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Über den Roman Herkunft von Saša Stanišić »Künstlich Leerstellen setzen«

Saša Stanišićs aktuelles Werk Herkunft, das vom Feuilleton unisono gefeiert und zeitgleich zur letztjährigen Frankfurter Buchmesse mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet worden ist, reflektiert einmal mehr das autobiografische Schreiben. Schon in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und besonders um die Jahrtausendwende avancierte die Autobiografie im Zuge postmoderner Theoriebildung zum Paradebeispiel für die Konstruiertheit literarischer Texte. Denn diese Gattung, in der es vermeintlich um die Rekonstruktion einer vergangenen, individuellen Wirklichkeit geht, verrät bei genauem Hinsehen mindestens so viel über Erzählkonventionen, Schreibintentionen und literarische Vorbilder wie über dieses eine Leben. Der sprachliche Prozess, der Erinnerungen auswählt, ordnet, hierarchisiert, der Übergänge schafft und Lücken schließt, ist für die Bedeutung des autobiografischen Textes so zentral, dass es angemessen erscheint, darin nicht »be-schriebenes, sondern ge-schriebenes Leben« (Martina Wagner-Egelhaaf) zu erkennen. Die Schriftsteller/innen der Neuen Subjektivität, denen in den 70er Jahren die Autobiografie als Medium schonungsloser Selbsterforschung erschien, waren vorläufig die letzten, die es zu ihrem Programm machten, sprachliche Strukturen und literarische Traditionen schlicht zu ignorieren. Ihre Beteuerungen, nur für sich selbst zu schreiben, überhaupt keine Kunst produzieren zu wollen, führten zwar bisweilen zu autobiografischen Exzessen, die den Leser/innen einiges zumuteten, wie etwa Bernward Vespers Fragment Die Reise von 1977, dokumentierten aber vor allem, dass die Reflexion des autobiografischen Konstrukts bereits in vollem Gange war. In der Gegenwart fügt Karl Ove Knausgård mit seinem Projekt einer erzählerischen Total-Dokumentation des eigenen Lebens dieser Debatte um Künstlichkeit und Authentizität ein neues Kapitel hinzu.

All das ist Stanišić bewusst, wenn er seinen Text im zweiten Kapitel mit dem Satz beginnen lässt: »Am 7. März 1978 wurde ich in Višegrad an der Drina geboren.« Das kurze erste Kapitel kann man gut als Prolog lesen und so steht hier am Beginn der Erzählung ein deutliches Autobiografiesignal. Auf diesen klassischen Einstieg folgt nun aber keine Lebensgeschichte von der Wiege bis zur Gegenwart, sondern ein Text, der sich nur zögerlich überhaupt »Roman« nennen lässt und passagenweise durchaus zum Essayistischen tendiert, wie viele Kritiker festgestellt haben. Zudem hat sich Stanišić sein Thema so sachlich, direkt und allgemeingültig in den Titel geschrieben, dass auf diesen auch ein Lexikonartikel folgen könnte. Stattdessen schließt sich eine lose Reihe von unterschiedlich langen Kapiteln an, die Schreibexperiment und Selbstbeobachtung zugleich sind. Was bringt die Frage nach Herkunft und lässt sich schreibend überhaupt noch etwas mit ihr anfangen? Schon die Fragestellung ist unklar: Geht es um Nationalität (»Was bist du?«) oder um den Stammbaum (»Wessen bist du?«)? Ist das nicht alles gleichermaßen »Zugehörigkeitskitsch«? Die Vorbehalte des Erzählers gegen das selbstgewählte Thema sind unüberhörbar: »Es erschien mir rückständig, geradezu destruktiv, über meine oder unsre Herkunft zu sprechen in einer Zeit, in der Abstammung und Geburtsort wieder als Unterscheidungsmerkmale dienen, Grenzen neu befestigt wurden und sogenannte nationale Interessen auftauchten aus dem trockengelegten Sumpf der Kleinstaaterei. In einer Zeit, als Ausgrenzung programmatisch und wieder wählbar wurde.«

Und so erzählt Stanišić erst einmal, was alles entstehen kann, wenn man die Herkunft nicht allzu wichtig nimmt: großer Fußball (Crvena Zvezda – Roter Stern Belgrad, »eine Fußballmannschaft aus allen Landesteilen!«) und eine krisenfeste Liebe, wie die zwischen seiner bosniakisch-muslimischen Mutter und seinem serbischen Vater. Die Großtante Zagorka hat es, Herkunft und Geschlecht negierend, sogar bis in die Erste Kosmonautengruppe der Sowjetunion geschafft. Jugoslawien aber, diese Staat gewordene Unterordnung von Herkunft unter ein gemeinsames Ziel, ist in einem grausamen Krieg auseinandergebrochen. Und dieser Krieg war die Ursache für Flucht und Neuanfang, brachte dem Erzähler die Erfahrung einer doppelten Herkunft ein.

Es ist ein Allgemeinplatz, dass der Verlust von etwas, das bis dahin als selbstverständlich angesehen wurde, die Reflexion über das Verlorene erst anstößt. Und so ist neben dem Land, das es nicht mehr gibt, die Demenz der geliebten Großmutter Kristina Anlass für das Sammeln von Erinnerungen. Die »Disparatheit« der Familie, die Zerstörung von Erinnerungsorten, das kollektive Verdrängen infolge der Kriegsverbrechen und das Erlöschen des Gedächtnisses bei der Großmutter schärfen die Aufmerksamkeit für jene Zeugnisse der Vergangenheit, die noch da sind. Das wenige, was geblieben ist, wiegt schwer: Orte wie Oskoruša, die Drina – immer wieder kommt der Erzähler auf diesen Fluss zurück –, und ein paar Fotos. Erzählerisch ließen sich die Lücken zwischen solchen Inseln des Erinnerns leicht schließen, der Text demonstriert wiederholt, wie sich um die erinnerten Bruchstücke herum Geschichten erfinden lassen. Aber im Ganzen schlägt Herkunft diesen Weg gerade nicht ein. Stanišić geht es nicht in erster Linie darum, seinen Leser/innen die eigene verschlungene und hindernisreiche Lebensreise nachvollziehbar zu machen. Aus Stanišićs Text kann man eine Biografie herausdestillieren, ein dürres Gerüst mit einzelnen eindrücklichen Erlebnissen. Das ergibt Bilder von großer, tendenziell eigenwillig metaphorischer Intensität (z. B. »ARAL-Literatur« für die Treffen mit Freunden aus verschiedenen Ländern in seiner Jugendzeit an der Tankstelle), dazwischen tun sich Leerstellen auf, nichts rundet sich zum Bogen. Der Erzähler schlägt sich herum mit der Lebensbilanz, probiert Zugänge und Techniken und scheut dabei das Scheitern nicht. Diese Schreibexperimente sind literaturgeschichtlich rückgebunden an kanonische Texte: Gleich zu Anfang spielt Stanišić auf den Geburtstopos an, der durch Goethes einschlägige Passage aus dem ersten Teil von Dichtung und Wahrheit (1811) berühmt geworden ist. Beschwört darin der Erzähler die glückliche »Konstellation« der Sternbilder, die nicht nur ihm selbst, sondern als Auftakt einer fortschrittlicheren Geburtsbegleitung auch vielen Nachgeborenen das Leben gerettet habe, so greift schon Joseph von Eichendorff diesen Erzähleingang parodierend auf, indem er in seinem autobiografischen Fragment Unstern beschreibt, wie der Neugeborene eine ähnlich günstige Sternenkonstellation um »anderthalb Minuten« verpasst habe. Stanišić dagegen berichtet von Sturm und Blitzschlag, die seine ebenfalls nicht komplikationsfreie Geburt begleitet hätten, so dass alle Beteiligten mit der Ankunft des Teufels rechneten, und kommentiert lakonisch: »So unrecht war mir das nicht, ist doch ganz gut, wenn Leute ein bisschen Angst haben vor dir, bevor es überhaupt losgeht.« Kurz darauf setzt der Erzähler mehrmals an, »eine Reihe von Dingen, die ich hatte«, aufzulisten, und knüpft damit an Günter Eichs Ikone der Trümmerliteratur an: Im Gedicht Inventur von 1947 zeigt ein Soldat seine wenigen Habseligkeiten vor, darunter die besonders wertvolle Bleistiftmine: »Tags schreibt sie mir Verse / die nachts ich erdacht.« Die Liste in Herkunft enthält eine »Menge Bücher«, auch die gehören ja zum Werkzeug eines Schriftstellers. In den Oskoruša-Kapiteln spielt Stanišić sogar einen Anschluss an den biblischen Ursprungsmythos durch. Das Dorf in den Bergen, ganz in der Nähe seiner Geburtsstadt Višegrad, hat dank seiner schlechten Erreichbarkeit den Krieg einigermaßen unbeschadet überstanden. Hier leben weitläufige Verwandte, liegen die Urgroßeltern begraben. Über das Motiv der Schlange im Obstbaum (»Speierling«, auch »Spierapfel«) wird der Friedhof von Oskoruša zum Paradiesgarten, der Besuch dort zu »einer Art Urszenerie«. Weil aber die Erinnerung an eine Kindheitsszene, in der der Vater im Hühnerstall eine Schlange erschlägt, den Erzähler aus dem Wort »poskok« anspringt, was schon mit der deutschen Übersetzung »Hornotter« nicht mehr funktioniert und der Überprüfung im Familien-Chat ohnehin nicht standhält, wird auch der erste Satz des Johannes-Evangeliums abgerufen, der den Anfang an das Wort bindet. Da zeigt sich eine Kippfigur, die typisch für Stanišićs Text ist, wenn der hochaufgeladene Satz ins Lakonische gewendet wird: Immer kann alles auch »bloß Einbildung, bloß Sprache« sein. Stanišićs »Selbstporträt mit Ahnen« wird zum Porträt der Überforderung. Gegen Ende kommt der Text noch einmal auf Oskoruša zurück, anlässlich eines Besuchs neun Jahre nach dem Friedhofspicknick, und zeigt den Ort entmystifiziert: »Ich stehe unter dem Baum der Erkenntnis, und der Baum wurzelt im Grab meiner Urgroßeltern, und im Geäst zischen keine Schlange und kein Symbol mehr. Er trägt einfach nur Blüten.« Es ist große Kunst, wie Saša Stanišić weit ausholt, um dann auf dem Boden der Konkretion zu landen, wo etwas ganz ohne Gründungsmythos anfangen kann, einfach durch »die gemeinsame Erinnerung an einen Augenblick, der zunächst keine Bedeutung zu haben scheint« – und dann doch Blüten treibt.

Das Misstrauen gegenüber Meta-Erzählungen, welches Jean-François Lyotard als Kennzeichen der Postmoderne benannt hat, speist sich bei Stanišić ganz konkret aus dem Zerfall seines Herkunftslandes. Unter dem faktischen Druck einer wirtschaftlichen Talfahrt wird die »multiperspektivische Erzählung Jugoslawiens« Anfang der 90er Jahre abgelöst durch andere Narrative. Indem Stanišić deren Erzählstrukturen analysiert, legt er die Nähe zu vergleichbaren nationalistischen Bestrebungen offen und verweist auf das manipulative Potenzial von Sprache. An diesen Stellen ist der Text offen politisch und zeigt aus der geschichtlichen Rückschau in unsere Gegenwart, verlangt Entschiedenheit und Haltung.

Stanišićs Reflektiertheit spart auch die Begrifflichkeit nicht aus: Den emotional befrachteten Begriff »Heimat« setzt er äußerst zurückhaltend ein, häufiger dagegen, nicht nur im Titel, den sachlicheren Ausdruck »Herkunft«. Aber den Zahnarzt, der den Jugendlichen aus den Flüchtlingsunterkünften im Emmertsgrund bei Heidelberg auch ohne Krankenversicherungskarte die kariösen Zähne behandelt und dem Großvater Muhamed das Angelglück zurückgibt, nennt er »Dr. Heimat«, weil er erreichte, dass die Vertriebenen »ein paar Stunden lang vor nichts auf der Welt Angst hatten«. Auch ein »Zuhause« bezeichnet bei Stanišić vor allem einen Ort, an dem man sich sicher fühlt. Nach Heidelberg verschlägt es die flüchtende Mutter und ihren jugendlichen Sohn zufällig. Sie sind dort fremd, aber keiner Bedrohung ausgesetzt. Mit unzähligen zerstörten Häusern im Kopf ist eine Schlossruine, auf der fotografierende Japaner herumklettern, für sie ein fantastischer Anblick, verspricht er doch, dass ihnen in dieser Stadt »nichts geschehen« kann.

Der Text endet mit der Einweisung der Großmutter ins Altenheim, wo sie der Erzähler besucht, und endet dann doch nicht. Es folgt ein Epilog mit dem Abschied kurz vor dem Rückflug nach Deutschland. Beim Warten auf das Flugzeug liest ein alter Mann einem Mädchen eine Geschichte vor, in der am Ende alles gut wird. Auch Eichendorffs Roman Aus dem Leben eines Taugenichts (1826), dessen Lektüre im Eichendorff-Kapitel verzeichnet wird, endet mit dieser Märchenformel. Für die eigene Geschichte wünscht sich der Erzähler »ein anderes Ende« und kehrt ins Altenheim zurück. Und dann geht es noch einmal richtig los: Wie in den »Choose your own adventure«-Büchern, einem Literaturgenre, bei dem die Leser/innen interaktiv den Verlauf der Geschichte mitbestimmen können, und das z. B. in der Netflix Serie Stranger Things wieder aufgegriffen wurde, kann jede Leserin, jeder Leser sich zwischen zehn Geschichtenenden entscheiden. Liest man sie nacheinander, dann erzählen sie vom Ausweichen vor dem Tod, vom Schmerz über die unwiederbringliche Zeit, die man mit einem geliebten Menschen gerne noch gehabt hätte. Literatur als »Übersprunghandlung« bedeutet, dass man einen Menschen schreibend festhalten und gleichzeitig seinen Geburtstag vergessen kann.

Trotz der großen Themen schlägt Stanišić einen leichten Ton an, das Spielerische des Textes wiegt den Sog auf, den eine linearere Struktur ermöglicht hätte. Nein, hier werden »keine Heldengeschichten« erzählt. Dennoch zeugt Herkunft von der gelungenen Ankunft in einem anderen Land, mehr noch: in einer anderen Sprache. Wer so schreiben kann! Saša Stanišić versäumt es nicht, uns daran zu erinnern, dass Flüchtende im heutigen Europa andere Bedingungen vorfinden. Heute wäre die Flucht mit seiner Mutter »vor einem ungarischen Stacheldrahtzaun zu Ende« gewesen.

Saša Stanišić: Herkunft. Luchterhand, München 2019, 368 S., 22 €.

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