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Kulturpolitik nach der arabischen Revolution Künstler als Seismografen in gesellschaftlichen Transformationsprozessen

»Welches Theater wollen die Menschen in dieser Zeit überhaupt sehen?« Raed, Mohammad und Ihab, drei Schauspieler aus Hebron, thematisieren Theater in Zeiten politischer Umbrüche auf der Bühne. Die Inszenierung 3 zu 1 vom palästinensischen »YES Theatre« war zu Gast auf dem »Arabischen Theatertreffen« Anfang des Jahres im Kulturzentrum Pavillon in Hannover. Wie viele andere Kulturschaffende nach der arabischen Revolution sind sie auf der Suche nach ihrer Rolle in den gesellschaftlichen Transformationsprozessen.

Insbesondere die junge Generation in den arabischen Ländern verständigt sich mit künstlerischen Mitteln. Es waren Graffitis, die rund um den Tahrir-Platz in Kairo eine Gegenöffentlichkeit schufen, es waren Lieder und Gesänge, die den Sturz des Diktators Zine el-Abidine Ben Ali in Tunesien begleiteten, es sind Dokumentarfilme aus und über Syrien, wie etwa Haunted von Liwaa Yazji, die darüber sinnieren, wie es sich anfühlt, sein Zuhause zu verlieren, den angestammten Platz verlassen zu müssen, weil man dort jederzeit von der nächsten fallenden Bombe oder von umherfliegenden Kugeln getötet werden könnte. Die Künste können es sein, die es möglich machen, sich sowohl auszudrücken und sich auszutauschen sowie sich einzumischen und zu positionieren, die Künstler können es sein, die als Seismografen in der Bevölkerung wirken.

Auf der Bühne des Théâtre Béryte an der St. Josephs Universität in Beirut sind es 16 Jugendliche, die singen und tanzen, schreien und flüstern, improvisieren und präsentieren. Die dreiviertelstündige Performance heißt Angie & Yalanji und stellt Geflüchtete aus Syrien in den Mittelpunkt der Geschichte, die jetzt im Bekaa-Tal leben. Ein Workshop der Stiftung Action For Hope sorgte für die Produktionsmittel, brachte die künstlerische Abwechslung ins Flüchtlingscamp. Theater in diesen Zusammenhängen versteht sich als Überlebensmittel, nutzt die professionelle Betreuung des libanesischen Regisseurs Chrystèle Khodr, um Träume und Tränen der Jungen und Mädchen darzustellen. Es geht um den Besuch einer Berühmtheit in der Monotonie und Langeweile des Flüchtlingsalltags, um Freunde, Freuden und Hoffnung, es geht um die kleinen Geschichten und die großen Fragen, um Sehnsüchte und Perspektiven. Die Darsteller schwärmen für Angelina Jolie, aber immer wieder meinen sie mit »Angie« auch Angela Merkel und ihr »Wir schaffen das«, das auch im Nahen Osten zum geflügelten Wort geworden ist.

Die Aufführung war Teil des Programms einer Konferenz der Arab Cultural Policy Group, einem zivilgesellschaftlichen Netzwerk, das sich im Umfeld des Arabischen Frühlings gegründet hat und in Ägypten, Algerien, Jordanien, Marokko, Mauretanien, Palästina, Syrien und Tunesien sowie im Irak, Jemen, Libanon und Sudan Akteure aus Kunst und Kultur versammelt. Sie applaudierten in Beirut nicht nur dem artistischen Können und den politischen Botschaften von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit der Menschen, von einer friedlichen Zukunft und einem gewaltfreien Zusammenleben, sondern auch der Ermöglichung eines solchen Projektes, der kulturpolitischen Verwirklichung von Kulturarbeit in Zeiten von Krieg, Korruption und Chaos.

Die Arab Cultural Policy Group als zivilgesellschaftlicher Akteur

Denn zusammengefunden haben die Vertreter aus dem arabischen Raum in der Stunde des Aufbruchs zur Demokratie. Die Künstler, Kulturmanager und Kulturwissenschaftler wollen den gesellschaftlichen Wandel mitgestalten, die Vielfalt der Kulturen fördern und in ihrer Region dazu beitragen, mit Wissen, Erfahrung und Bildung kulturelle Reformen voranzutreiben. Die Rolle der Künstler in Prozessen der Transformation haben sie als wegweisend erlebt, die Unterdrückung durch autoritäre Regime erlitten und gehofft, all diese Unfreiheiten und Unterdrückungen hinter sich gelassen zu haben. Jahre danach ist die Bilanz ernüchternd.

Täglich werden Menschen in Ägypten verhaftet, die sich frei und kritisch äußern, die sich künstlerisch mit den gesellschaftlichen Missständen auseinandersetzen, die sich zum Beispiel für die Rechte der Frauen einsetzen. »In der letzten Zeit sah man einen Rückschritt in der öffentlichen Freiheit als eine Folge von Neuwahlen der Parlamente«, heißt es im Siebten Periodischen Bericht von 2015 zur Kulturpolitik in der arabischen Region der unabhängigen Kulturstiftung Ettijahat, »die einen negativen Einfluss auf die Entfaltung sowie die kulturelle Arbeit im Allgemeinen haben«. Die Auflistung von Aktionen des Staatsterrors liest sich wie ein Horrorszenario kulturfeindlicher Propaganda. Von der Gefangennahme junger Filmemacher ist da die Rede, von der allgegenwärtigen Zensur.

Aus dem Irak erfährt man nicht nur vom kriminellen Handel mit Kulturgütern und der Vernichtung von Weltkulturerbe, sondern – besonders erschütternd – von gezielten Morden an Kulturschaffenden und Kulturjournalisten. »Es gibt keine Hoffnung auf irgendeine politische Lösung in naher Zukunft«, ist die deprimierende Einschätzung zur Situation in Syrien. Die Künstler sind im Exil und sie müssen erleben, wie ihre Heimat auch kulturell zerstört wird. »Ende des vergangenen Jahres waren es die Krieger der ISIS, die in den besetzten Gebieten Schulen stürmten und einige der Lehrfächer wie Kunst, Geschichte, Sport, Philosophie und religiöse Erziehung verboten.«

Kein Wunder, dass die Arab Cultural Policy Group ihre Konferenz auch zur Diskussion und Verabschiedung einer Resolution nutzte: »Stoppt die Gefahr für unser Kulturerbe in Mossul, Palmyra und Aleppo! Stoppt die Gewalt gegen unsere Kinder und Familien! Stoppt die Zensur unserer kulturellen Arbeit und gewährt die Freiheit des künstlerischen Ausdrucks!« Ganz generell debattierten die arabischen Kulturakteure über den Schutz der Kultureinrichtungen, den Zugang zur Kulturellen Bildung sowie die Verwirklichung der UN-Menschenrechtscharta und die UNESCO-Konvention zur Kulturellen Vielfalt. An die eigene Kultur und den die Region prägenden Glauben gerichtet, bringt es Basma El Husseiny auf den Punkt: Es gehe nicht nur um die Auseinandersetzung zwischen dem globalen Norden und dem globalen Süden, es gehe nicht nur um Kapitalismus und Verelendung, es gehe auch darum, wie sich die islamische Welt untereinander verständigt. »Solange wir uns selbst mit Bomben bekriegen, können wir von Europa nicht erwarten, dass von dort unsere Probleme gelöst werden«, sagt die Initiatorin der Gruppe, die langjährige Geschäftsführerin der Al Mawred Al Thaqafy-Organisation und jetzige Direktorin von Action For Hope.

Al Mawred ist es auch, die den Diskurs zusammenhält und unter anderem eine Evaluation der nationalen zivilgesellschaftlichen Arbeitsgruppen für Kulturpolitik in Auftrag gab, deren Ergebnis in Beirut beraten wurde. Dabei wird schnell klar, dass jene kulturpolitische Akteurskonstellation mehr Einfluss auf die Agenda der jeweiligen Regierung hat als die offizielle Politik. Sie verfügt über Kenntnisse und Bündnisse, mit einer funktionierenden Organisation dahinter ist sie stärker in der unabhängigen Kulturszene verankert und vernetzt und erfolgreicher im Wirken. Enthusiasmus und Motivation sei die eine Seite der Medaille, die andere das Konzept von Governance, um effizient Ressourcen zu nutzen und um relevante Ergebnisse zu erzielen. Auf der allgemeinen Ebene kann es so betrachtet werden, dass sich die allerwichtigsten Ergebnisse der Untersuchung auf die Bewusstseinsbildung der besonderen Bedeutung von Kulturpolitik innerhalb der öffentlichen Gesellschaftspolitik beziehen, die für die weitere nachhaltige Entwicklung des Landes von hoher Relevanz ist.

Während die Praxis einer neuen Kulturpolitik in den arabischen Ländern wegen der Instabilität der politischen Gegebenheiten noch nicht realisiert werden konnte – einzig Tunesien und Marokko sind Länder mit kulturpolitischen Reformbestrebungen –, ist die Theorie, auch dank der Arab Cultural Policy Group, weit fortgeschritten. Es gibt Konzepte zur »Kunst für den sozialen Wandel« in Mauretanien, es gibt einen Kulturentwicklungsplan für Ägypten, der sieben zivilgesellschaftlich kontrollierte Stiftungen vorsieht, im Herbst startet ein erster arabischer Masterstudiengang »Kulturpolitik und Kulturmanagement« an der Universität Hassan II in Casablanca. Und auch für Syrien gibt es bereits konzeptionelle Überlegungen, wie bei einem Wiederaufbau kulturelle Strukturen und künstlerisches Schaffen entwickelt werden könnten.

»Fair Cooperation« als Modell im Kulturaustausch

Einen großen Wert legen die kulturpolitischen Akteure auf die Forschung. Ein Netzwerk von Universitäten in Afrika und Europa ist eingebunden in die Entwicklung der Strategien und Programmatiken. Dazu zählt auch ein Nachdenken über den Kulturaustausch und künstlerische Koproduktionen.Annika Hampels Forschungsarbeit zu »Fair Cooperation«, die zuletzt mit dem ifa-Forschungspreis und dem ENCATC-Award des Kulturmanagementverbandes in Europa ausgezeichnet wurde, ist zum Beispiel auch Gegenstand der Erörterungen einer Kulturpolitik im arabischen Raum. Partnerschaft brauche viel Zeit und klare Kriterien, reichlich Kontextwissen und interkulturelle Kompetenz, eine Begegnung auf Augenhöhe und die Lizenz zum Scheitern. Das sind aber nicht immer die Kategorien der europäischen Kulturinstitute. Die Residenzprogramme von Pro Helvetia, der Schweizer Kunst- und Kulturförderinstitution nützten insbesondere den Schweizer Künstlern, hieß es in der Beiruter Runde, Festivals des British Council mit europäischen Produktionen seien selten geeignet, kulturelle Infrastruktur für arabische oder afrikanische Kunst zu schaffen, allzu oft setze das Institut Français auf Quantitäten statt auf Qualitäten, auf Repräsentation statt auf Kooperation.

Zudem seien die Projekte vor allem in den großen Städten angesiedelt, Kultur im ländlichen Raum stehe bei den Kulturinstituten der Mitglieder der Europäischen Union nicht hoch im Kurs. Auch die Interessen von ausländischen Stiftungen seien nicht immer kompatibel mit den Interessen der kulturpolitischen Akteure vor Ort. Bei all der Kritik kam das Goethe-Institut ganz gut dabei weg. Die Mittlerorganisation der deutschen Auswärtigen Kulturpolitik war Förderer von Angie & Yalanji und der neue Leiter in Beirut eingeladen, mitzudiskutieren. Ihm dürfte klargeworden sein, dass die moderne Form von Cultural Diplomacy mit der Arab Cultural Policy Group zukünftig einzig mit dem Prinzip Bottom-up erfolgreich sein kann. Kulturpolitik ist schon lange nicht mehr allein Sache von Regierungshandeln. In den arabisch-afrikanischen Ländern entlang des Mittelmeers sind es zunehmend die Künstler, die ihre Sache gerne selbst in die Hand nehmen – und das kompetent und selbstbewusst.

Aber welche Infrastrukturen brauchen die Künstler? In den regelmäßigen Berichten des Arterial Network, einer kontinental ausgerichteten zivilgesellschaftlichen Kulturorganisation in Afrika, wird Kapazitätsentwicklung als ein wichtiges Werkzeug angesehen, um effektive Politik und effizientes Management sicherzustellen. »Maßnahmen zur Kapazitätsentwicklung, die Workshops, Feld- und Forschungsprojekte beinhalten können, stellen die nachhaltige Umsetzung der Konvention sicher. (…). Zum Programm gehören Forschung, regionale Ausbildungsworkshops, Feldprojekte und Praktika. Wenngleich sämtliche Maßnahmen wesentlich zur Entwicklung von Fähigkeiten beitragen, bieten Praktika am ehesten eine grundlegende Ausbildung und mehr praktische Erfahrung; so ergibt sich eine Möglichkeit zum Erhalt von Welterbestätten.« Netzwerken ist das neue Prinzip in der Welt der Kultur. Künstler brauchen Platz für ihre Arbeit, Labore für Experimente und ständige Diskussionen untereinander und mit ihrem Publikum. Dies ist ein weiteres komplexes System, das es zu erforschen gilt, um mehr über die Bedingungen zu erfahren, die für eine gedeihliche künstlerische Entwicklung nötig sind, und herauszufinden, was es mit der inspirierenden Rolle der Mobilität in Bezug auf die Arbeit der Künstler auf sich hat und wie Kunst erfolgreich auf das Alltagsleben übertragen werden kann.

Kulturpolitikforschung zu nachhaltiger Entwicklung

Dies ist einer der Gründe, weshalb die afrikanische Perspektive bei künftigen Kulturpolitikforschungen in Europa mehr im Mittelpunkt stehen könnte. Die lebhaften Diskussionen über Kunst und Entwicklung sind in Afrika offensichtlich. Sie sind enge Begleiter politischer Bewegungen wie der arabischen Revolutionen, aber auch der militärischen Konflikte durch den IS. Auf dem gesamten Kontinent ändert sich das postkoloniale System von Gesellschaft und Kultur. Zu beobachten wäre das Agenda Setting der Kulturpolitik, ebenso Prozesse der Nachhaltigkeit, Infrastrukturentwicklung und kulturellen Bildung. Im Mittelpunkt sollte die Erforschung von künstlerischen Prozessen und gesellschaftlichen Entwicklungen stehen.

Hanan Hajj Ali, libanesische Professorin für Kulturwissenschaften, beschreibt den Rahmen einer Kulturpolitik, nämlich die Verschmelzung von inhaltlicher Konzeption, politischen Entscheidungen und kulturellem Handeln; Theorie und Praxis denkt sie selbstverständlich zusammen, basierend auf den Ansprüchen einer Gesellschaft unter Einsatz all der menschlichen und materiellen Ressourcen. Es sei an der Zeit für Regeln, Gesetze und Pläne, um langfristig Wechsel und Entwicklung möglich zu machen. Und eines wird ebenso deutlich: Neben dem allseits geschätzten Kulturerbe, das insbesondere in der westlichen Welt bisher durch den Kulturtourismus erschlossen wurde, ist es die Alltagskultur, sind es die Künstler in den Popularkulturen und im Amateurbereich, ist es die unterdrückte Kunst, die es zu entdecken gilt.

Offensichtlich macht es Sinn, Kulturinnenpolitik und Kulturaußenpolitik zu-sammenzudenken, auf Augenhöhe zu kooperieren und gegenseitig Nutzen für die gesellschaftliche Weiterentwicklung mit künstlerischen Mitteln zu ziehen. Fettah Diouri, Sabine Trötschel und Mariam Soufi-Siavash haben das verstanden. Ihr mittlerweile drittes »Arabisches Theatertreffen« in der niedersächsischen Landeshauptstadt stand unter dem Titel Zuflucht; denn ob in Palästina oder in Deutschland, die Darstellenden Künste können ein Freiraum sein, wo Zukunft verhandelt wird, mit der Gemeinschaft von Schauspielern und »Zu-Schauspielern« auf der Bühne als Zufluchtsort. So wird Kulturpolitik tatsächlich auch Gesellschaftspolitik.

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