Intellektuelle nehmen mit ihren Stellungnahmen an vielen Diskursen teil. Häufig werden sie in der Öffentlichkeit kaum gehört, aber in Krisensituationen sind ihre Stimmen meist deutlich zu vernehmen. In der Coronapandemie erregte beispielsweise der Philosoph Richard David Precht 2021 die Gemüter. Auch zum Ukrainekrieg haben mehrere gemeinsam verfasste offene Briefe und Appelle zu heftigen Debatten geführt.
Unbestreitbar erreichen Intellektuelle mit ihren politischen Interventionen also die Öffentlichkeit. Doch »Aufmerksamkeit impliziert (...) nicht Einfluß, Prominenz ist nicht per se gleichbedeutend mit opinion-leadership« konstatierten schon vor über 30 Jahren die Soziologen Jürgen Gerhards und Friedhelm Neidhardt.
So stellt sich die Frage: Welchen politischen Einfluss haben Intellektuelle tatsächlich? Sie haben keine politische Macht. Ohne Mandat und ohne Amt sind sie »Außenseiter des politischen Systems« (Hanspeter Kriesi). Sie verfügen aufgrund ihrer Prominenz allerdings über eine kommunikative Macht. Es bieten sich für Intellektuelle Gangolf Hübinger zufolge zweierlei Wege der Einflussnahme an. Erstens können sie in den Medien einen öffentlichen Diskurs anstoßen. Zweitens können Intellektuelle informell als Berater von politischen Akteuren wirken.
Diese direkte Politikberatung ist seltener, da Intellektuelle häufig die Nähe zur Macht scheuen. Eher beeinflussen sie durch ihre Deutungsmuster langfristig die politische Kultur in einem Land. Eine Messbarkeit ihrer Wirkung ist insofern schwierig, da eine kausale Wirkung dabei nur selten auszumachen ist. Es bedarf einer genauen Medien- und Archivauswertung, um qualitativ entsprechende Erkenntnisse zu gewinnen.
Ohnmacht des intellektuellen Diskursteilnehmers
Dass Intellektuelle mitunter auch Einfluss haben, zeigt das Beispiel Günter Grass. Der Schriftsteller war seit dem Erscheinen der Blechtrommel 1959 dauerhaft in den Medien präsent. Als Literatur-Nobelpreisträger führte er später auch in der Berliner Republik verschiedene Intellektuellen-Rankings an, was quantitativ seine Medienresonanz belegt. Dabei erprobte er als Prototyp verschiedene politische Interventionsformen.
Zu Beginn der Berliner Republik zeigte sich aber auch Grass' Ohnmacht, die Ereignisse im Zuge der Wiedervereinigung und die Asylpolitik zu beeinflussen. Sein Protest gegen eine schnelle Einheit und vergebliche Mahnungen über die Konsequenzen wurden von der öffentlichen Meinung nicht geteilt. Einen alternativen Diskurs konnte Grass trotz des hohen persönlichen Engagements somit nicht anstoßen. Seine verzweifelte Argumentation gegen den seiner Meinung nach aufkeimenden Nationalismus mit dem Deutungsmuster Auschwitz war angesichts der Einheitseuphorie nicht zeitgemäß.
Auch gegen eine Veränderung des Grundrechts auf Asyl stemmte Grass sich vergeblich. In vielen öffentlichen Gesprächen mit Politikern wie Björn Engholm prangerte er wiederholt den sogenannten Asylkompromiss an. Den Diskurs setzte er auch bei informellen Treffen mit politischen Akteuren sowie Briefen an sie fort. Öffentlichkeitswirksam trat Grass nach der Verabschiedung des Gesetzes Ende 1992 aus der SPD aus.
Erst 1997 gelang es dem Schriftsteller mit seiner Laudatio auf den türkischen Autor Yaşar Kemal in der Frankfurter Paulskirche das Thema wieder auf die öffentliche Agenda zu setzen. An diesem geschichtsträchtigen Ort stellte er einen direkten Bezug zwischen den deutschen Waffenexporten in die Türkei und der deutschen Asylpolitik her. Er schämte sich öffentlich dafür, wie Ausländer als Menschen zweiter Klasse behandelt würden. Damit traf der Intellektuelle den Nerv der Zeit und genoss die Zustimmung vieler rot-grüner Politiker/innen. Zivilgesellschaftliche Mahnungen wie diese wurden nach dem Regierungswechsel 1998 politisch aufgegriffen.
Trotz aller politischen Tiefschläge versuchte Grass nach der staatlichen Einheit die innere, soziale Einheit als politisches Thema zu etablieren. Er forderte von Björn Engholm, Gerhard Schröder, Oskar Lafontaine und Franz Müntefering die Verabschiedung einer neuen gesamtdeutschen Verfassung. Der Schriftsteller sah die Deutsche Einheit als verpasste Chance an und kritisierte die wirtschaftliche sowie kulturelle Abwicklung der DDR.
Dies spiegelte sich 1995 in seinem Roman Ein weites Feld wider. Mit seiner Darstellung der Treuhand als menschenverachtendes Instrument unterstützte Grass eine Erzählung, die sich als »negativer Gründungsmythos tief in die ostdeutsche Erinnerungskultur« (Marcus Böick) einschrieb. Die Reaktionen der Öffentlichkeit machen deutlich, dass der Deutungskampf über diesen Teil der deutschen Geschichte Anfang der 90er Jahre hart geführt wurde.
Grass betrachtete die »Wiedervereinigung als andauernde Aufgabe«. Er konzentrierte sich im Wahlkampf 1994 auf den ostdeutschen Kandidaten Wolfgang Thierse und fokussierte sich auch bei späteren Auftritten zunehmend auf Ostdeutschland. Dort fand 2009 seine letzte Wahlkampfreise statt, bei der er aus seinem Tagebuch von 1990 zitierte. Er wurde durch sein kontinuierliches Engagement zu einem Anwalt der Ostdeutschen, die sich als Verlierer der Deutschen Einheit fühl(t)en.
Einfluss konnten Grass und andere Intellektuelle besonders auf die Kulturpolitik nehmen. Im Wahlkampf berieten sie 1998 Kanzlerkandidat Gerhard Schröder hinsichtlich der Ausgestaltung einer neuen Bundeskulturpolitik. Sie unterstützten damit die Etablierung des Amtes eines Kulturstaatsministers und die Auswahl eines geeigneten Kandidaten. Dass diese Gespräche publik wurden, war der Reputation Schröders förderlich und so zeigte sich der spätere Bundeskanzler auch in seiner Regierungszeit für Anregungen durch Intellektuelle offen.
Grass' Vorschlag einer Lesereihe im Kanzleramt oder der Rettung des Koeppenhauses, eines Kulturzentrums in Greifswald, wurden unbürokratisch umgesetzt. Kulturstaatsminister Julian Nida-Rümelin band den Schriftsteller auch bei den Planungen der Bundeskulturstiftung ein, um Kritik an der neuen inhaltlichen Ausrichtung zu verhindern. Der Schriftsteller konnte sich mit seinem Vorstoß für Halle als deren Standort durchsetzen.
Auch beim Gesetz zum Urheberrecht war Grass' Unterstützung gefragt, um die Öffentlichkeit für die Belange von Autoren zu sensibilisieren. Wie wichtig eine Einbindung von Schriftstellern bei entsprechenden Gesetzesvorhaben ist, zeigt als Negativbeispiel die Rechtschreibreform, die jahrelange Proteste nach sich zog.
Symbolischer Kulturrepräsentant
Grass engagierte sich bis zu seinem Parteiaustritt 1992 jahrzehntelang in Bundestagswahlkämpfen für die SPD. Erst ab 1998 warb er dann wieder regelmäßig und explizit für eine rot-grüne Koalition. 2005 bildete er gemeinsam mit anderen Schriftstellern eine Wählerinitiative. Dies regte einen Diskurs über das Parteiergreifen von Intellektuellen an. Für die Enkel Brandts glich sein Engagement einem Ritterschlag für ihre Kandidatur. Es motivierte sie auch in schwierigen Wahlsituationen.
Die Auftritte sorgten für bundesweite Medienpräsenz, mobilisierten Stammwähler und banden das kulturelle Milieu bei den Parteiveranstaltungen ein. Grass forderte die SPD immer wieder auf, das sozialdemokratische Narrativ zu stärken. In diesem Kontext sind auch die Gründungen des Willy-Brandt-Kreises oder der August-Bebel-Stiftung sowie seine Initiative für ein Willy-Brandt-Haus in Lübeck zu verstehen.
Der Schriftsteller repräsentierte auch im Ausland über 60 Jahre lang als »Wappentier der Republik« (Horst Krüger) Deutschland und unterstützte als Kulturbotschafter das Goethe-Institut. So nutzte er seine Prominenz, um durch Reisen auf vergessene Länder, wie den Jemen, aufmerksam zu machen. Seine Reiseeindrücke teilte Grass in informellen Gesprächen und Briefen auch Gerhard Schröder mit. Dieser lud auf seine Anregung hin Intellektuelle ins Kanzleramt ein, um die Kriegsbeteiligung in Afghanistan oder sein Nein zum Irakkrieg zu diskutieren. Dass Grass' Mahnungen Diskurse anstoßen konnte, zeigt sein israelkritisches Gedicht Was gesagt werden muß… von 2012.
Sparringspartner bei Gesellschaftsentwürfen
Durch sein Geschichtsgefühl war Grass bei Politikern als Ratgeber gefragt. Sie holten anlässlich von Gedenktagen seine Anregungen für ihre Reden ein. Zudem begleitete er zahlreiche politische Akteure bei Reisen nach Polen. Der Schriftsteller prägte die deutsch-polnischen Beziehungen durch sein vielfältiges Engagement. Sein 2002 erschienenes Buch Im Krebsgang hatte nachhaltig Einfluss darauf, dass auch Deutsche als Opfer von Vertreibung wahrgenommen werden.
Diese Deutungsmacht büßte der Intellektuelle durch das späte Offenlegen seiner Vergangenheit ein. Grass wollte 2006 mit Beim Häuten der Zwiebel die Deutungshoheit über seine Geschichte bewahren, aber sein Interview in der FAZ trug 2006 zur Skandalisierung bei. 2012 wurde infolgedessen nicht sachlich seine Kritik an der Israelpolitik besprochen, sondern der vorherrschende Antisemitismus in Deutschland.
Das Beispiel von Günter Grass zeigt, dass Intellektuelle eine kommunikative Macht haben, um öffentlich Diskurse anzustoßen. Als Experten können sie im Bereich der Kultur- und Geschichtspolitik Politiker direkt beraten und Maßnahmen initiieren. Politische Akteure greifen gerne auf ihre Sprachgewalt zurück, um die Melodien ihrer Reden und Argumentation zu testen. Intellektuelle sind als Sparringspartner bei Gesellschaftsentwürfen und -projekten gefragt, weniger bei der konkreten Umsetzung von politischen Details. Mit ihren Mahnungen erinnern sie Politiker an ihre Werte und Versprechen. Besonders wirkungsvoll sind sie dann, wenn sie ihre kommunikative Macht und das informelle Gespräch mit Politikern geschickt kombinieren.
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