Menü

Zur Zukunft Europas als Kultur- und Wertegemeinschaft Kultur gibt es nicht zum Nulltarif

Vor 60 Jahren wurde mit der Verabschiedung der Römischen Verträge am 25. März die Europäische Bewegung durch die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) institutionalisiert. Sie ist – trotz und vor allem aufgrund vieler Krisen – in der politischen Weiterentwicklung das »Beste, was Europa in den vergangenen Jahrtausenden passiert ist. (…) Nur das Streben nach europäischer Einigung vermochte es, den Kontinent in weniger als 60 Jahren aus seiner Asche wiederauferstehen zu lassen«, so heißt es im 2012 erschienenen Buch Für Europa!: Ein Manifest von Daniel Cohn-Bendit und Guy Verhofstadt.

Treffend haben es die Staats- und Regierungschefs 2007 in der Berliner Erklärung zum Ausdruck gebracht: »Europa war über Jahrhunderte eine Idee, eine Hoffnung auf Frieden und Verständigung. Diese Hoffnung hat sich erfüllt. Die europäische Einigung hat uns Frieden und Wohlstand ermöglicht«. Gegenwärtig besteht für eine solche Euphorie jedoch wohl kein Anlass, wie die nüchterne »Erklärung von Rom« (2017) bezeugt.

Rückblickend muss aus heutiger Sicht festgestellt werden, dass die Römischen Verträge defizitär waren: Weder wurde die soziale noch die kulturelle Dimension im Europaprozess bedacht – es gab ja auch noch die kulturelle Wirkkraft des Europarats in Straßburg – noch eine globale Verantwortung der EWG. Heute ist nicht mehr vorstellbar, dass Kultur als gemeinsames Band im europäischen Einigungsprozess unbeachtet bliebe und Europas globale Verpflichtung ignoriert werden könnte.

Hat denn Kultur in den verschiedenen Etappen von EWG, EG und EU überhaupt eine Rolle gespielt? Hat sie Krisen beeinflusst oder sie gar verursacht? Dass es in der Politik der Gemeinschaft immer wieder Krisen gab, wissen wir nur allzu gut. Ob sie hätten vermieden werden können, wenn nicht Wirtschaft, sondern Kultur am Anfang des Aufbaus Europas gestanden hätte, wie Jean Monnet später einmal anmerkte, ist zu bezweifeln. Im Gegenteil: Sie wären wohl noch heftiger ausgefallen. Doch die Krisen wurden bewältigt: »Europa wird in den Krisen geschaffen, und es wird die Summe der Lösungen sein, die für diese Krisen gefunden werden«, hatte Jean Monnet prognostiziert. Wird er auch künftig recht behalten?

Aus heutiger Sicht ist kaum noch nachvollziehbar, dass in den 50er Jahren die EWG ausschließlich wirtschaftsorientiert konzipiert war; keine der nicht erst heute intensiv diskutierten Leitvorstellungen sind in den Römischen Verträgen zu finden. Diese sind erst Jahrzehnte später – vor allem auf Initiative des seit 1979 direkt gewählten Europäischen Parlaments (EP) – zunächst im Vertrag von Maastricht und dann im Vertrag von Lissabon als Aufgaben und Ziele der EU formuliert.

Ist Europa »müde und gealtert«, wie Papst Franziskus meinte, und daher nicht mehr in der Lage, sich zukunftsoffen zu positionieren? Wer genauer hinsieht, stellt hingegen fest, dass namentlich die Mehrheit der Mitglieder des Europäischen Parlaments nicht »müde« ist sondern konstruktive Energie besitzt. Die EU-Politik-Bremser sitzen nicht in der Brüsseler Kommission, sondern im Rat der Staats- und Regierungschefs, einige mehr (wie in Polen oder Ungarn), andere weniger.

Es gilt, die Impulse aus dem EP sowie der Zivilgesellschaft aufzugreifen, zu präzisieren und zu realisieren, und dazu bedarf es keiner neuen Verträge. Keiner wird heute mehr allein auf die Wirtschaft und einen offenen Binnenmarkt setzen, sondern nach neuen politischen Prioritäten fragen. Für die neuen Wege in der EU-Politik bedarf es allerdings der Rückbesinnung und der Rückgewinnung der Grundwerte von Frieden, Demokratie und der Rechtskultur. Mit anderen Worten: Weder der Brexit noch Donald Trumps Anti-EU-Parolen können Europa aus den Fugen geraten lassen: Viel zu tief hat die Kultur des Zusammenlebens Europa geprägt; das ist unverlierbar und öffnet die Zukunftsperspektive der EU, allemal für die junge Generation.

Europa in Raum und Zeit, in Gegenwart und Zukunft bleibt stets Utopie wie auch Realität; kulturelle Einheit existiert in der Vielfalt. Europa, das ist die wunderbare Musik, die hier lebendig ist, die Bilder, die hier gemalt und betrachtet werden, die Literatur, die geschrieben und gelesen wird, die Werte der Philosophie und der Theologie die erdacht werden – und vieles mehr: Das ist unser bewahrenswertes kulturelles Erbe!

»Lasst Europa auferstehen!«, rief Churchill am Ende seiner berühmten Zürcher Rede seinem jungen Publikum am 19. September 1946 zu. Unser neuer Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier tut es ihm in seinem 2016 erschienenen Buch Europa ist die Lösung: Churchills Vermächtnis gleich. Eine grundlegende Neujustierung in der Europapolitik ist – wie auch Martin Schulz immer wieder aus gutem Grund hervorhebt – dringlich, darüber zu streiten ist durchaus angemessen. Wie könnte aber die aktuelle Schwerpunktdiskussion aussehen? Im Rückblick auf die Entwicklungsphasen der Europäischen Gemeinschaft seit 1957, von der reinen Wirtschaftspolitik am Anfang bis zur Öffnung für nahezu alle Politikfelder durch den Vertrag von Maastricht, wird heute zu Recht das Kulturdefizit der EU beklagt. Längst hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass die Kultur die Grundlage ist, um die Wertegemeinschaft zu stabilisieren. Die Schritte bzw. Maßnahmen der Kommission, zumeist auf Drängen des EPs durchgeführt, reichen allerdings noch keineswegs aus, trotz wirkungsvoller Kulturhauptstadt-Aktionen, Programmen wie Erasmus+ oder dem Projekt »Lebenslanges Lernen«.

Die Aktivitäten zum »Europäischen Kulturerbejahr 2018« könnten deutlich machen, dass die EU zuvorderst eine Werte-Kultur-Gemeinschaft ist. Aus solchem Geist sind die Vereinigten Staaten von Europa zu entwickeln; dass auch unterschiedliche Geschwindigkeiten dazu führen können, man auch mit »abgehängten« Ländern rechnen sollte (z. B. Viktor Orbáns Ungarn und Polens antieuropäische Entwicklung), muss in Kauf genommen werden. Nicht der Weg ist das Ziel, sondern das Ziel ist die gelebte Einheit Europas: als Werte- und Kulturgemeinschaft! »Europa wird ein kulturelles Projekt, oder es wird sich auch politisch nicht halten lassen«, hat Adolf Muschg in seinem Essay Was ist europäisch? formuliert.

Waren die Anfangsjahre der Gemeinschaft noch wirtschaftsdominiert und von wachsendem Wohlstand geprägt, so änderte sich diese Priorität grundlegend und sukzessive mit der Direktwahl zum Europäischen Parlament (1979): Nun galt es, das breite Feld des Politischen in seiner Vielfalt zu gestalten. Bis hin zu den Verträgen von Maastricht und Amsterdam initiierten namentlich die Aktivisten im EP schrittweise die Vielfalt des Politgeschehens in einem ersten umfassenden Vertragsentwurf (Spinelli-Initiative). Das Vertragswerk zur Union und der gemeinsamen Euro-Währung war in den 90er Jahren nicht mehr eingeengt, sondern musste gesamtpolitisch – innen- und außenpolitisch – erweitert werden. Das betrifft auch die Kulturpolitik, die laut den Verträgen nicht nur die inner-, sondern auch außereuropäische Kulturdimension beinhaltet; schließlich verpflichtet der dritte Absatz des Artikels 167 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) die Union zur »Zusammenarbeit mit dritten Ländern« sowie internationalen Organisationen wie Europarat und UNESCO.

Die schwierigen Etappen zum Vertrag von Lissabon – mit dem zwischenzeitlichen Scheitern des Vertragswerkes aufgrund französischer und niederländischer Wählervoten – sind einerseits gekennzeichnet durch Maßnahmen zur »immer engeren Union der Völker Europas« in den Mitgliedsstaaten und andererseits immer wieder durchbrechende Nationalisierungstendenzen, wie sie letztlich zum Brexit führten.

Nach dem Schock des Brexit sind alle EU-Institutionen bemüht, den Zusammenschluss zu stabilisieren und den Euro zu erhalten. Das Spektrum der Maßnahmen ist breit gefächert. Es wäre wichtig, sich primär auf die ideellen Grundlagen der Gemeinschaft zu besinnen und die Wertediskussion zu vertiefen. Das ist auch dringend nötig, wenn das für 2018 angekündigte »Kulturerbejahr« ein Erfolg werden soll! Entscheidend wird eine substanzielle Vorbereitung sein – und die wurde bedauerlicherweise noch nicht wirklich begonnen. Aus dem langen Vorlauf des »Europäischen Denkmalschutzjahres 1975« unter dem Motto »Eine Zukunft für unsere Vergangenheit« des Europarates könnte man lernen. Sie hat nicht nur fundiert denkmalschutzpolitisch stattgefunden, sondern hat schließlich in der Bundesrepublik zu dem noch segensreich wirkenden Deutschen Nationalkomitee geführt. Wenn Nachhaltigkeit bewirkt werden soll, kann das nur nach effektiver Planung geschehen.

Was den »Beschluss« des EP und des Europäischen Rates zur Durchführung eines »Europäischen Kulturerbejahres« betrifft, so werden als Gründe dafür die im »europäischen Kulturerbe verankerten Ideale, Grundsätze und Werte genannt, die eine gemeinsame Quelle der Erinnerung, des Verständnisses, der Identität, des Dialogs, des Zusammenhalts und der Kreativität für Europa sind«. Dieses breite Spektrum von Themen, die sich auf die Präambel des Vertrags von Lissabon mit der Berufung auf sein kulturelles, religiöses und humanistisches Erbe beziehen, sind anspruchsvolle Herausforderungen, die nicht zum Nulltarif zu verwirklichen sind.

Europa muss sich in diesen Zeiten der kritischen, oftmals auch aggressiven Herausforderungen auf diese Grundwerte besinnen, die Werte, die am Anfang standen und als Reaktionen auf Krieg und Holocaust begriffen wurden: »Die Einheit Europas (ist) vor allem kultureller Natur (…) Kultur erwächst aus dem Bewusstsein für das Leben – sie, die Kultur, macht die Größe Europas aus« (Haager Kongress 1948). Ein Gedanke diesen Inhalts, den Papst Franziskus in seiner Straßburger Rede vor dem Europäischen Parlament (November 2014) äußerte, ist wichtig: »Ein Europa, das nicht mehr fähig ist, sich der transzendenten Dimension des Lebens zu öffnen, ist ein Europa, das in Gefahr gerät, allmählich seine Seele zu verlieren und auch jenen humanistischen Geist, den es doch liebt und verteidigt.«

Wir leben in einer Epoche der Umbrüche, der gesellschaftlichen wie der politischen. In den gegenwärtigen Krisen kommt das zum Ausdruck. Selbstverständlich betrifft das auch die Existenz der Europäischen Union. Sie kann nicht bleiben, wie sie ursprünglich konzipiert wurde und sich politisch entwickelt hat. Dennoch muss sie nicht neu »erfunden« oder »begründet« werden, wie manche EU-Kritiker unklug verkünden. Ihre Werte sind keineswegs in einer globalen Welt obsolet, sondern im Gegenteil für die Identität dieses sich stets weiterentwickelnden, pluralistischen Erdteils grundlegend. Die Selbsterneuerungskräfte der Zivilgesellschaften Europas sind intakt, die freiheitliche, pluralistische Demokratie steht nicht zur Disposition. Das Projekt Europa ist in den Herzen und Köpfen der meisten Leute lebendig, dynamisch und zukunftsträchtig!

Kommentare (0)

Keine Kommentare gefunden!

Neuen Kommentar schreiben

Nach oben