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© Foto von Jerry Wang auf Unsplash

Kultur, Gesellschaft, Demokratie

Politische Debatten über Kultur sind oft von einer Verkürzung des Kulturbegriffs auf den Bereich der Kunst geprägt oder von einer Indienstnahme des Begriffs für politische Zwecke, wie beim Thema »Leitkultur«. Um die fundamentale Rolle des Kulturellen und dessen vielfältige Verflechtungen mit Gesellschaft und Politik, insbesondere im Hinblick auf die Voraussetzungen der Demokratie als Lebensform zu verstehen, bedarf es des weiter gefassten Kulturbegriffs, wie er in die Soziologie durch Max Weber und seinen amerikanischen »Schüler« Talcott Parsons Eingang gefunden hat. Erst dann lässt sich auch verstehen, was eine demokratische Zivilgesellschaft voraussetzt und was unter Integration im Unterschied zu Assimilation zu verstehen ist. Dann werden auch die Grundlagen sichtbar, auf denen gesellschaftliche und politische Institutionen beruhen müssen, um ihre Zwecke dauerhaft zuverlässig zu erfüllen.

Aus diesen Fragen entstand kurz nach dem Zweiten Weltkrieg eines der bis heute interessantesten Forschungsprojekte über Kultur und Demokratie, dessen Aktualisierung heute Entscheidendes zur Überwindung neuer und alter Verunsicherungen beitragen könnte. Die Forschungsfrage der fünf Länder umfassenden Erhebung der beiden renommierten US-amerikanischen Politikwissenschaftler Gabriel Almond und Sidney Verba in den 50er Jahren lautete: Welchen Beitrag haben kulturelle Bedingungen dazu geleistet, dass in Ländern wie Großbritannien und den USA die Weltwirtschaftskrise mit ihrer massenhaften Arbeitslosigkeit, Armut und existenziellen Unsicherheit die rechtsstaatliche Demokratie nicht antasten konnte, während dies in ähnlich entwickelten Ländern wie Italien und Deutschland mit vergleichbaren demokratischen Institutionen auf drastische Weise geschah. Oder kurz: Was musste zur Wirtschaftskrise hinzukommen, um auf dem Boden von Demokratien den Faschismus wachsen zu lassen? Das Ergebnis dieser Forschung mit Wissenschaftlern aus allen beteiligten Ländern ist im Kern fortwirkend aktuell und kaum noch bekannt.

Politische Kultur

Die politische Kultur ist derjenige Teil der allgemeinen Kultur eines jeden sozialen Kollektivs, der sich auf das Politische bezieht: auf die politischen Prozesse, Akteure, Institutionen, Fragen und Probleme. In jedem Land gibt es mehrere ungleichzeitige politische Kulturen, die in unterschiedlichen sozial-ökonomischen Milieus verankert sind. In der »westlichen« Welt lassen sich drei Haupttypen unterscheiden. Sie sind geprägt durch lange Zeit vorherrschende politische Herrschaftsformen, die sie konditioniert und vorausgesetzt haben. Der historisch älteste Typ, noch immer weit verbreitet, ist die »parochiale« (»auf die Gemeinde beschränkte«, »bornierte«) politische Kultur. Sie besteht in der Haltung des Unpolitischen, die sich allein auf ihre unmittelbare Sozialwelt richtet, das Politische ignoriert und an der nächsten »Kirchturmspitze« endet. Sie passt zu Stammes- und Feudalgesellschaften. Der zweite, ebenfalls noch lebendige Typ, ist die politische »Untertanenkultur«. Sie hat ihren Ursprung in der Epoche der autoritären Fürstenherrschaft, der Bürgerengagement und Kritik fremd waren. Heinrich Mann hat ihr in seinem Werk Der Untertan ein Denkmal gesetzt. Dem Zeitalter der Demokratie entspricht allein der »partizipative (civic)« Typ des informierten, toleranten und gleichberechtigten Aktiv-Bürgers.

Weil diese drei Typen und die Mischformen aus ihnen in allen Gesellschaften sehr lange nebeneinander bestehen können, bedarf die Demokratie für ihre Funktion und Stabilität des Übergewichts ausreichend großer partizipativer Milieus. Nicht überraschend war daher der Befund der Studie: Die Demokratie wich in der Weltwirtschaftskrise nur in den Ländern der autoritären Herrschaft, wo die partizipative Kultur zu schwach (Deutschland, Italien) und die beiden anderen Typen trotz der demokratischen Institutionen zu stark geblieben waren. Die zivil-bürgerliche politische Kultur, damals vorbildhaft in den USA und solide in Großbritannien, ist auf aktive Teilhabe am sozialen und politischen Leben und auf eine zivilisierte Begrenzung und Austragung politischer Konflikte als gewohnheitsmäßiges Bedürfnis ausgerichtet. Es geht in ihr um sozial eingehegte politische Gegnerschaft anstelle entgrenzter Feindschaften.

Eine Balance, die schon in den Schulen, der Nachbarschaft und der Zivilgesellschaft gepflegt wird und bis hinein in den Kern der Familien wirksam ist. Es gilt ihr als »normal«, wenn Familienmitglieder konkurrierenden Parteien zuneigen. Die politische Kultur der Demokratie in Wirtschaft, Staat und Gesellschaft mit ihrem Wechselspiel von Konsens und Konflikt, Streit und Respekt wurzelt in einer humanen Zivilkultur und Lebenswelt als Grundlagen allen gesellschaftlichen Lebens.

Was ist Kultur?

Die Studie hob weitere bedeutsame Merkmale von Kultur hervor. Vor allem: Kultur prägt das ganze menschliche und soziale Handeln in der Tiefe, so dass sie zur spontanen Gewohnheit wird, sie wirkt ganzheitlich und sie widerstrebt im Erwachsenenalter kurzfristigen Versuchen der Umprägung und Einflussnahme durch bloße Autorität. Kaum überraschend, denn sie ist ja diejenige Funktion des gesellschaftlichen Lebens, die durch die Erzeugung und den Erhalt von Wissen, künstlerischem Ausdruck, Werten, Normen, und Praktiken allen anderen gesellschaftlichen Teilbereichen als Grundlage und Orientierung dient, gestützt durch soziale Erwartungen und Sanktionen. Der französische Soziologe Pierre Bourdieu bezeichnete die kulturelle Prägung der Person als »Habitus«, als Gesamtheit dessen was wir gewohnheitsmäßig ohne aktuelle Reflexion jederzeit zu denken und zu tun geneigt sind. Kultur in diesem Sinne gehört zusammen und in Wechselwirkung mit der Wirtschaft, der Politik als Regelgarant und der Sozialisation der Nachwachsenden zu den fundamentalen Voraussetzungen gesellschaftlichen Lebens.

Kulturen sind für die Menschen zwar in einem gewissen Sinne wie eine zweite Natur, aber gerade nicht, wie früher unterstellt wurde, in dem Sinne, dass sie einer ethnischen Gemeinschaft unwandelbar anhaften und alle ihre Mitglieder unentrinnbar und homogen durchdringen, verursacht allein durch geografische Umweltbedingungen oder biologische Eigenarten, wie es die Ideologie der »Rasse« will. Die Forschung hat diese naturalistischen Vorstellungen widerlegt, aber auch deutlich werden lassen, dass jedes Kollektiv durch seine in langen historischen Prozessen erworbene, aber immer auch im Wandel befindliche Kultur längerfristig geprägt ist, die sich zwar durch neue Erfahrungen und intensive Debatten wandeln kann, aber sich meist erst infolge gesellschaftlicher Schocks oder sozialer Umbrüche mit den nachwachsenden Generationen nach ihren eigenen Regeln gründlich verändert. Das hat zuletzt die »stille Revolution« des postmateriellen Wertewandels in allen Industrieländern seit den 70er Jahren beispielhaft vorgeführt.

Es sind zwar immer soziale Kollektive, die dauerhaft gemeinsame Kulturen ausbilden, durchsetzen und erhalten. Aber es handelt sich dabei in der modernen Welt nicht um Ethnien, geschlossene Nationen oder Staaten, sondern um die kleineren Einheiten der soziokulturellen Milieus, beeinflusst durch starke soziale, ökonomische oder regionale Gemeinsamkeiten. Innerhalb desselben Staates sind diese infolge alle einschließender historischer Erfahrungen durch einige grundlegende politisch-kulturelle Gemeinsamkeiten verbunden, aber doch in ihrer Lebensführung und ihren Glaubenswelten deutlich unterschieden. Für die heutigen, wissenschaftlich unterscheidbaren zehn sozio-kulturellen Milieus in Deutschland wird das vom Sinus-Institut, Mannheim seit Jahrzehnten im Jahresrhythmus gründlich nachgezeichnet. Die breite Palette der politischen Kultur bei uns reicht vom Untertanengeist bis zur aktiven Bürgerschaft, von konservativen und chauvinistischen Weltbildern bis hin zur engagierten Fortschrittlichkeit, vom materialistischen Wohlstandsdenken bis hin zum Umweltengagement. Aber die allermeisten Menschen in allen Milieus teilen die Mindestnormen der zivilen und demokratischen Kultur.

Der Prozess der Modernisierung hat dazu geführt, dass sich immer deutlicher fünf Ebenen kultureller Orientierung unterscheiden lassen, die das Profil der Einzelnen und ihrer Milieus prägen. Erstens: die Ebene der religiös-weltanschaulichen Heilserwartung und Sinngebung; zweitens: die Ebene der Alltagskultur und Lebensführung; drittens: die Ebene der sozialen Orientierung; viertens: die Ebene des zivilen Verhaltens im öffentlichen Raum und fünftens: die Ebene des politischen Denkens und Handelns. Der in traditionalistischen Gesellschaften sehr enge Zusammenhang dieser Ebenen lockert sich im Zuge der Modernisierung immer mehr bis hin zu ihrer weitgehenden Verselbstständigung. Heute können wir mit anderen etwa den Glauben oder die politische Grundeinstellung teilen, während wir uns im Lebensstil oder der Parteipräferenz von ihnen deutlich unterscheiden. In allen Bezügen übereinzustimmen ist zur Seltenheit geworden und wird nur von Fundamentalisten eingefordert. Allerdings gibt es zwischen den Extremvarianten auf allen Ebenen weiterhin enge Entsprechungen. So lässt Gewalt in der Familie kaum respektvolles friedfertiges Zivilverhalten und politische Toleranz erwarten und dogmatische Geschlossenheit im Glauben geht immer mit ziviler und politischer Intoleranz einher.

Es liegt auf der Hand und hat sich durch Forschung und Erfahrung in Europa spätestens nach der Überwindung der Religionskriege mit der Errichtung des säkularen Rechtsstaats durchgesetzt, dass auch religiös und alltagskulturell sehr verschiedene Menschen als Gleiche gut und friedlich gemeinsam leben können. Der kulturelle Pluralismus ist seit mindestens zwei Jahrhunderten europäische Normalität. Integration kann daher nicht auf Übereinstimmung im Glauben und in der Alltagskultur zielen, das wäre Assimilation, sondern auf die gleiche Teilhabe in Wirtschaft, Gesellschaft und Staat auf der Grundlage einer von allen geteilten zivilen und politischen Kultur der Demokratie. Die zivile und politisch-kulturelle Integration aller kann gelingen, wenn die Hinzukommenden nicht auf Dauer in den Ballungsräumen verbleiben, in denen die konservativsten Milieus ihrer Herkunftskultur das soziale Leben dominieren.

Als folgenschwerer Irrtum hat sich die Vorstellung erwiesen, die kulturelle Diversität der Demokratie bedürfe keiner gemeinsamen Normen und Werte, da allein schon die Teilhabe der Verschiedenen am Ringen um die Lösung der gemeinsamen Konflikte im jeweiligen Eigeninteresse Integration bewirke. Konflikte ohne die Grundlage einer gemeinsamen Kultur des zivilisierten Streits sind jedoch, wie die Geschichte regelmäßig drastisch zeigt, der sichere Weg in den kulturellen Bürgerkrieg. Der 15 Jahre dauernde religiös-kulturelle Bürgerkrieg im Libanon (1975–1990) hat das der Welt grausam demonstriert, und die USA sind im Begriff, auch in diese Richtung zu gehen. Ohne verbindende zivile und demokratische Normen und Institutionen, verankert in einer gemeinsamen politischen Kultur, kann es weder für jede einzelne der rivalisierenden Glaubenskulturen Schutz, noch für das Zusammenleben aller eine zuverlässige Grundlage geben.

Kulturen sind keine statisch-geschlossenen Blöcke, sondern offene, konfliktgeprägte soziale und dynamische Diskursräume, die sich langsam und von innen her verändern. Das gilt vor allem auch für die gewohnheitsmäßigen Prägungen, die sie schon im frühen Lebensalter einüben und sozial bekräftigen. Die soziokulturellen Milieus, von ihren jeweiligen Interessen, Werten und Erfahrungen geprägt, werben und ringen in ihrer Gesellschaft unentwegt still und leise, seltener offen und aggressiv, um Ausweitung und Dominanz. Neue soziale Grundkonflikte und Erfahrungen können die Kräfteverhältnisse zwischen ihnen zwar erheblich verschieben, aber kulturelle Veränderungen sind, im Gegensatz zu institutionellen Innovationen, langwierig, weil sie sich selten innerhalb individueller Lebensläufe vollziehen. Die primären kulturellen Prägungen aus Kindheit und Jugendzeit halten in aller Regel lange an. Natürlich können immer wieder Einzelne oder kleine Gruppen danach streben, ihr Ursprungsmilieu hinter sich zu lassen und sich neu zu orientieren, ihr Erfolg wird aber davon abhängen, ob sie sich von den alten sozialen Kontrollmechanismen freimachen und in eine neue Lebenswelt »eintauchen« können. Der Eigensinn des immer und überall wirksamen Faktors Kultur darf im sozialen und politischen Denken und Handeln umso weniger unterschätzt werden, je diverser unsere Gesellschaften werden. Das gilt mit anderen Vorzeichen auch für die politisch-kulturell desintegrierten »Altbürger« der Aufnahmegesellschaft. Gesellschaftliche Integration ist in unserer kulturell pluralistischen Gesellschaft zu einer dauernden Aufgabe geworden.

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