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»Kultur ist nichts Girlandenhaftes«

NG FH: Herr Khuon, am Deutschen Theater spielen Sie nun wieder seit einigen Wochen. Los ging es zunächst im Hof mit einer Kurzversion der Pest nach Albert Camus. Ein Text, der sehr gut in diese Zeit passt.

Ulrich Khuon: Stimmt. Was uns durch die Pandemie bewusst wird, ist dieses nicht Verfügen können über das Leben. Da ist plötzlich eine große Zäsur in unserem Alltag, der ja darauf gepolt ist, Dinge zu steuern, zu bewältigen, Probleme zu lösen. Camus schreibt über das Unverfügbare und damit auch über die Freiheit des Menschen, seinen freiheitlichen Trotz gegen dieses Leben, das sich entzieht, gegen Zufälle, Vorherbestimmungen anzuleben. Bis er dann doch Opfer dieser Absurdität wird – und stirbt.

NG FH: Camus Text ist ein Memento Mori – was viel mit dem Theater an sich zu tun hat, wo sich die Aspekte des Lebens wie unter einem Brennglas zu Geschichten konzentrieren und einem die eigene Sterblichkeit vor Augen führen.

Während man sich in den vergangenen Monaten nur auf Distanz oder im virtuellen Raum begegnen konnte, haben viele die Bedeutung des Theaters beschworen. Wie haben Sie die Zeit der geschlossenen Bühnen erlebt?

Khuon: In erster Linie als Verdichtung. Wie wahrscheinlich viele Menschen, die entweder ihrer Einsamkeit oder ihrer Überforderung ausgesetzt waren. Plötzlich erlebt die gesamte Gesellschaft eine Existenzkrise. Das Neue daran ist, dass sie uns alle so umfassend trifft – ökonomisch, ökologisch, gesundheitlich – und dabei unsichtbar bleibt. Ich empfand das als eine extrem anstrengende Zeit. Nicht nur für mich persönlich. Sondern als Teil eines Hauses mit 300 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und natürlich als Präsident des Bühnenvereins, der gemeinsam mit anderen Verantwortungsträgern sehr unterschiedliche Häuser und Kollektive zusammenführt.

NG FH: Da waren Sie vor allem als Vermittler gefragt?

Khuon: Ja, wir mussten die unterschiedlichsten Bedürfnisse koordinieren, sie zusammendenken. Die Theaterszene ist ja in sich schon eine hochdifferenzierte, individualisierte Gesellschaft verschiedenster Sparten, Festengagierter, freier Künstler, Chöre, Solisten, Opern, Orchester, Schauspieler und Ballett. Und diese Anliegen dann möglichst einleuchtend und klar der Politik zu vermitteln …

NG FH: … ist Ihnen das gelungen?

Khuon: Ich glaube, wir konnten Grundhilfe leisten – soweit das in der Diversität der Strukturen möglich war. Ein Opernhaus, ein Ballett, ein Chor muss jeweils anders um seine Rückkehr auf die Bühne kämpfen als ein Schauspielhaus. Ein Privattheater mit einer kleinen Truppe an Festengagierten und vielen Gästen hat einen anderen Weg als ein Stadttheater mit großem Ensemble und relativ wenigen Gästen. Im Bühnenverein haben wir in den vergangenen drei Monaten fast täglich Mitteilungen herausgegeben. Und ich glaube, was wir geschafft haben, ist, der Politik, Wirtschaft und Wissenschaft zu zeigen, dass Kultur nichts Girlandenhaftes ist, was man der Gesellschaft umhängt, solange alles in Ordnung ist. Sondern gerade jetzt, wo so viele Unterschiede aufbrechen, können wir, die Künstler, Dolmetscher sein. Da wir in anderen Modellen sprechen – in unseren Erzählweisen die Empathie für den Einzelnen wecken, aber auch die Stimme des sozialen Kollektivs hörbar machen.

»Gerade jetzt, wo so viele Unterschiede aufbrechen, können wir, die Künstler, Dolmetscher sein.«

NG FH: Sie hatten zu Beginn sehr viel Vertrauen in die politischen Entscheidungen. Sie waren sich sicher, dass die Bundesregierung die Theater nicht im Stich lassen würde.

Khuon: Ich finde, auch die Staatsministerin Monika Grütters hat das erstaunlich gut gekontert. Und das in einem so umfassenden Prozess, der ja auch die Politik überforderte. Im kulturellen Feld spielen viele Akteure mit – Bund, Länder, Kommunen – und man muss sagen, der Bund hat die Krise bislang am besten bewältigt.

NG FH: Was hätten Länder und Kommunen besser machen können?

Khuon: Ich hätte mir eine frühe gemeinsame Vorgehensweise gewünscht, zum Beispiel hinsichtlich Ausgleichszahlungen für Künstler, deren Gastengagements nicht realisiert werden konnten – um eben die Kluft zwischen Freien und Festengagierten nicht so groß werden zu lassen. Da gab’s aber leider sehr unterschiedliche Einschätzungen und Geschwindigkeiten. Positiv hervorheben kann man die Stadtstaaten. Berlin und Hamburg haben schnell ein umfassendes, unkompliziertes Hilfsprogramm für Soloselbstständige auf die Beine gestellt, von dem auch freie Künstler profitieren konnten. Die meisten Großflächenländer reagierten zögerlicher. Zudem hätte man in der Tarifkommission der Länder viel früher auf Kurzarbeit in den Landes– und Staatstheatern hinwirken sollen – das hätte die Einrichtungen enorm entlastet. Aber auch da herrschte Uneinigkeit.

NG FH: Ihr ursprüngliches Vertrauen in die Politik schlug irgendwann in Wut um.

Khuon: Als man über die Öffnung von Baumärkten und Minigolfplätzen sprach, über Geisterspiele der Fußball-Bundesliga diskutierte – die Spielzeiten der Theater aber für beendet erklärte. Da hatte ich den Eindruck, dass wir im Konzert der Schreihälse nachlegen müssen. Obwohl ich finde, dass Lautstärke meistens nichts mit der Intensität der Not zu tun hat.

NG FH: Die Theater wurden also ausgespielt – zum Beispiel gegen den Fußball?

Khuon: Dabei war ich zuerst froh, dass Theater nicht zu Versuchslaboren wurden. Eine Fußballmannschaft zu testen und zu kasernieren ist wesentlich einfacher als ein halbes Schauspielhaus unter Quarantäne zu stellen. Und dann bewegen wir uns in einer vielstimmigen kulturellen Gesellschaft – zu welcher der Fußball eben genauso gehört wie Schauspiel, Oper und Ballett. Aber dass die Theaterbühnen beim Schachern um Öffnungstermine das Schlusslicht bilden sollten, wollte ich nicht hinnehmen.

NG FH: In den meisten Theatern ging es ja jetzt im Herbst – allerdings langsam und vorsichtig – wieder los. Hätten Sie nicht doch lauter schreien müssen?

Khuon: Ich fand den Rhythmus unseres Vorgehens von Seiten des Bühnenvereins richtig – auch im Nachhinein. Hysterie ist mir fremd. Klar, manchmal muss man vorpreschen, um überhaupt wahrgenommen zu werden, aber es ist auch wichtig, in Ruhe zu agieren, das Gespräch zu suchen, loyal zu sein. Schließlich garantiert die öffentliche Hand unsere Existenz. Das Timing in dieser Krise war und ist eine schwierige Angelegenheit. Das Tempo ist eben auch Ländersache. Da kann man klagen oder sich freuen.

NG FH: Bei etlichen Privattheatern und freien Künstlern dürfte die Freude trotzdem gering ausfallen – weil zu wenig Geld, um Hygienemaßnahmen umzusetzen, da ist, oder sie schlichtweg durch das Raster der Hilfsmaßnahmen gefallen sind.

Khuon: Da muss man jeden Einzelfall genau betrachten. Zunächst finde ich, dass mit der Milliarde, die der Bund zusätzlich für die Kultur locker macht, plus den Künstlerhilfen, die Länder und Kommunen bereitstellen, sehr viele Unterstützungsangebote angelaufen sind. Auch dass die Hürden für die Grundversorgung II herabgesetzt wurden, um jene aufzufangen, für die Corona-Hilfen bislang nicht greifen, sehe ich positiv. Dass trotzdem einzelne durchs Raster fallen, weil Anträge nicht genehmigt werden oder Geld zu spät eintrifft, ist tragisch. Aber wir sind im Prozess. Um das Geld gerecht zu verteilen, müssen Maßnahmen ständig überdacht werden. Praktisch hängen wir da nicht so sehr von den Spitzen der Politik ab, als vielmehr von Behördenmitarbeitern, die die Anträge engagiert umsetzen müssen. Wir erleben gerade eine ähnliche Überforderung wie während der Flüchtlingskrise 2015. Doch im Vergleich zu vielen anderen Ländern, in denen jetzt alles kollabiert, stehen wir gut da. Und da finde ich es problematisch, kollektiv aufzuschreien. Falsch wäre aber auch, Kritik herunterzuspielen und zur allgemeinen Beruhigung aufzurufen.

NG FH: Sie haben die Kluft zwischen Festengagierten und freien Künstlern benannt ...

Khuon: Ja, im Bühnenverein haben wir früh darauf hingewiesen, dass die Krise nicht zu einer Spaltung der Theaterszene führen darf – zwischen abgesicherten festen Ensembles und den freien Künstlern. Wir haben Veranstalter und Intendanten gebeten, ihre Verantwortung wahrzunehmen, Künstler, die für Gastproduktionen engagiert wurden, ganz oder teilweise weiter zu bezahlen und Produktionen, die nun verschoben werden mussten, wenn möglich, nachzuholen.

»Die Krise darf nicht zu einer Spaltung der Theaterszene führen – zwischen abgesicherten festen Ensembles und den freien Künstlern.«

NG FH: Haben Ihre Intendanzkollegen und die Veranstalter alle mitgezogen?

Khuon: Nein. Es gab einen Dissens. Es gab auch Rechtsträger, die ihren Theatern Ausgleichszahlungen verboten haben. Zudem stellt sich die Rechts- und Sachlage als ziemlich diffizil dar.

NG FH: Aber müsste man da nicht Verträge nachjustieren, um die Freien besser zu schützen?

Khuon: Ich glaube, dass die Pandemie im Falle der Höheren Gewalt-Klausel tatsächlich zum Umdenken, zu neuen Vertragsformen führen wird. Ein Vertrag ist ja nicht die Rechtsprechung, sondern ein Angebot, das juristisch unterschiedlich ausgelegt und bewertet werden kann. Und eine Corona-Klausel müsste ein sichtbares Risiko ansprechen und Angebote machen, wie man mit ihm umgeht – also konkrete Vorschläge zu Ausgleichszahlungen und Nachholterminen nennen. Jenseits des juristischen gibt es ja einen ethischen und gesellschaftlichen Aspekt.

NG FH: In der Wahrnehmung nicht theateraffiner Menschen begegnet man dem Künstler häufig im Bild des hungernden Bohemiens, der nichts hat, aber selbst Schuld an seiner Misere trägt. Die uralte Parabel von der Ameise und der Grille.

Khuon: Ein völlig schräges Bild. Durch die staatliche Förderung ist die Relevanz des Theaters untermauert, aber auch intern müssen wir unseren Teil dazu beitragen – zum Beispiel im Umgang mit den freien Künstlern. Und da können, müssen auch Intendanten und Veranstalter nachbessern, dazulernen – und genauere, gerechtere Verträge helfen. Es geht nicht alleine darum, dass man die Kohle rüberschiebt, sondern darum, dass der Partner merkt: Ich werde respektiert.

NG FH: Glauben Sie nicht, dass sich die Menschen eher wieder ans Theater gewöhnen müssen – nach so einer langen Abstinenz? Das Virus ist ja nicht verschwunden.

Khuon: Das halte ich für unmöglich. Denn das Theater ist ein Nähe-Reservoir. Die Sehnsucht nach Nähe gehört so sehr zum Menschen. Wir sehen ja bereits jetzt, wie groß der Andrang auf die Hofversion der Pest ist – alle Vorstellungen waren ausverkauft.

NG FH: Trotzdem – die Nähe in den Theatern ist schon eine spezielle.

Khuon: Glücklicherweise! Aber es stimmt, ein Land wie Amerika kommt über weite Strecken völlig ohne Theater aus. Die Vielfalt der Theaterlandschaft ist schon eine besondere deutsche Tradition, die sich aus den Fürstenhöfen des 18. Jahrhunderts entwickelte und im 19. Jahrhundert in ein Bürgertheater überführt wurde. Bis heute ist das Theater ein Instrument des demokratischen Widerspruchs, ein Ort des öffentlichen Nachdenkens über die Gesellschaft. Und so hat unsere Theatertradition eine große Kraft, die sich auch ästhetisch ständig weiterentwickelt – und um die uns Theaterleute in der ganzen Welt beneiden. Dass immer wieder versucht wird, das in der Verfassung fester zu verankern, finde ich gut. Aber stark muss das Theater auch ohne diese Verankerung sein.

NG FH: Weil der Abstand zu den Herrschenden wichtig ist, um das Moment des Widerspruchs zu schützen. Meinen Sie, dass die Krise dieses Bewusstsein stärkt?

Khuon: Ob die Pandemie das Bewusstsein um die Autonomie des Theaters stärkt, weiß ich nicht. Wir sehen ja, dass Krisen auch die Sehnsucht nach Zugehörigkeit befeuern – und ein den nationalen Gedanken bekräftigendes Theater wäre fatal. Im Dritten Reich wurden die Staatstheater zu Instrumenten der Faschisten – Widerspruch war nur im Verborgenen möglich. Heute spielt die AfD mit der großen Sehnsucht des »gefühlten Volkes«, einer »gefühlten Einheit«, beschwört dabei die Romantik. Sie versucht, künstlerische Felder in Propaganda umzumünzen. Im Kampf gegen den Rechtspopulismus haben sich in den letzten zwei Jahren viele Theater neu vernetzt. Die Besinnung auf demokratische Werte und den europäischen Gedanken hat das Zusammengehörigkeitsgefühl in der Theater-Community gestärkt – ohne hoffentlich die eigene Kritikfähigkeit zu beschädigen. Letztlich geht es immer darum, zu überprüfen, welche Geschichten wir wie erzählen wollen. Kunst muss Freiheit haben, aber auch zuhören – das auszubalancieren ist die entscheidende Frage.

NG FH: Werden sich die Erzählweisen durch Corona ändern?

Khuon: Ästhetisch hat das Theater bereits jetzt von der Krise profitiert – und es wird weitere Entwicklungen von Streaming- und digitalen Theaterformen geben, ohne dass der klassische Theaterbesuch an Bedeutung verliert. Wir gehen inzwischen selbstverständlicher mit virtuellen Räumen um, mit der Anwesenheit im Netz. Bei uns wurde z. B. das RADAR-Ost-Festival digital neu konzipiert. Da wurde das Deutsche Theater virtuell begehbar, man konnte zwischen Lesung, Performance oder gestreamtem Gastspiel wählen, in jedem Raum passierte etwas anderes. Der Zuschauer entschied, welche Tür er öffnet. So konnte man auch Blicke hinter die Kulissen erhaschen, die sonst verwehrt sind, zum Beispiel in die Garderoben und die Unterbühne.

NG FH: Gibt es einen Text, der Sie persönlich durch die Krise getragen hat?

Khuon: Ein Satz von Pascal: »Eine Kleinigkeit tröstet uns, weil eine Kleinigkeit uns betrübt.« Wir sind labile Wesen und es ist erstaunlich, wie wir die größten Krisen überleben können, aber wegen eines falschen Wortes umkippen. Oder umgekehrt – uns ein gutes sofort stabilisiert. Dass wir durch winzige Sätze oder Bewegungen verletz- oder motivierbar sind, das habe ich in den vergangenen vier Monaten in besonderer Weise erlebt – eine bemerkenswerte Achterbahnfahrt –, wobei, die hält das Theater ohnehin für einen bereit. Und das ist auch einer der Gründe, warum ich es so sehr liebe.

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