ältesten Demokratie der Welt, den Vereinigten Staaten von Amerika, ein narzisstischer Psychopath in den Besitz des Atomkoffers gelangen konnte, gilt weiterhin als ein Menetekel, auch wenn es den Demokraten gerade noch so eben gelang, Trump in das Rentnerparadies Florida zu befördern. Die Analysen der angelsächsischen Autoren sind für die europäischen Verhältnisse dennoch nur von bedingter Aussagekraft. Die Mechanismen präsidentieller Regierungssysteme unterscheiden sich von denen parlamentarischer Demokratien und ein stark polarisiertes Zweiparteisystem produziert andere politische Konstellationen als ein Mehrparteiensystem, welches lagerübergreifende Bündnisse oder gleich mehrfach hintereinander Große Koalitionen hervorbringt.

Doch es bestehen nicht nur strukturelle Unterschiede. Politisch-kulturelle Konfliktlinien lassen sich nicht über einen nationalen Leisten schlagen. So spielt der Streit um die linke Identitätspolitik in der US-Politik eine größere Rolle als in Italien, Deutschland oder Portugal. Dies heißt wiederum nicht, dass sich daraus nichts lernen ließe. Ähnlich wie der an der New Yorker Columbia University Ideengeschichte lehrende Politikwissenschaftler Mark Lilla urteilt sein Kollege David Runciman aus Cambridge, dass linke Identitätspolitik das populistische Feuer geradezu nähre. Steven Levitsky und Daniel Ziblatt sehen zwar das Problem, möchten von einer solchen Politik jedoch nicht abrücken. Sie hegen stattdessen generelle Zweifel daran, ob sich ausgeprägte ethnische Vielfalt in einer modernen Gesellschaft noch mit der Nation als politischem Subjekt eines demokratischen Staatswesens in Einklang bringen lässt.

Der Politikwissenschaftler Yascha Mounk, der sich auf dem nordamerikanischen Kontinent ebenso vorzüglich auskennt wie auf dem europäischen, sieht die tiefere Ursache für die Krise der liberalen Demokratie im Auseinanderfallen ihrer zwei Kernelemente. Auf der einen Seite würden neutrale Institutionen, die das Mehrheitsprinzip der Demokratie einhegen, permanent höchste Entscheidungen fällen – ohne jegliche Partizipation der Bürger – und so dem parlamentarischen Leben immer mehr Energie absaugen. Auf der anderen Seite verlören (man ist geneigt zu sagen: folgerichtig) die klassischen Institutionen der politischen Demokratie immer stärker an Rückhalt vor allem unter den jüngeren Wahlbürgern. Diese Doppelkrise der liberalen und elektoralen Dimension moderner Demokratie wird nach Ansicht Mounks durch eine fortschreitende soziale Fragmentierung westlicher Gesellschaften unterlegt, die wiederum den Nährboden für populistische Bestrebungen abgibt, die die Fiktion einer Einheit des Volkes beschwören.

Parlamentarische Repräsentationslücke

Die nicht nur empirisch gehaltvolle Studie von Armin Schäfer und Michael Zürn führt die Erosion der Demokratie in den europäischen Gesellschaften ebenfalls auf eine »doppelte Entfremdung« zurück. Schäfer und Zürn folgen Mounk, wenn sie beklagen, dass immer mehr hochpolitische Entscheidungen in nicht-demokratischen Institutionen nationaler, supranationaler oder internationaler Provenienz getroffen werden. Die Entfremdung der Bürger von der Demokratie besitzt für sie eine zweite zentrale Ursache in der selektiven sozialen Responsivität der Parlamente, die inzwischen eine erhebliche Repräsentationslücke aufgerissen habe.

Weniger soziologisch ausgedrückt: Die Parlamentarier seien empfänglicher für Themen aus ihrer eigenen Lebenswelt und diese sei nun einmal die der gehobenen Mittelschicht. Die einfache Bürgerin finde weder ausreichend Gehör noch fühle sie sich politisch repräsentiert. Eben diese politische Konstellation (und nicht so sehr die sozialökonomische oder soziokulturelle Konfliktlinie) ruft nach Ansicht der beiden Politikwissenschaftler einen »autoritären Populismus« (so bereits Steven Levitsky und Lucan A. Way 2002) auf den Plan, der mit seinem dezidiert antiliberalen, elektoralen Dezisionismus die kleinen Leute zurück in die politische Arena holt.

Dieser autoritäre Populismus, der sich als Bewegung der Ungehörten inszeniert, tritt uns in veritabler, parteiförmiger Gestalt entgegen, auch wenn die Rechtspopulisten lieber als Bürgerbewegung von unten denn als etablierte politische Partei erscheinen möchten. Doch in letzterem liegt ihr eigentliches Erfolgsgeheimnis. Spätestens an dieser Stelle wäre deshalb nach Rolle, Zustand und Zukunft der politischen Parteien zu fragen, aber die Analysen in der aktuellen Literatur bleiben ebenso blass wie manche Erneuerungsvorschläge. Dies erstaunt. Denn sowohl präsidentielle wie parlamentarische Systeme basieren auf Parteien. Oder anders gesagt: Es war allenthalben von der Krise der liberalen Demokratie die Rede, aber nicht von der Parteiendemokratie. Schäfer und Zürn konzedieren immerhin, dass Parteien und Parlamente die zentralen Institutionen bleiben, »mittels derer Menschen mit geringer Qualifikation Einfluss auf Entscheidungen erlangen«. Doch statt dieser Spur zu folgen, führen die Autoren immer wieder sozialökonomische oder sozio-kulturelle Gründe für die demokratische Regression an: allen voran die Vorrangstellung neoliberaler Globalisten, die sich mit ihrem ökonomischen Gewicht der politischen Institutionen bemächtigt hätten und zusammen mit den modernen Mittelschichten, die ihren Kindern eine möglichst kosmopolitische Lebensweise als kulturelles Kapital mitgeben möchten, ein taktisches Bündnis gegen die Kritiker des globalen Kapitalismus formen.

David Runciman macht die Parteien dagegen direkt für die Krise der Demokratie verantwortlich: Es handele sich bei ihnen inzwischen um künstliche Gebilde, die Funktionäre statt Politiker hervorbrächten und nichts für »echte« Bürger seien. Sein britischer Kollege Crouch behauptet dies – vor allem bezogen auf New Labour – ja seit Längerem und setzt deswegen inzwischen auf die dritte Gewalt im demokratischen Staat, die unabhängige Rechtsprechung, was indes wenig überzeugend erscheint, weil sich politische Phänomene schwerlich mit richterlicher Gewalt zähmen lassen.

Positiver beurteilen Levitsky und Ziblatt Parteien; sie begreifen sie nach wie vor als Wächter der Demokratie, müssen aber einräumen, dass die »Grand Old Party« in dieser Hinsicht gründlich versagt hat. Bis heute sind die Republikaner weder Trump noch dessen populistischen Ungeist losgeworden.

Noch genauer beschreibt der in Princeton lehrende deutsche Politikwissenschaftler Jan-Werner Müller politische Parteien und Massenmedien als zentrale Bestandteile einer »kritischen Infrastruktur« der modernen Demokratie. Parteien höben den vermeintlichen Widerspruch zwischen Repräsentation und Partizipation auf, und seien durchaus imstande, die Demokratie neu zu beleben, wenn sie genügend Bürger zum Mitmachen bewegen könnten.

Noch deutlicher als Müller wird der Lüneburger Lehrstuhlinhaber für das politische System der Bundesrepublik und der Europäischen Union Michael Ko: Allein Parteien könnten tragfähige politische Mehrheiten entlang sich wandelnder gesellschaftlicher Konfliktlinien organisieren. Gerade in den heutigen fragmentierten politischen Systemen seien angesichts komplexer Prozesse der Mehrheitsbildung stabile Parteien vonnöten. Diese Stabilität ist in Deutschland und Österreich zurzeit allerdings nicht gegeben. Dagegen kann man den überkommenen Parteien in den USA oder in Großbritannien eine gewisse Zähigkeit und großen Überlebenswillen kaum absprechen. Die Frage also bleibt: Wieso behaupten sie ihre Position besser als die Parteien auf dem europäischen Kontinent? Liegt dies nur am Wahlsystem?

Der akademischen »Demokratieverteidigungsindustrie« (Jan-Werner Müller) fällt ein klares Plädoyer für die Parteiendemokratie fast immer schwer. Yascha Mounk, der früher bei den Jusos war, betont immerhin das politische Moment, wenn er als erstes Mittel gegen den Rechtspopulismus verlangt, diesen an den Wahlurnen (und nicht vor Gerichten, in Blogs oder auf der Straße!) zu schlagen, etwas, was nur mit starken demokratischen Parteien gelingen kann. Schäfer und Zürn plädieren dafür, zuerst den Bürgern mehr Vertrauen entgegenzubringen, verlangen aber vorsichtshalber auch mehr und bessere politische Bildung. Wenn es um die Kandidatenauswahl beim Wählen geht, trauen sie den Parteien wieder etwas mehr zu als den Bürgern und lehnen das Panaschieren und Kumulieren ab. An die Parteien richtet sich die bekannte Forderung, überkommene Rekrutierungsmuster zu ändern. Doch so richtig es ist, nicht nur Eigengewächse aus dem politischen Betrieb ohne Lebens- und Berufserfahrungen hoch kommen zu lassen, beheben Seiteneinsteiger weder das Problem der Kastenbildung noch erfüllen sie in der Regel die in sie gesetzten Hoffnungen. Sie kaschieren eher die Eigenlogiken in einer als Schicksalsgemeinschaft empfundenen politischen Formation aus Berufspolitikern – die sich offenbar umso mehr abschließt, je mehr sie unter Druck gerät und an äußerem Ansehen verliert.

Weniger die Infrastruktur der Demokratie als vielmehr ihre Voraussetzungen behandelt ein aus der Fülle der Literatur herausragendes Buch. Interesse erweckt schon allein der Umstand, dass es sich um den politisch-philosophischen Traktat eines ehemaligen Staatsministers der Bundesregierung handelt. Hier spricht also jemand, der beides gelernt hat: zu reflektieren und zu regieren. Julian Nida-Rümelin sieht die Demokratie in den westlichen Ländern ebenfalls gefährdet. Für ihn stehen nicht nur ihre politischen Institutionen auf dem Prüfstand, sondern auch ihr Selbstverständnis als Lebensform. Das Fundament der modernen Demokratie bildet nach Nida-Rümelin eine aufgeklärte Zivilgesellschaft aus sich als frei und gleich begegnenden Bürgern. Doch dieses Fundament zeigt inzwischen nicht nur Risse. Es bröckelt. Gesellschaftliche Spannungen, soziale Ungleichheit und nicht zuletzt die mutwillige Zerstörung des öffentlichen Diskurses wie ihn zum Beispiel Trump mit seinen Twitter-Kampagnen im Stil einer digitalen SA betrieben hat, gefährden die von Nida-Rümelin beschriebene Rationalität der Demokratie, deren historischer Fortschritt eben darin bestehe, individuelle und kollektive Rationalität gleichermaßen zu ermöglichen.

Kritisch verhält sich der Autor gegenüber den Verheißungen der direkten Demokratie (führe in ein Entscheidungschaos), gegenüber Konzepten rein demokratischer Verfahren (die Mehrheitsregel schaffe ohne einen normativen Minimalkonsens keineswegs Akzeptanz) oder gegenüber den Forderungen nach einer repräsentativen Zusammensetzung von Parlamenten (Legitimität erfolge über Zustimmungsfähigkeit zu Entscheidungen, nicht darüber, wer entschieden hat). Und die Parteien? Obschon Nida-Rümelin sie nicht direkt anspricht, spielen sie doch eine wichtige, nein: die entscheidende Rolle – für die parlamentarische Demokratie, für den Austausch zwischen Zivilgesellschaft und Staat sowie für die allgemeine politische Willensbildung.

Der Rechtspopulismus wird von allen Autoren als die größte Gefahr für die liberale Demokratie beschrieben. Bei der Bestimmung dessen, was Rechtspopulismus eigentlich ist, hat sich die methodisch schmale Definition von Jan-Werner Müller weitgehend durchgesetzt, nach der Populismus ein politischer Stil sei. Doch neigen wiederum sämtliche Autoren dazu, den Rechts- oder autoritären Populismus inhaltlich zu präzisieren. Dabei fällt eine Gemeinsamkeit auf, die zu einer weitergehenden Frage führt.

Die Gemeinsamkeit besteht darin, dem Rechtspopulismus eine starke nationalistische Komponente zuzuschreiben. Die Frage, die sich dabei aufdrängt, lautet: Verwenden wir den Begriff Rechtspopulismus nicht eher deshalb, um einen vermeintlich unzeitgemäßen, weil für überwunden geglaubten ethnischen Nationalismus zu umschreiben? Vielleicht haben wir es ja nicht nur mit einer populistischen Welle zu tun, sondern auch mit einer tiefergehenden Neuausrichtung der politischen Rechten in den Demokratien des Westens, die wieder zu nationalistischen Methoden greift, nachdem die europafreundlichen christdemokratischen Parteien ihre Orientierungskraft eingebüßt haben.

Colin Crouch: Postdemokratie revisited. edition suhrkamp, Berlin 2021, 278 S., 18 €. – Donatella della Porta: Die schöne neue Demokratie. Über das Potential sozialer Bewegungen. Campus, Frankfurt am Main 2020, 254 S., 34,95 €. – Michael Koß: Demokratie ohne Mehrheit? Die Volksparteien von gestern und der Parlamentarismus von morgen. dtv, München 2021, 270 S., 20 €. – Steven Levitsky/Daniel Ziblatt: Wie Demokratien sterben. Und was wir dagegen tun können. DVA, München 2018, 320 S., 22 €. – Mark Lilla: The Once and Future Liberal. After Identity Politics. Harper Collins, New York 2017, 143 S., 25,99 €. – Yascha Mounk: Der Zerfall der Demokratie. Wie der Populismus den Rechtsstaat bedroht. Erw. Taschenbuchausgabe, Droemer, München 2019, 360 S., 12 €. – Jan-Werner Müller: Freiheit, Gleichheit, Ungewissheit. Wie schafft man Demokratie? Suhrkamp, Berlin 2021, 270 S., 24 €. – Julian Nida-Rümelin: Die gefährdete Rationalität der Demokratie. Ein politischer Traktat. Edition Körber, Hamburg 2020, 299 S., 22 €. – David Runciman: So endet die Demokratie. Campus, Frankfurt/New York 2020, 230 S., 19,95 €. – Armin Schäfer/Michael Zürn: Die demokratische Regression. Die politischen Ursachen des autoritären Populismus. edition suhrkamp, Berlin 2021, 247 S., 16 €.

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