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© picture alliance / AA | Olena Znak

Die Debatte zur Neubewertung der sowjetischen, russischen und ukrainischen Einflüsse in der Kunst muss weitergehen Kultur in Zeiten des Krieges

Generationen klassischer Musiker, die in Europa, den USA oder England studierten, berufen sich auf den berühmten Virtuosen und Humanisten, spielen in den Ablegern seiner Stiftung »Live music now«, die eine Teilhabe jenseits des Konzertsaals fordert. Menuhins Zitate tauchen gleichermaßen bei Pazifisten wie deren Kritikern auf, die nach dem Preis eines »erzwungenen« Friedens fragen. Die Kunst, insbesondere die klassische Musik, sucht in dieser »Zeitenwende« nach »angemessenen« Werken und Komponisten. Angesichts russischer Bomben gibt vielerorts die kulturelle Herkunft den Takt an. Harmonie beschwörende Akkorde klingen schal, wenngleich die Sehnsucht nach ihnen zunimmt.

Yehudi Menuhin wurde 1916 in New York als Sohn belarussischer Juden geboren. Er war der erste jüdische Musiker, der nach dem Zweiten Weltkrieg wieder in Deutschland konzertierte – und er war der erste, der in Israel wieder Werke deutscher Komponisten aufführte. In den Konzentrationslagern spielte er vor den Befreiten und ihren Befreiern, aber auch in zerbombten deutschen Städten unter dem Dirigenten Wilhelm Furtwängler, den die Nazis einst verehrten. Später musizierte er mit dem indischen Raga-Spezialisten Ravi Shankar und begründete das Genre der Weltmusik.

In Menuhin steckte ein politischer Vordenker und Aktivist, der ein von Staat und Wirtschaft losgelöstes Kultur- und Geistesleben mit eigenem Etat und unabhängigem Kulturparlament forderte. Während des arabisch-israelischen Krieges 1973 hatte er die Idee, sich mit seiner Geige zwischen die Fronten zu stellen. Menuhin war überzeugt, durch Musik Krieg und Hass verhindern zu können, Frieden zu stiften – und er kämpfte für die Freiheit der Kunst, deren Wahrheit man im Werk selbst suchen solle. Musik sei die einzige Sprache, die nicht lüge.

Als Reaktion auf den russischen Angriffskrieg versammelten sich am Abend des 24. Februars überall in Europa Menschen zu spontanen Friedenskonzerten, so auch in Berlin am Brandenburger Tor. Vladimir Jurowski, Chefdirigent des Rundfunksinfonieorchesters Berlin, sagte bei der Begrüßung vor einem Konzert zwei Tage später, man habe dort gemeinsam Dona nobis pacem gesungen, Imagine von John Lennon und ukrainische Volkslieder, »um den ersten Schock zu überwinden, aber auch um unserer Tröstung und unserer Hoffnung eine Stimme zu geben«.

Als einer der ersten russischen Musiker, die in Deutschland leben, reagierte Jurowski direkt auf Putins Aggression und änderte das Programm eines bevorstehenden Konzerts. Statt Tschaikowskis Slawischen Marsch ließ er am 26. Februar die ukrainische Nationalhymne spielen: »Die Ukraine ist nicht tot« lautet deren Text nach einem Gedicht von Pawlo Tschubynskyj, das 1865 von Mychajlo Werbyzkyj für Orchester vertont und erstmals als Hymne aufgeführt wurde. Der Text lehnt sich an Mazurek Dabrowskiego an – ein Motiv, das auch die panslawische Hymne (»Noch lebt unsere slawische Sprache«) aufgreift und die Freiheitssehnsucht der unter russischer Fremdherrschaft lebenden Slawen ausdrückte. Von 1917 bis 1920 während der kurzen Zeit der Unabhängigkeit sang man Tschubynskyjs Verse. Dann verschwanden sie wieder von den Podien, blieben jedoch als Widerstandsmelodie populär. Seit 1991 bilden sie die offizielle Hymne der Ukraine.

Mit dem russischen Angriffskrieg steht sie auch auf den Repertoirelisten westlicher Konzertsäle – und mit ihrer zunehmenden Popularität wächst plötzlich auch das Interesse an ukrainischer Kultur. Inzwischen ist sie nicht nur Ausdruck der Solidarität, sie steht auch für den Kampf freiheitlicher Werte gegen ein diktatorisches System. Handyvideos im Netz zeigen, wie ukrainische Zivilisten sie schwerbewaffneten russischen Soldaten entgegenhalten: singend gegen Panzer – ein Akt im Sinne Menuhins.

Doch auch inbrünstig gesungene Verse bieten dem Töten keinen Einhalt. Das beweisen Tausende ermordeter Zivilisten und gefallener Soldaten. Und das Gemeinschaftsgefühl durch ihren Gesang – welchen Musiker, Dirigenten oder Sänger hat es außerhalb der Kampfgebiete berührt? Wer in Russland das Wort Krieg im Zusammenhang mit der Ukraine verwendet, riskiert derzeit im Gefängnis zu landen. Doch wie verhalten sich prominente russische Künstler, die im Ausland leben? Die Dirigenten Valdimir Jurowski, Kirill Petrenko, der Pianist Jewgeni Kissin nutzten ihre Freiheit und verurteilten Putins Angriff scharf. Etliche andere blieben und bleiben stumm.

Das Schweigen, die Gier und die »Moral«

Das Schweigen der Sängerin Anna Netrebko sorgte dabei für besonderen Aufruhr. Obwohl ihre Nähe zu Putin, ihre Sympathie für dessen Politik seit Langem ein offenes Geheimnis ist. Spätestens seit 2014, als sie im Donbass vor einer russischen Fahne neben einem Separatistenführer posierte. Im vergangenen Jahr feierte sie ihren 50. Geburtstag im Kreml. Ihre unklare Haltung führte im März zu Konzertabsagen – an der Bayerischen Staatsoper und der Mailänder Scala kündigte man ihre Verträge. Ihre deutsche Agentur trennte sich von ihr. Inzwischen hat sie einen neuen Agenten und neue Konzerte sind bereits geplant. Vom Karriere-Aus keine Spur – aber auch nicht von der versöhnenden Kraft der Musik.

Der griechisch-russische Star-Dirigent Teodor Currentzis, seit 2018 Chefdirigent des SWR-Orchesters in Stuttgart, postete am Abend des Angriffskrieges Bilder seines Geburtstages, den er mit prominenten Veranstaltern und viel Champagner in Sankt Petersburg feierte. Wochen später ließ er zwar mitteilen, er sei gegen jegliche Form der Gewalt und hoffe auf baldigen Frieden – doch nach wie vor wird sein Ensemble musicAeterna von der russischen Staatsbank VTB gesponsert.

Noch eindeutiger liegt der Fall Valery Gergievs, bis vor Kurzem Chefdirigent der Münchner Philharmoniker. Ein Ultimatum, sich von Putins Aggression gegen die Ukraine zu distanzieren, ließ er unkommentiert verstreichen, er verlor seinen Posten in München, etliche europäische Festivals luden ihn aus. Sein eisernes Schweigen unterstreicht seine früheren Aussagen zum Autokraten Putin, für dessen Wiederwahl und Anti-Homosexuellengesetz er sich oft aussprach. In Russland ist er nach wie vor Intendant des Mariinski-Theaters, wahrscheinlich wird er demnächst auch das Bolschoi als künstlerischer Leiter übernehmen. Seine Treue zu Putin zahlt sich weiterhin aus.

Die Liste der Verstrickungen von Künstlern, Agenturen, Festivals und deren Veranstaltern mit Putins System ließe sich fortsetzen. Sie wirft nicht nur ein grelles Licht auf die Gier und »Moral« gefeierter Künstler. Sie fragt auch nach jenen, die jetzt laut nach Haltung und Gesinnung rufen, nach Agenten, Veranstaltern, Managern und Festspielleitern, viele darunter aus dem deutschsprachigen Raum. Sie alle sonnten sich im Glanz der Künstler und profitierten. Zuletzt bleibt noch die Frage nach dem Publikum, das für einen großen Namen bereit ist, jeden Preis zu zahlen.

Russlands Krieg gegen die Ukraine ist ein hybrider Krieg, der sich an vielen Fronten, auf vielen Ebenen gleichzeitig abspielt, auch auf europäischen Bühnen und Festivals, in den Konzertprogrammen, den Casting-Büros und Kulturinstitutionen. Das ist kein »russisches« Phänomen. Politische Kämpfe zu allen Zeiten hinterließen ihre Spuren in der Kunst.

Warum der aktuelle Krieg Deutschlands kulturellen Blickwinkel in besonderer Weise verschiebt, resultiert aus dem Selbstverständnis einer Appeasement-Politik, die auch unsere Sicht auf die vielbeschworene »russische Seele« lange vernebelte. Nun wird sie durch die Gegenwehr der Ukrainer erschüttert wie nie zuvor. Wer wusste vor diesem Krieg, dass der russische Komponist Tschaikowski, der bei jedem offiziellen Staatsempfang in Moskau gespielt wird, in der Ukraine lebte – sein Haus dort wurde erst kürzlich bei einem Bombenangriff zerstört –, die dortige Sprache und Kultur liebte und in seinen Sinfonien ukrainische Volksmelodien verarbeitete?

In einer Stellungnahme zur Frage nach dem Boykott russischer Kultur und Künstler betonte die ukrainische Kritikerin Lena Myhashko bereits im März 2022, wie wichtig es sei, russische Kulturorganisationen und Künstler unter postkolonialen Gesichtspunkten neu zu bewerten. Im postsowjetischen Russland seien kulturelle Differenzen und Errungenschaften systematisch nivelliert oder zerstört worden.

Während man nach wie vor in vielen deutschen Städten jeden Abend in irgendeinem Konzertsaal Tschaikowski oder Mussorgsky spielt, kannte bis vor Kurzem kaum jemand das Werk eines ukrainischen Komponisten.

Russische Kunst und Kunstförderung sind seit Langem zentralisiert. Von keiner künstlerischen Institution sei mehr Subversives zu erwarten – und eine freie, unabhängige Szene gäbe es so gut wie nicht mehr, sagen Kenner des Landes. Symptomatisch dafür ist der Exodus russischer Künstler, der jetzt Rekordniveau erreicht hat, aber bereits vor vielen Jahren einsetzte. Die Mitglieder der feministischen Punk Band Pussy Riot, die wegen der Veröffentlichung ihres Songs Punk Prayer zu zwei Jahren Straflager verurteilt wurden oder der Performance-Künstler Pjotr Pawlenski, der mehrfach für seine Aktionen ins Gefängnis ging, sind nur zwei Beispiele von tausenden.

Aus Protest gegen die Verhaftung von Pussy Riot nähte sich Pawlenski den Mund zu – eine überdeutliche Metapher dafür, dass die zum Schweigen verurteilten Künstler selbst zu lauten Zeugen der Diktatur Putins wurden, ein System, das unter dem Vorwand, Nazismus zu bekämpfen, Meinungs- und Kunstfreiheit auslöscht. Sie alle befinden sich inzwischen im Ausland – ihre künstlerischen Stimmen könnten sie von dort nun wirkungsvoller einsetzen, sagen sie.

Dennoch rief das polnische und ukrainische Kulturministerium zum weltweiten Boykott russischer Kunst und Künstler auf – um ein Zeichen gegen die übermächtige Aggression Putins und dessen Propaganda-Maschinerie zu setzen. Mehr als 70 Kulturinstitutionen folgen diesem Aufruf inzwischen. Die ukrainische Dirigentin Oksana Lyniv, Musikdirektorin in Bologna, bringt diese Ablehnung in eine Notlage, als Ukrainierin, die im Ausland arbeitet, ebenso wie als Künstlerin, die die Freiheit eines Kunstwerks für unveräußerlich hält. Als ukrainische Staatsbürgerin sei sie verpflichtet, dem Boykott zu folgen, gleichzeitig sei ihr derzeitiger Arbeitgeber das Teatro Communale di Bologna – und in Italien sei jede politische Zensur von Kunst verboten, berichtet sie in einem FAZ-Interview.

Lyniv fordert für Fälle wie ihren eine bessere Koordination und klarere Richtlinien innerhalb der EU. Für ihre Entscheidung, bei einem Konzert in Ludwigsburg die 6. Sinfonie Tschaikowskis durch Mahlers Fünfte zu ersetzen, wurde sie in der ARD-Sendung ttt als »ukrainische Patriotin« bezeichnet. Man vergaß zu erwähnen, dass auch das Auftragswerk Nova der ukrainischen Komponistin Victoria Poleva aus dem Programm verschwand. Diese hatteihr Stück zurückgezogen, als sie erfuhr, dass Tschaikowski gespielt werden sollte.

Während auf westeuropäischen Bühnen über russisches und kaum bekanntes ukrainisches Repertoire gestritten wird, und einigen russischen Künstlern, obgleich sie sich gegen Putin aussprachen, Engagements gekündigt wurden, sterben Künstler in Mariupol, Charkiw und Kiew auf dem Schlachtfeld, unter ihnen der ukrainische Schauspieler Pasha Lee, der Anfang März vor Kiew fiel, oder der lettische Filmemacher Mantas Kvedaravičius, der einen Film über die Belagerung Mariupols drehte und bei seinem Versuch, Flüchtenden zu helfen, von russischen Soldaten ermordet wurde. Sein Filmfragment wurde gerade bei den Filmfestspielen in Cannes gezeigt, neben dem Werk des russischen Exil-Regisseurs Kiril Serebrennikov, der ausgerechnet die Geschichte der Ehefrau des eigentlich homosexuellen Tschaikowski erzählt. Finanziert wurde Serebrennikovs Film vom russischen Oligarchen Roman Abramovitch.

Während russische Künstler Repressalien ausgesetzt sind oder gezwungen werden, ihre Kunst im Untergrund oder Exil auszuüben, finden viele künstlerische ukrainische Biografien ein jähes Ende. In Zeiten des Krieges, im Moment der Selbstverteidigung ist es schwer, Opern aufzuführen oder Bücher zu veröffentlichen. Alle ukrainischen Männer zwischen 18 und 65 Jahren sind zur Verteidigung ihres Landes verpflichtet, Frauen unterstützen sie dabei.

Die Lieder der Sängerin Birdie, die bis vor kurzem als Sanitäterin im Stahlwerk Asow in Mariupol half, sind eindringliche Appelle, direkt aus den Katakomben des Krieges. Selbst im Extrem des Krieges bleiben Momente künstlerischer Selbstvergessenheit, die sich über das Kriegselend erheben und ihre Hoffnung über die Landesgrenzen tragen, wie die Aufnahmen des jungen Cellisten zeigen, der in den Ruinen Charkiws Bach spielte.

Doch genau hier stößt die Kraft der Musik an ihre Grenzen. Denn Gerechtigkeit im Umgang mit ukrainischer und russischer Kunst gibt es derzeit nicht. Der Aufruf nach ukrainischen Werken und Künstlern in den Konzertprogrammen und auf den Bühnen Europas ist daher noch immer nicht laut genug. Zugleich führt eine systematische Ablehnung russischer Kunst und Künstler in eine Sackgasse, die nicht breiter werden darf.

Wie könnte Verständigung im Sinne Menuhins dennoch versucht werden? Wie das Friedenskonzert im Schloss Bellevue wohl eher nicht. »Versöhnungskitsch« schrieb das Musikmagazin VAN über das Event, bei dem ukrainische und russische Musiker bekanntes russisches und wenig bekanntes ukrainisches Repertoire spielen sollten. Die symbolische Friedensgeste beschwor eine scheinheilige Balance zwischen Aggressor und Geschädigten und schlug in ihr Gegenteil um: Die Absage des ukrainischen Botschafters Melnyk machte deutlich, dass sich die Ukraine vor allem nicht als Opfer sehen möchte, deren Kultur und Geschichte man weder kennt noch würdigt.

Wie also könnte es gehen? Vielleicht so: An der medialen Aufmerksamkeit vorbei kreierten drei junge Künstlerinnen, die russische Theaterregisseurin Anna Demidova, die Berliner Performance-Künstlerin Maria Turik und die aus der Ukraine geflüchtete Straßenkünstlerin Daniela Nich ein großes Gemälde, das die Gräueltaten von Butscha nachzeichnete. Aus Supermarktkartons und Acrylfarbe – und was sie sonst vor dem Eingang des Russischen Hauses in der Friedrichstraße finden konnten, an deren Eingang sie es klebten. Das Russische Haus in Berlin bezeichnet sich als größtes russisches Kulturinstitut im Ausland – und leugnet bis heute den russischen Angriffskrieg. Mit ihrer Aktion forderten die Künstlerinnen Passanten auf, Augenzeugen der Massaker zu werden und mit ihrer Teilnahme die Schweigekultur russischer Institutionen zu unterwandern.

Zu lange haben viele in der Politik einer undifferenzierten groß-russischen Idee angehangen und Wirtschaftsinteressen zur Grundlage politischer Handlungen gemacht. Selbst der ehemalige Bundeskanzler und Publizist Helmut Schmidt hatte 2014 formuliert, es sei zwischen Historikern umstritten, »ob es überhaupt eine ukrainische Nation gibt« – symptomatisch für viele linksliberale Intellektuelle. Die Ukraine als eigenständige Nation mit einer über tausend Jahre alten Kultur hatten nur wenige auf dem Schirm.

Es ist Zeit für eine differenzierte Neubewertung der sowjetischen, russischen und ukrainischen Geschichte, die deren kultureller Vielfalt und Verknüpfungen Rechnung trägt. Erst wenn die Ukraine nicht mehr mit aller Kraft ihre Souveränität als Staat verteidigen, sie ihre Geschichte und künstlerischen Errungenschaften nicht länger lauthals einfordern muss, kann es ein gemeinsames Friedenskonzert geben.

Trotz anhaltender Bombardements hat das Opernhaus in Kiew seinen Spielbetrieb wieder aufgenommen. Ein über die Grenzen ausstrahlendes Symbol dafür, dass der Geist von Demokratie und Freiheit, von der Schönheit der Kunst, den Krieg überflügeln wird? Hoffentlich.

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