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Was Deutschland und die EU leisten müssen Krisenregion arabische Welt

Die arabischen Länder der MENA-Region (Middle East & North Africa) bilden heute die größte Krisenregion der Erde. Im Fokus stehen dabei die drei internationalisierten Bürgerkriege in Syrien, Libyen und im Jemen. Bereits im zehnten Jahr sind sie verantwortlich für humanitäre Katastrophen, die Zerstörung der Städte einschließlich der Infrastruktur, den Verlust ungezählter Menschenleben und die Flucht von Millionen aus ihrer Heimat. Mittlerweile haben allein sieben Millionen Syrer ihre Heimat verlassen, das ist ein Drittel der Bevölkerung. Die meisten davon leben in der Türkei oder in riesigen Flüchtlingslagern in Jordanien und im Libanon, zwei Länder, die selbst um ihr Überleben kämpfen.

In der gesamten Region dominieren autoritäre und repressive Systeme. In den Golfstaaten regieren autokratische Dynastien, die Menschenrechte mit Füßen treten und Demokratie verachten. Monarchien sind ebenso Marokko und Jordanien, und in Ägypten regiert seit dem Putsch 2013 uneingeschränkt das Militär, das die freie Meinungsäußerung verbietet und Kritiker in die vielen neu entstandenen Gefängnisse verbannt.

Seit Generationen erleben die Menschen in diesen Ländern den Staat als zudringlich und schikanös, als ein Gebilde geprägt von bürokratischer Maßlosigkeit, Repression und als Selbstbedienungsladen korrupter Eliten. Zuletzt hat die COVID-Pandemie die Folgen von Korruption und schlechter Regierungsführung, ein marodes und chronisch unterfinanziertes Gesundheitswesen und haarsträubend unzureichende soziale Sicherungssysteme deutlich sichtbar gemacht. Die internationalen und geostrategischen Konfliktlinien in der MENA-Region wurden durch Corona allerdings weder reduziert noch eingedämmt, sondern unverändert weitergeführt.

Düstere Perspektiven

Die Länder Nordafrikas und des Nahen Ostens sind im Ergebnis zur einzigen Region der Welt geworden, in der die Armut seit 2010 im Schnitt deutlich zugenommen hat. Ein Viertel der Menschen lebt heute bereits unter der Armutsgrenze, ein weiteres Drittel ist nach Angaben der Weltbank kurz davor in Armut abzugleiten. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt – sogar nach offiziellen Zahlen – bei über 30 %. In keiner Weltregion sind es mehr. Und die Perspektiven für die Zukunft sind schlecht: Zwei Drittel der Bevölkerung sind jünger als 35 Jahre. Mit diesem Bevölkerungswachstum kann die ohnehin schwache Wirtschaft niemals Schritt halten. Der Migrationsdruck steigt.

Die Frage, warum wir uns in Europa mit all diesen beunruhigenden Befunden beschäftigen sollten, ist schnell beantwortet. Die Länder Nordafrikas und im Nahen Osten liegen unmittelbar vor der Haustür der Europäischen Union. Die Entfernung zwischen der Nordspitze Tunesiens und Sizilien beträgt gerade einmal 150 Kilometer und von der marokkanischen Mittelmeerküste aus kann man die Strände Andalusiens mit bloßem Auge sehen. Alles was dort geschieht hat früher oder später unmittelbare Auswirkungen auf Europa. Deshalb ist es höchste Zeit und eine vordringliche Aufgabe der europäischen und deutschen Außenpolitik, endlich ein neues nachbarschaftliches Verständnis für die Länder des Maghreb, für Ägypten und den Nahen Osten zu entwickeln und ein Konzept für eine einheitliche europäische Herangehensweise zu entwerfen.

Europäische Mittelmeerpolitik: Abschottung und Gleichgültigkeit

Aus europäischer Sicht war das Mittelmeer einst der verbindende, gemeinsame Kultur-, Wirtschafts- und Handelsraum mit Nordafrika und der Levante-Küste. Längst ist daraus eine Art Systemgrenze, eine Mauer der Gleichgültigkeit, mehr noch, der Abschottung geworden. So lautstark und berechtigt die Kritik aus Europa an den Plänen von US-Präsident Donald Trump am Bau einer Mauer zu Mexiko gewesen ist, so sehr dienen der EU das Mittelmeer, Frontex und die Küstenwachen der nordafrikanischen Staaten dem gleichen Zweck: als Bollwerk zur Abwehr unerwünschter Immigration. Längst hat die EU auch einen großen Teil ihrer Grenzsicherung an die Zäune der spanischen Enklaven Ceuta und Melilla, mit Hilfe von Abkommen in türkische Flüchtlingscamps oder in menschenunwürdige Lager in Libyen ausgelagert. Das ist gegenwärtig der Kern der europäischen Mittelmeerpolitik. So darf es keinesfalls bleiben. Das Mindeste, was man erwarten kann, wäre eine EU-Initiative zur nachhaltigen Verbesserung der Lebensbedingungen in den Flüchtlingslagern der Region.

Im Mittelpunkt der notwendigen Neukonzeption europäischer Nachbarschaftspolitik muss – im gegenseitigen Interesse – eine rasche Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Lebensbedingungen der Bevölkerung in den arabischen Ländern stehen. Dafür ist eine Intensivierung der Handelsbeziehungen und eine engere Anbindung – in einem ersten Schritt von Tunesien und Marokko – an den EU-Binnenmarkt wünschenswert. Dazu müssen die bestehenden Assoziierungsabkommen weiterentwickelt werden, um einen Status zu erreichen, der oft als privilegierte Partnerschaft bezeichnet wird. Umfangreichere Investitionen in den Bereichen Energie (zum Beispiel beim grünen Wasserstoff), Umwelt und Gesundheit, Digitalisierung, berufliche Bildung und Bildung ganz allgemein sind dabei Kooperationsfelder von drängender Bedeutung für die Region.

Zurückgefahren werden müssen dagegen die europäischen und die deutschen Rüstungsexporte, die immer wieder die Militarisierung der Außenpolitik arabischer Staaten beschleunigt haben. Insbesondere Algerien und Ägypten gehören seit Jahren zu den Hauptempfängern deutscher Rüstungslieferungen, ebenso die Golfstaaten trotz des kürzlich verlängerten Exportstopps für Saudi-Arabien. Mit diesen Waffenlieferungen verhilft man autoritären Regimen zu unerwünschten Prestigeerfolgen und entzieht diesen Ländern gleichzeitig enorme finanzielle Ressourcen, die dringend für ein besseres Bildungs- und Sozialsystem gebraucht werden. Die Stabilisierung der Region ist für die deutsche und europäische Außen- und Sicherheitspolitik alternativlos. Dabei kann es aber nicht darum gehen, autoritäre und repressive Diktaturen als »Stabilitätsanker« zu hofieren. Regime, die Meinungsfreiheit und Zivilgesellschaft unterdrücken, können vielleicht kurzfristig Ruhe und Stabilität garantieren, aber sie haben ein Verfallsdatum. Auf sie zu setzen wäre ebenso kurzsichtig wie gefährlich. Gerade eine neue, zukunftsorientierte Nachbarschaftspolitik darf Konflikte und Meinungsverschiedenheiten nicht ausblenden und muss Menschenrechtsverletzungen immer beim Namen nennen.

Deutschland als »ehrlicher Makler«

Deutschland hat gute Ausgangsbedingungen für politisches und diplomatisches Handeln in der arabischen Welt und weniger historischen Ballast in seinem Rucksack. Wir haben keine koloniale Vergangenheit in der Region und waren an den jüngeren Militäroperationen im Irak und in Libyen nicht beteiligt. Dies eröffnet der deutschen Außenpolitik die Chance, ohne neokoloniale Attitüde und erhobenen Zeigefinger, sondern mit aufrichtigem Interesse, Respekt und als »ehrlicher Makler« zwischen Konfliktparteien zu vermitteln.

Die wichtigsten Bausteine für die angestrebte Stabilisierung der Region sind Friedenslösungen in Libyen, Syrien und im Jemen, den Ländern in denen seit Jahren internationalisierte Bürgerkriege wüten. Es darf deshalb als Erfolg, auch der deutschen Diplomatie, gewertet werden, dass jüngst beim »Politischen Dialogforum Libyen« in Genf ein großer Schritt für eine Friedenslösung in Tripolis vereinbart werden konnte, indem sich die Vertreter der drei großen Regionen des Landes (Tripolitanien, Kyrenaika und Fessan) und die verschiedenen Bürgerkriegsparteien auf eine gemeinsame Übergangsregierung einigen konnten. Das diplomatische Fundament für diesen Erfolg war im Januar 2020 auf einer Konferenz in Berlin gelegt worden.

Doch diese Einigung ist nur eine Momentaufnahme. Ob daraus eine dauerhafte Festigung und Stabilisierung Libyens, das über Jahre als failed state bezeichnet werden musste, erfolgen wird, ist offen. Es wird auch von ausländischen Kriegsparteien, wie der Türkei, Russland und Ägypten abhängen, die diesen Friedensprozess akzeptieren müssen, ebenso wie von den unterschiedlichen »Status-quo-Profiteuren«, Milizen und Warlords.

Das Land ist ein Testfall. Sollten sich die Hoffnungen erfüllen, würde ein stabilisiertes Libyen auch positiv auf die Region, insbesondere auf das Nachbarland Tunesien ausstrahlen. Ein Erfolg könnte auch das Ansehen der EU als Problemlöser deutlich steigern.

Zudem ist es in diesem Fall gelungen, eine wichtige Voraussetzung für eine gemeinsame europäische Politik zu erreichen, nämlich eine einheitliche Haltung der wichtigen EU-Mitglieder Frankreich und Italien, die in Libyen jahrelang gegensätzliche wirtschaftliche und politische Interessen verfochten hatten. Die französische, traditionell autoritätsorientierte Außenpolitik muss auch in Zukunft wesentlich stärker in eine einheitliche europäische Linie eingebunden werden. Der Weltmachtanspruch der Grande Nation, die Verfolgung nationaler rüstungspolitischer Ziele und das Hofieren von Diktatoren und Autokraten durch Präsident Macron passen nicht in das Konzept einer gemeinsamen EU-Nahost- und Afrikapolitik.

Einen Funken Hoffnung gab es Anfang Februar dieses Jahres auch für die im jahrzehntelangen Bürgerkrieg geschundene Bevölkerung im Jemen. In seiner ersten außenpolitischen Grundsatzrede nannte der neue US-Präsident Joe Biden diesen Krieg eine »humanitäre Katastrophe« und kündigte eine diplomatische Offensive an, um das Blutvergießen endlich zu beenden. Damit läutete er zugleich eine Kurskorrektur der USA gegenüber Saudi-Arabien ein. Tatsächlich scheint es im Bereich des Möglichen, die Kriegstreiber in Riad zum Einlenken zu bewegen. Verbündete wie Ägypten und die Vereinigten Arabischen Emirate suchen schon seit Längerem nach einer Exit-Strategie, zudem haben gesunkene Ölpreise den Spielraum des saudischen Kronprinzen Mohammed bin Salman eingeschränkt. Die EU, in diesem Konflikt bislang ohne eigene Handlungsoption, sollte die neue Lage als strategische Chance begreifen und sich für eine Friedensmission der Vereinten Nationen im Jemen stark machen. Erst ein landesweiter Waffenstillstand könnte zu einer Stabilisierung der Lage führen.

Damit erscheint ein Ende des Krieges im Jemen sogar wahrscheinlicher als in Syrien. Dort ist die militärische Auseinandersetzung zugunsten Assads zwar entschieden, eine Friedenslösung aber noch lange nicht in Sicht. Auch hier hängt die Zukunft von der Haltung ausländischer Mächte ab, die faktisch Kriegsparteien waren und weiterhin sind: der Türkei, des Iran und Russlands, das eine starke Stellung in der Region gewonnen hat, wogegen der Einfluss der EU und der USA weiter zurückgegangen ist.

Sonderfall Iran

Eine mögliche Neuausrichtung der Nahostpolitik durch die neue US-Administration sollte von der EU vor allem zu einer energischen Verstärkung der diplomatischen Initiativen in Richtung Iran genutzt werden. Vom Großkonflikt zwischen Saudi-Arabien und dem Iran, von der politischen wie militärischen Einflussnahme des Iran im Jemen, im Irak, in Syrien und im Libanon, sowie insbesondere vom Streben Teherans nach atomarer Bewaffnung geht gegenwärtig die größte Bedrohung für Frieden und Stabilität im Nahen Osten aus. Innerhalb der EU musste man erkennen, wie begrenzt die politischen Möglichkeiten angesichts der US-Sanktionen bisher gewesen sind. Umso wichtiger wäre es jetzt, so gut es geht, auf den neuen amerikanischen Präsidenten und seinen Außenminister Anthony Blinken einzuwirken, in eine neue Gesprächsrunde mit dem Iran einzutreten. Die Ernennung von Rob Malley, einem der besten Kenner der komplexen Lage im Nahen Osten, zum neuen US-Sondergesandten für den Iran, ist jedenfalls ein gutes Zeichen. Ob es allerdings gelingt, das von den USA einseitig gekündigte Atomabkommen wiederzubeleben, ist zweifelhaft. Gegen die politische Führung in Teheran herrscht mittlerweile, nicht nur in Washington, tiefes Misstrauen. Ermutigende Signale aus Teheran sind bislang leider ausgeblieben. Umso mehr müssen die EU und die USA schnell zu einer gemeinsamen Linie finden, allein schon um den gestiegenen Einfluss Chinas zurückzudrängen. Es ist im globalen Interesse, zu verhindern, dass sich die Region nuklear bewaffnet.

Ein unverrückbarer Kernbestandteil deutscher Außenpolitik in der Region wird weiterhin die Sicherung des Existenzrechtes des Staates Israel bleiben. Keine im Bundestag vertretene Partei würde diese Maxime in Zweifel ziehen. Auch aus dieser Verantwortung für die Sicherheit Israels heraus muss ein neues Atomabkommen mit dem Iran vereinbart werden. Davon unbenommen kann und muss die israelische Politik der letzten Jahre kritisiert werden. Der massive Siedlungsbau im Westjordanland geschah und geschieht weiterhin ohne jegliche rechtliche Grundlage. Eine Zwei-Staaten-Lösung, wie sie Deutschland und die EU weiterhin anstreben, ist dadurch nahezu unmöglich geworden. Hinzukommt die Selbstdefinition Israels als »jüdischer Staat«. Dieser mehr als fragwürdige ethnische Nationalismus widerspricht dem elementaren Grundsatz jeder Demokratie, allen ihren Bürgerinnen und Bürgern die gleichen Rechte einzuräumen, unabhängig von deren Religion und Ethnie.

Unterstützt, ja geradezu angefeuert wurden Israels Ministerpräsident Benjamin Netanyahu und seine rechte Koalitionsregierung durch den sogenannten Friedensplan, den Trumps Schwiegersohn Jared Kushner vorgelegt hatte. Dieser hat zwar dazu geführt, die Beziehungen einiger arabischer Staaten wie Saudi-Arabien oder Marokko zu Israel zu normalisieren, hat aber keine Friedensperspektive aufgezeigt. Eine solche wird es ohne Einbeziehung der Palästinenser und ohne eine Anerkennung ihrer Rechte nicht geben können. Die heftigen Auseinandersetzungen und gegenseitigen Bombardements zwischen Israel und der Hamas haben der Welt aktuell erneut vor Augen geführt, in welch weiter Ferne eine Friedenslösung liegt.

Ausblick

Es ist gut, dass die USA zu einem multilateralen Konzept zurückkehren wollen. Europa muss jetzt auf eine Lösung drängen, in der beide Parteien, Israel und die Palästinenser, miteinander wieder im Gespräch sind und eine friedliche Lösung anstreben. Diese könnte nach meiner Auffassung auch in einem föderalen Modell, also einer Konföderation Israel-Palästina liegen. Föderale Modelle könnten darüber hinaus auch in anderen labilen Staaten wie dem Irak zukunftsorientierte Lösungen darstellen. Dadurch wäre beispielsweise auch eine relative Eigenstaatlichkeit der Kurden im Nordirak innerhalb einer irakischen Föderation zu bewerkstelligen.

In der Vergangenheit konnte die EU ihre Interessen nach Stabilisierung und Befriedung der Region nicht durchsetzen. Andere Akteure wie Russland, die Türkei, die Golfstaaten, auch China und natürlich der Iran, ja sogar islamistische Terrorgruppen wie der IS dominierten das Geschehen, nachdem die USA ein politisches Vakuum haben entstehen lassen. Die vorsichtig optimistischen Signale aus Libyen und dem Jemen lassen ein klein wenig Hoffnung zu. Dennoch bleibt die MENA-Region weitgehend ohne funktionierende Regelungsmechanismen zur Eindämmung von Krisen und Konflikten. Die Arabische Liga, der Zusammenschluss der 22 arabischen Staaten, ist seit Langem zutiefst zerstritten und handlungsunfähig. Zudem geben die schlechte wirtschaftliche Lage, die teilweise desaströsen Umweltprobleme, Korruption, politisches Missmanagement und insbesondere der anhaltende Großkonflikt um die regionale Vormachtstellung zwischen Saudi-Arabien und dem Iran wenig Anlass zum Optimismus. In diesem Kontext muss sich die deutsche Außenpolitik bewegen und bewähren.

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