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Drei Tage auf dem Land. Theaterstück von Patrick Marber (nach Iwan Turgenjews 'ein Monat auf dem Lande') © Foto von Jörg Stucker auf flickr

Auch zivilgesellschaftliches Engagement benötigt eine starke Infrastruktur Kultur in ländlichen Räumen unter Corona-Bedingungen

»Trotz zum Teil gravierender ökonomischer, ökologischer und sozialer Krisenerscheinungen lebt die Provinz, zumindest kulturell. Jenseits aller skyline-orientierten und metropolitanen Kulturpolitik der Großstädte mit ihren Prachtbauten und medienwirksamen Großereignissen haben der ländliche Raum und mit ihm die Klein- und Mittelstädte ihr eigenständiges kulturelles Profil entdeckt und entwickelt. (…) Ein neues kulturelles Selbstbewußtsein der Provinz bricht sich Bahn; stolz auf das Erreichte und zuversichtlich in die Zukunft blickend«, schrieb Olaf Schwencke 1989 euphorisch im Vorwort des Buches Neues aus der Provinz, herausgegeben von der Stadt Unna. Die Entwicklung einer neuen Kulturpolitik mit dem Ziel der Demokratisierung der Kultur hatte ihren Anfang in den ausgehenden 70er Jahren zwar in Großstädten wie Nürnberg, Frankfurt, Berlin und Dortmund genommen, erfasste aber recht bald auch kleinere Kommunen. Sie wollten nicht nur kulturelle Importe aus den Metropolen, und so entstanden – mal auf Betreiben der Kommunalverwaltung, mal aus der Zivilgesellschaft heraus – Kunst-, Kultur- und Kommunikationsorte in kleinen Städten und Gemeinden. Künstler, Kulturschaffende, Pädagogen und Menschen anderer Professionen zogen auf das Land, um dort alternative Lebensentwürfe zu verwirklichen. Nicht selten engagierten sie sich für mehr Selbstbestimmung der Dörfer und integrierte Konzepte für ländliche Regionen. »Provinz« avancierte zur Programmatik, mit einem Schuss Selbstironie, im Kern aber getragen von jenem emanzipatorischen Anspruch, den Schwencke vermittelt.

Moment! Woran haben Sie angesichts des Titels gedacht? Nicht an Mittelstädte wie Unna, sondern an schnurgerade Landstraßen, an denen sich vereinzelt Höfe in ihre Baumbestände ducken? An tanzende Trachtengruppen auf einem pittoresk von Fachwerkhäusern gesäumten Dorfplatz? An Brauchtumspflege, Heimatliebe und Ehrenamt? Ja, das alles gibt es in den Dörfern, Letzteres aber auch in den Städten, den Großstädten sogar – denken Sie nur an den alle gesellschaftlichen Bereiche erfassenden Karneval in Köln, Mainz oder Aachen. Und – es ist eben nicht alles, was das Leben in ländlichen Gebieten ausmacht. Die Rede über »das Land« ist in weiten Teilen des öffentlichen Diskurses – immer noch – geprägt von Stereotypen und Klischees.

Meistens fokussiert die Rede über ländliche Räume auf dörfliche Gemeinwesen oder »strukturschwache« ländliche Gebiete. Mein Anliegen ist es, mit diesem Beitrag den Blick auf die Kultur in ländlichen Räumen über den dörflichen Horizont hinaus zu weiten, wie auch im realen Leben der Aktionsradius der Landbewohner – und sei es notgedrungen – weit über ihren Wohnsitz hinausgeht. Dann sehen wir neben den ehrenamtlich Aktiven in den dörflichen Vereinen und Initiativen Künstlerinnen und Künstler wie Kulturmanager in Kultureinrichtungen, Kreativunternehmen, Kulturverwaltungen oder freischaffend tätig, und es erweitern sich die politischen Perspektiven und Optionen für den Erhalt und die Stärkung von Kultur in ländlichen Räumen – nicht nur, aber auch in Corona-Zeiten.

Die Disparitäten ländlicher Räume

Die Frage, was als ländlicher Raum anzusehen ist, ist nicht trivial. Orientiert sich die Definition für »ländlich« ausschließlich an der Bevölkerungszahl von Kommunen, z. B. bis 25.000 Einwohner (wie dies häufig bei Förderprogrammen auf Bundes- und Länderebene der Fall ist), ergibt sich ein Muster auf der Landkarte Deutschlands, mit dem sehr unterschiedlich strukturierte Gebiete markiert werden: Neben sich entleerenden Landschaften weist Deutschlands ländlicher Raum sozioökonomisch und demografisch stabile Kommunen sowie prosperierende Städte und Gemeinden auf, die von Zuzügen und Wohlstand geprägt sind. Entsprechend unterschiedlich sind auch die Voraussetzungen für Kultur und deren Ausprägung.

Es gibt diverse Modelle der mit der Entwicklung ländlicher Räume befassten Ressorts auf Bundes- und Länderebene, die auf der Basis verschiedener Kriterien urbane von ruralen Gebieten abgrenzen, nicht als Dichotomie zwischen Stadt und Land, sondern unter Berücksichtigung der fließenden Übergänge und vielfältigen Verflechtungen zwischen Landgemeinden, Klein- und Mittelstädten bis hin zu den Metropolen. Laut dem Thünen-Institut für Ländliche Räume leben 57 % der Bevölkerung in Deutschland in ländlichen Räumen, die 91 % der Fläche Deutschlands ausmachen. Nach dieser Typologie liegt die Kreisstadt Unna mit knapp 60.000 Einwohnern im urbanen Raum. Aber eine prosperierende Mittelstadt wie Rheine im Münsterland mit knapp 80.000 Einwohnern wird als zum »sehr ländlichen Raum« gehörig ausgewiesen; denn die Stadt liegt »abseits der Metropolen« in einer Region, die sich durch eine geringe Siedlungsdichte, einen recht hohen Anteil an land- und forstwirtschaftlich bewirtschafteter Fläche und einen hohen Anteil an Ein- und Zweifamilienhäusern auszeichnet.

Die Herangehensweise des Thünen-Instituts mit einem komplexen Kriterienset für Ländlichkeit, zusammengenommen mit Kriterien für die sozioökonomische Lage, hat den Charme, die Disparitäten ländlicher Räume in Deutschland sichtbar zu machen, aber den Nachteil, diese innerhalb der administrativen Grenzen von Kreisregionen darzustellen. An diese halten sich kulturelle Verflechtungen oder Bewegungsmuster jedoch nicht, auch mentale Barrieren verlaufen anders. Der Deutschlandatlas, 2019 von der Bundesregierung im Zuge der Arbeit der Kommission »Gleichwertige Lebensverhältnisse« herausgegeben, zeigt die Versorgungslage und Verflechtungen zwar für Bereiche wie Breitbandversorgung, Mobilität, Gesundheit und Bildung, berücksichtigt aber leider nicht das »Lebensmittel« Kultur

Bundesweite oder landesweite Aussagen zur Lage der Kultur in ländlichen Räumen sind schwierig. Dennoch bin ich überzeugt: So disparat die ländlichen Räume in Deutschland sind, so vielfältig ist auch das kulturelle Leben in den Regionen und dabei lässt sich keine einfache Gleichung aufmachen, je peripherer, desto »kulturärmer« sei ein Dorf, eine Stadt oder Region. Prinzipiell ist »auf dem Land« alles in allen Schattierungen zu finden: von der Heimatstube bis zum UNESCO-Weltkulturerbe, vom Laienschaffen bis zur künstlerischen Exzellenz, vom Kammerkonzert lokaler Künstlerinnen und Künstler bis zum Großevent mit internationalen Stars, nur eben nicht alles überall.

Engagement ist nicht gleich Ehrenamt

Geht es auf dem politischen Parkett um ländliche Räume, wird die große Bedeutung des Ehrenamts hervorgehoben – ganz zu Recht. Nicht selten haben Dörfer mit gerade einmal 1.000 Einwohnern schon 30 Vereine und mehr, neben Freiwilliger Feuerwehr und Schützenverein auch zahlreiche kulturelle Vereine wie Chöre, Laienorchester und Amateurbühnen, Heimat- und Brauchtumsvereine. Mit dem Strukturwandel auf dem Land hat sich auch die kulturelle Vereinslandschaft ausdifferenziert und so engagieren sich Interessierte auch in Literaturkreisen, Kunst- und Kulturvereinen.

Allerdings sagt die Vereinsträgerschaft nichts über die Größe, Professionalität, künstlerische Qualität oder inhaltliche Ausrichtung aus, auch Regionalmuseen, Kunst- und Musikschulen sind häufig in Vereinsträgerschaft organisiert. Auch hier lohnt eine Differenzierung, wenn es um die Entwicklung politischer Konzepte der Unterstützung geht. Ehrenamtlich geführte Vereine der Amateur- und Breitenkultur wünschen sich im Wesentlichen die Bereitstellung von Räumen, unbürokratische Lösungen für die kleinen und großen Hürden der Veranstaltungsorganisation oder Qualifizierungsangebote bezüglich juristischer oder finanztechnischer Fragen. Glücklich schätzen sich Akteure, die auf Angebote von Kulturfachverbänden, Servicestellen Kultur in Kreisverwaltungen oder vergleichbare Dienste zurückgreifen können.

Wichtig ist mir daher neben dem oben diskutierten Aspekt der räumlichen Verflechtung ländlicher Kultur auch derjenige der strukturellen Verflechtung. Oftmals wird die ehrenamtlich getragene Kultur professionell begleitet oder ausgestaltet. Die zahlreichen Laien-Chöre haben in der Regel eine professionelle Chorleitung, die von einem Chor allein nicht leben kann, sondern mehrere Chöre betreut und daneben in einer Musikschule oder anderweitig tätig ist.

Lassen Sie mich dazu eine Geschichte erzählen – und zwar diejenige vom SandsteinSpiele e. V. am östlichen Rand Sachsens. Sie beginnt 2013 mit einem Theaterprojekt des Staatsschauspiels Dresden gemeinsam mit dem freien Theater ASPIK aus Hildesheim. Angeregt und gefördert durch das Doppelpass-Programm der Kulturstiftung des Bundes entwickelte die Theaterkompanie ASPIK gemeinsam mit der Bürgerbühne des Staatsschauspiels Dresden und der Gemeinde Reinhardtsdorf-Schöna in der Sächsischen Schweiz ein Landschaftstheaterstück, wie sie dies alljährlich gemeinsam mit dem Forum für Kunst und Kultur e. V. in den Dörfern rund um Hildesheim tun. 2014 wiederholten sie das Landschaftsspektakel im Doppeldorf Reinhardtsdorf-Schöna, und um über das Förderprojekt hinaus Kontinuität herzustellen, gründete sich 2015 der Verein SandsteinSpiele e. V. Seitdem erarbeiten um die 40 Laiendarsteller mit rund 70 Engagierten jedes Jahr unter professioneller Regie und mithilfe der örtlichen Vereine ein Theaterstück mit lokal relevanter Thematik. Rund drei Stunden lang wandern die Zuschauer, in Vor-Corona-Zeiten waren es an die 2.500, ausgestattet mit Klapphockern von Spielort zu Spielort in den Dörfern, auf Wiesen und Feldern. Die Bürgerbühne Dresden hatte sich aufgrund der zunehmend offenen Fremdenfeindlichkeit in der Region zu der Initiative entschlossen. »Das Ganze ist Toleranzarbeit. Darum mache ich das«, sagte mir der Vereinsvorsitzende Sebastian Lachnitt 2019. Mit deutlich eingeschränkter Teilnehmerzahl fanden dieses Jahr zwischen Juli und Mitte September sechs ausverkaufte Vorstellungen von »Robin Hut. Es war einmal im Elbwood Forest« statt.

Solche partizipativen Kunstprojekte sind etwas Besonderes, auch im ländlichen Raum. Mit ihrem gemeinwesenorientierten Ansatz geraten sie nicht selten zu Lehrstücken lokaler Demokratie. Wichtig ist mir an diesem Beispiel vor allem Folgendes: Dass der Verein SandsteinSpiele seine erfolgreichen Landschaftstheaterprojekte organisieren kann, verdankt er dem starken Engagement seiner Mitglieder und weiteren Aktiven, aber eben nicht ausschließlich. Mehrere Impulse und günstige Konstellationen von engagierten Menschen haben hier zusammengewirkt, dazu gehören auch die beteiligten Einrichtungen und Kommunen, das Theaterkollektiv, das sich 1988 nach einem studentischen Projekt an der Uni Hildesheim gründete, die Landwirte, denen die Spielflächen gehören, die Verkehrsbetriebe, die Sonderfahrten ermöglichen, und viele mehr. Nicht nur partizipative oder innovative Künstlerinitiativen brauchen ein günstiges soziales und intellektuelles Umfeld, Mitglieder, Teilnehmer und zahlende Gäste.

Wenn – wie aufgrund der pandemiebedingt sinkenden Steuereinnahmen zu erwarten – die Kulturausgaben in kommunalen Haushalten durch Stellenabbau in Kulturverwaltungen oder -einrichtungen reduziert werden, hat dies negative Auswirkungen auf das gesamte Kulturleben einer Region. Denn nicht selten sind engagierte Personen aus Kultur-, Bildungs-, sozialen und kirchlichen Einrichtungen und Organisationen, aber auch aus Politik, Verwaltung und Unternehmen Initiatoren und Motoren für ein lebendiges kulturelles Angebot in ländlichen Gemeinden. Auch für das zivilgesellschaftlich initiierte Kulturleben ist eine starke Infrastruktur aus Einrichtungen, Service und Förderprogrammen wichtig. Kultureinrichtungen wie Museen oder Bibliotheken, aber auch Volkshochschulen und Kulturbüros fungieren als Anker für Kulturschaffende und Engagierte. Eine Fokussierung auf Bürgerengagement übersieht, dass auch zivilgesellschaftlich getragene Kulturarbeit stabile Netzwerke braucht. Damit wird deutlich, dass Kulturpolitik auch (Infra-)Strukturpolitik ist. Das gilt besonders in ländlichen Räumen, die unter den im Zitat von Olaf Schwencke eingangs genannten ökonomischen, ökologischen und sozialen Problemlagen leiden, da in Abwanderungsgebieten inzwischen die gesamte Infrastruktur ausgedünnt wurde.

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