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Ausblicke auf die spätmoderne Gesellschaft Kulturpolitik ist Klassenpolitik

Noch bis vor wenigen Jahren wäre mir der Titel dieses Beitrags nicht in den Sinn gekommen. Gelten nicht gerade die Kultur und die Kulturpolitik als Felder, auf denen sich ein gesellschaftlicher Konsens paradigmatisch etabliert hat? Sind die alten Formeln einer »Kultur für alle« und »Kultur von allen«, die im sozialdemokratischen Zeitalter Furore machten, nicht zumindest ansatzweise akzeptiert und umgesetzt worden? Gehört das Denken in Klassen und Schichten nicht der bürgerlich- und industriemodernen Vergangenheit an, die seit Langem durch die »Zweite Moderne« mit ihrem Trend zur Individualisierung und Entgrenzung überwunden ist? Sind die früheren Kämpfe der alten Bundesrepublik zwischen Breiten-, Amateur-, Freie, Sozio- und Hochkultur, von denen die 70er und 80er Jahre geprägt waren, nicht längst ausgefochten? Geht es in der Kulturpolitik heute nicht vielmehr darum, gemeinsam für die Vielfalt der Kultur einzustehen und den Eigensinn der Kunst gegen ihre kommerzielle Vernutzung zu verteidigen? Man kann das so sehen. Es kann aber auch sein, dass hier eine alte, lieb gewonnene Erzählung bemüht wird, die dringend einer Auffrischung durch andere Geschichten und Sichtweisen bedarf. Das Buch des Kultursoziologen Andreas Reckwitz Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne von 2017 bietet dafür viele anregende Argumente.

Dreiklassengesellschaft

Zu den zentralen Thesen seiner Gesellschaftsanalyse gehört die Feststellung, dass die spätmoderne Gesellschaft der Singularitäten, deren Entstehung er im Zeitraum der 70er/80er Jahre verortet, eine Dreiklassenstruktur ausgebildet hat, die sich wesentlich von der Industriemoderne des 19. und 20. Jahrhunderts unterscheidet: durch die »Etablierung einer postmodernen Ökonomie der Singularitäten und den Aufstieg der digitalen Kulturmaschine«. Eines der wichtigsten Kennzeichen dieses Strukturwandels sieht Reckwitz dabei in der durch die Digitalisierung und das Internet forcierten »Kulturalisierung des Sozialen«. Im Zentrum steht danach in der neuen Phase der Modernisierung nicht mehr nur die »Produktion von Maschinen, Energieträgern und funktionalen Gütern, sondern die expansive und den Alltag durchdringende Fabrikation von Kulturformaten mit einer narrativen, ästhetischen, gestalterischen, ludischen, moralisch-ethischen Qualität, also von Texten, Bildern, Videos, Filmen, phatischen Sprechakten und Spielen«. Sie entstehen weniger in seriellen und standardisierten Produktionsverfahren (am Fließband), wie es für die Industriemoderne typisch war, sondern in Teams, Projekten und anderen Formaten und Kontexten, die das Besondere möglich machen.

Im Unterschied zu anderen prominenten Modernisierungstheoretikern der letzten Dekaden (z. B. Ulrich Beck, Anthony Giddens, Richard Sennett und Zygmund Baumann) sind für Reckwitz die Individualisierung und Flexibilisierung der Lebensformen nicht getrennt von den sozialen Trägergruppen, in der sie vor allem auftreten und die sie befördern. Vielmehr gilt für ihn, dass das »spätmoderne Subjekt in seiner avanciertesten Form (…) sozialstrukturell nicht in der Luft (hängt), sondern (…) sich in einem eindeutig bestimmbaren sozial-kulturellen Milieu, ja – stärker formuliert – in einer sozial-kulturellen Klasse (bewegt): der neuen Mittelklasse«. Die sozialstrukturelle Transformation, welche die westlichen Gesellschaften seit den 80er Jahren erleben, lässt sich für ihn »als ein Wandel von der nivellierten Mittelstandsgesellschaft zur kulturellen Klassengesellschaft beschreiben«. Neben der neuen Mittelklasse, die vor allem aus Menschen mit einem hohen kulturellen Kapital und meist akademischen Bildungsabschlüssen besteht und die vor allem im Feld der Wissens- und Kulturökonomie arbeiten und circa ein Drittel der Bevölkerung ausmachen sollen, identifiziert Reckwitz als zweite Klasse die alte nicht-akademische Mittelklasse, die sich überwiegend aus Arbeitern und kleinen Angestellten rekrutiert, und eine neue geringqualifizierte Dienstleistungsklasse, in der sich ebenfalls ein Drittel der prekär oder nicht beschäftigten Menschen befindet.

Kulturpolitik und Sozialstruktur

Kultur und Kulturpolitik waren schon immer sozialstrukturabhängig. Jede Phase der gesellschaftlichen Modernisierung hatte auch ihre spezifischen kulturellen Trägergruppen, Kulturformate und -einrichtungen. Und mit der bürgerlichen Gesellschaft im 19. Jahrhundert und mehr noch in der Industriemoderne des 20. Jahrhunderts bildete sich aus dem frühen Engagement des Kulturbürgertums eine öffentliche Kulturpolitik heraus, die dafür in Deutschland die notwendige Hintergrund- und Infrastruktur bereitstellte, die in ihrer Dichte und Vielfalt weltweit einmalig sein dürfte (so vor allem Bernd Wagner). Es entstanden Theater und Konzerthäuser, Museen und Musikschulen, aber auch Bibliotheken, Volkshochschulen und Stadtteilkultureinrichtungen mit je unterschiedlichen, aber sich auch überschneidenden Publika, die sich aus bestimmten sozialen Gruppen oder Schichten zusammensetzten. Vor allem das Bildungsbürgertum konnte auf diese Weise seine damalige kulturelle Hegemonie infrastrukturell absichern und davon profitieren. Noch heute wird der Löwenanteil der öffentlichen Kulturausgaben für jene Einrichtungen bereitgestellt, die sich inhaltlich dem kulturellen Erbe der Klassik verpflichtet fühlen beziehungsweise in dieser Tradition stehen und mit einem öffentlichen Bildungs- und Vermittlungsauftrag ausgestattet sind. Mit dem Anbruch der Spätmoderne und damit auch mit der Entwicklung der »Neuen Kulturpolitik« in den 70er und 80er Jahren beginnt diese Hegemonie und Strategie zu bröckeln.

Die kulturpolitischen Reformversprechen der 60er und 70er Jahre waren zwar noch sehr stark den Ideen der kulturellen Chancengleichheit und Teilhabegerechtigkeit verpflichtet, wie sie namentlich der ehemalige Frankfurter Kulturdezernent Hilmar Hoffmann mit der Programmformel »Kultur für alle« propagierte, aber schon damals waren die diesen Ideen zugrunde liegenden Modelle der »nivillierten Mittelstandsgesellschaft« (Helmut Schelsky) und des ausgleichenden Wohlfahrtsstaates, die in den 50er und 60er Jahren den Westen Deutschlands geprägt hatten, brüchig geworden. Die alten sozialen Fragen der Industriemoderne und deren normative Verhaltensdispositive und Sekundärtugenden sowie die auf den Widerspruch von Kapital und Arbeit bezogenen alten Politiken des sozialen Ausgleichs wurden zunehmend ergänzt durch die Thematisierung neuer immaterieller Werte und Einstellungen zum Leben. Die issues der »silent revolution«, die Robert Ingelhart 1977 konstatiert hatte, wurden in der Neuen Kulturpolitik der 70er Jahre schnell aufgegriffen. Paradigmatisch dafür stand die 1976 gegründete »Kulturpolitische Gesellschaft« (KuPoGe), in deren Grundsatzpapier die Themen »Emanzipation, Kreativität, Partizipation, Kommunikation, Humanisierung, Identitätsfindung« als »Leitbegriffe« einer notwendigen bildungs- und kulturpolitischen Diskussion formuliert wurden. Wären noch die Begriffe Authentizität und Subjektivität hinzugefügt worden, wäre das terminologische Ensemble komplett gewesen, das Reckwitz wie auch andere Modernisierungstheoretiker als kennzeichnend für die Spät- oder Postmoderne ausgewiesen haben.

Schon in dieser Reformdekade war die avancierte kulturpolitische Debatte empfänglich und konkret bezogen auf sozialwissenschaftliche Diskurse zum gesellschaftlichen Strukturwandel, was ihr programmatisch und politisch jene Kraft gegeben hat, die nötig ist, um eingefahrene Denk- und Politikmuster zumindest infrage zu stellen. Die zitierten Begriffe markieren gleichermaßen die Programm- und Legitimationsstruktur der Neuen Kulturpolitik, deren (publizistischer) Auftritt mit der Entstehung jener neuen Mittelschicht korrespondiert, die Reckwitz im Auge hat. Damals war es eine Klasse junger akademisch gebildeter Menschen, die nicht zuletzt aufgrund der Bildungsreform aufstiegen, sich in sozialen Bewegungen engagierten und in den neuen Dienstleistungsberufen oder in den vielfältigen Nischen der Alternativ- und Soziokultur, der Kreativökonomie und des zweiten Arbeitsmarktes ein Auskommen oder eine zeitlich befristete Anstellung erhielten. So richtig ernst genommen wurden sie damals in der Kulturpolitik noch nicht. Mittlerweile ist diese gesellschaftliche Formation durch den fortgesetzten und durch die Digitalisierung dynamisierten Strukturwandel bedeutender und kulturell tonangebend geworden. Auch in der Kulturpolitik ist dies auf Resonanz gestoßen, wenn auch (noch) nicht in dem Ausmaß, wie es die gesellschaftliche Relevanz der neuen Kulturklasse begründen würde. Zu verweisen ist hier auf das gesamte Arsenal an neuen kulturellen Formaten und Infrastrukturen, die durch die Neue Kulturpolitik und die sie tragenden gesellschaftlichen Gruppen entstanden sind: die soziokulturellen Zentren, die Kinder- und Jugendkunstschulen, die Tanz- und Kreativhäuser, die Kulturwerkstätten und Filmhäuser sowie nicht zuletzt die enorme Fülle zeitlich befristeter Projekte und Festivals, die sich jeder statistischen Erfassung entziehen.

Kulturpolitik als Klassenpolitik

Kulturpolitik war immer Klassenpolitik, auch wenn sie sich aus nahe liegenden Gründen in einer Rhetorik des Konsenses besser aufgehoben fühlte. Sie tut gut daran, sich dieser Tatsache bewusst zu werden, nicht um daraus kurzschlüssige klassenkämpferische Forderungen abzuleiten, sondern um ein Verständnis dafür zu entwickeln, dass Kulturpolitik als Gesellschaftspolitik unter den Bedingungen der Spätmoderne neu begründet werden muss. Trifft die Analyse von Andreas Reckwitz zu, dann ist davon auszugehen, dass den traditionellen Kultureinrichtungen tendenziell die gesellschaftlichen Trägergruppen wegbrechen (vor allem das Bildungsbürgertum, aus dem sich das Publikum der Hochkultureinrichtungen überwiegend rekrutiert) und dass andere kulturelle Interessen und Präferenzen, Formate und Optionen entstehen, auf die Kulturpolitik reagieren muss. Die »Kulturmaschine«, von der er spricht, bringt ganz neue Voraussetzungen für Kultur mit sich: die durch die Digitalisierung mögliche Überproduktion der Kulturformate und deren globale Präsenz und Nutzbarkeit, die Stärkung der Publikumsrolle gegenüber der Produzentenrolle, die Enthierarchisierung der Kultur, die Momentanisierung und Aktualisierung der Kultur sowie die erweiterten Möglichkeiten zur Rekombination der Kulturformate (Stichwort: Remixes) und die damit verbundene Verwischung von Original und Kopie. Damit verändern sich entscheidende Parameter der Kulturproduktion, -repräsentation und -vermittlung, die die neue Kulturklasse und ihre kosmopolitischen Milieus zusätzlich stärken.

Authentizität, Erlebnis, Vielfalt

Für Reckwitz trägt dieser Prozess der Kulturalisierung sogar »zur Auflösung des Allgemeinheitsanspruchs der Kultur bei, der in der klassischen Moderne existierte« und der – so ließe sich ergänzen – eine wesentliche Legitimationsressource der öffentlichen Kulturförderung (in der bürgerlichen Gesellschaft) ist. »Die eindeutige Differenzierung zwischen Kulturproduzenten und -rezipienten, die Orientierung an ›klassischen‹ Kulturobjekten sowie ihre Hierarchisierung, die kontextuelle Festlegung von Kulturpraktiken (Theater, Konzertsaal, Lesezimmer etc.) sowie die eindeutige Trennung von Alt und Neu, welche die bürgerliche Kultur prägte – all dies trug dazu bei, einen allgemeingültigen, sich moderat erneuernden Kanon zu etablieren.« Und all das erodiert offensichtlich in der Spätmoderne durch die Digitalisierung zusehends. Der Kulturbetrieb stellt sich bereits auf diese Entwicklung ein und tritt mit neuen Konzepten und Formaten auf. Neue Veranstaltungsformen entstehen, die dem Momentanisierungs- und Aktualisierungsbedürfnis Rechnung tragen. Der Wunsch nach mehr Authentizität, Erlebnis und Vielfalt steht ganz oben auf der Agenda des Kulturmanagements und es wird jede Möglichkeit genutzt, das Besondere zu inszenieren. Öffentlich finanzierte Programme sollen Kultureinrichtungen dabei helfen, ihre Transformation ins neue digitale Zeitalter zu bewältigen und die boomenden Maßnahmen der kulturellen Bildung sorgen für die notwendigen Qualifikationen für die kulturelle Partizipation und Aktion der neuen Kulturkonsumenten und -prosumenten.

Kulturpolitik befindet sich in einer Phase der Veränderung und richtet sich programmatisch und infrastrukturell gerade auf die neuen hegemonialen Verhältnisse aus. Vor allem die neue Mittelklasse der Modernisierungsgewinner und akademischer Milieus steht in ihrem Fokus, die ihr Recht auf kulturelle Teilhabe derzeit am lautesten artikulieren. Die Neue Kulturpolitik der 70er und 80er Jahre hat diese Entwicklung bewusst befördert und die neue Klasse gezielt adressiert. Insofern war sie erfolgreich. Mehr kulturelle Teilhabegerechtigkeit im Sinne einer »Kultur für alle« ist dadurch aber eher nicht entstanden. Sie täte gut daran, sich dieser Aufgabe neu zu erinnern und vor allem die sozial und kulturell abgehängte Klasse in den schwierigen Stadtteilen und strukturschwachen ländlichen Regionen nicht völlig aus dem Blick zu verlieren.

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