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Museum Tinguely mit der Maschinenskulptur "Méta-Maxi-Maxi-Utopia" von Jean Tinguely. © picture alliance / Mandoga Media | Mandoga Media

Kulturelle Teilhabe am Beispiel des Museum Tinguely in Basel Kunst auf Knopfdruck

Unter dem Slogan ein Museum für alle Sinne und alle Menschen zu sein, entwickelt das Team um Direktor Roland Wetzel jährlich neue analoge und digitale Vermittlungsformate, trägt das Schweizer Label »Kultur inklusiv« oder reist auch schon mal mit einem umgebauten Schiff von Basel nach Paris und wieder zurück, um den Spuren des Namensgebers zu folgen und das Museum zu den Menschen zu bringen – statt andersherum. Die Intention des Schweizer Künstlers Jean Tinguely, den Graben zwischen Kunst und Alltag zu schließen, wird auf vielfältige Weise aktualisiert und weitergeführt. Möglichst viele Leute am kulturellen Erbe und Leben teilhaben zu lassen, ist das Ergebnis eines demokratischen Prozesses, der die Diversität unserer Gesellschaft erkennt und fördert – doch er hat Grenzen.

Stellen Sie sich vor, Sie flanieren durch eine Fußgängerzone. Da spricht Sie ein junger Mann mit einer metallenen Apparatur auf der Schulter an. Ob Sie eine abstrakte Zeichnung möchten? Sie wählen eine Farbe. Ein Stift wird in das Gerät eingespannt. Und dann erweckt das Betätigen einer Handkurbel das seltsame Konstrukt zum Leben. Farbspuren in zufälligen Linien rattern über ein Blatt Papier, noch eine andere Farbe, mehr Schichten. Es ist 1959 und Sie befinden sich im Herzen von Paris, und in der Hand halten Sie eine soeben selbstgestaltete Einladung zur Kunstausstellung eines gewissen Jean Tinguely in der Galerie Iris Clert: »Die Méta-Matics von Tinguely: Skulpturen, die malen«.

Es war der Moment eines interaktiven Kunstwerkes, eines frühen Happenings, das die Grenzen zwischen Künstler/in, Publikum und Kunstwerk aufbrach: Eine automatisch zeichnende Kunstskulptur. In einer Zeit, in der die abstrakte Malerei ihren Zenit überschritten hatte, wurden die potenten Maler – meist männlich – mit ihrer großen Farbgeste von einer kleinen Maschine ersetzt, die ebenfalls gegenstandslose Zeichnungen produziert. Eine polemische Geste eines jungen Schweizer Künstlers, der sich für die Kinetik entschieden hatte und sich seine Zeichnungsmaschinen, die Méta-Matics, ein Jahr später ironischerweise noch patentieren ließ. Grob zusammengeschweißt aus gefundenen Metallresten und Fundstücken der neuen Wegwerfgesellschaft mit Fortschrittsdrang, ist auch die Konsumkritik offensichtlich.

Mit der Kunst auf die Straße zu gehen, entstand nicht nur aus der Idee heraus, Kunst und Alltag miteinander zu vermischen, sondern war auch ein marketingtechnisch raffinierter Schachzug, der schon damals erahnen ließ, dass dieser 24-jährige Mann aus Basel nicht erst nach seinem Tod im Jahr 1991 zu Ruhm gelangen würde. Vier Jahre später wurde ihm in seiner Heimatstadt am Rhein postum das eigene Museum gewidmet.

Zu Lebzeiten experimentierte er selbst noch mit alternativen Ausstellungsräumen, einem gescheiterten Versuch sich dem vermeintlichen »Sarkophag« Museum zu entziehen – und doch zugleich ein eitler Mythos um einen Mann, der die flüchtige Kunst voranbrachte, aber genauso emsig den Künstler-Kurator in der weltweiten Museumslandschaft gab.

Das traditionelle Bild eines Museums entspricht üblicherweise einem Ort der Kontemplation und der Ruhe: Was präsentiert wird, ist erforscht, konserviert, katalogisiert. Alles wartet darauf, betrachtet zu werden vom intellektuellen Publikum, das ehrfürchtig staunt und nichts anfassen darf. Im Museum Tinguely dagegen scheppert und lärmt es von Haus aus, überall dreht und bewegt sich etwas.

Gerade durch die interaktiven Maschinenskulpturen ist es ein »Einsteigermuseum«, das nicht nur Kinder begeistert, sondern auch älteren Neugierigen einen niederschwelligen Einstieg bietet, die mit der vermeintlichen Hochkultur bisher nicht viel am Hut gehabt haben. Das Œuvre des Künstlers ist lustig, poetisch, kritisch und streift somit viele Lebensbereiche, mit denen man sich unmittelbar identifizieren kann. Tinguely befreite sich mit seinen bewegten Maschinen von der Entscheidung, wann ein Werk vollendet sei.

Wer heute auf einen der roten Knöpfe im Ausstellungsraum tritt, löst Bewegungen aus und wird selbst Teil eines fortlaufenden Prozesses. Das Restaurierungsteam um Jean-Marc Gaillard, der einer der letzten Assistenten des Künstlers gewesen ist, hält die Maschinen am Leben, damit die kinetischen Originale nicht zum Stillstand verdammt sind.

Wenn das Museum zum Publikum kommt

Im Sommer 2021 legte das Museum Tinguely zum 25. Jubiläum die Leinen los. Unter dem Titel »MT AHOY« begab es sich mit einem zur schwimmenden dokumentarischen Ausstellung umgebauten Frachtschiff rheinabwärts und steuerte über Kanäle und die Seine Schaffensorte des Kosmopoliten an. Vor Ort boten Partnerinstitutionen wie das Centre Pompidou in Paris, das Stedelijk Museum in Amsterdam oder das Lehmbruck Museum in Duisburg einem Performanceprogramm eine Bühne oder verbindende Führungen an.

An Bord des Frachters wurden Fotos und Texte zum Leben des Künstlers gezeigt sowie nachgebaute Modelle, um die Originale nicht den Witterungsbedingungen auszusetzen. Immerhin ein Original seiner berühmten Brunnenskulpturen war mit an Deck. Vor dem Museum abgebaut, vollführte sie ihren Wassertanz auf Reisen. Besonders nach der Pandemie war zu beobachten, wie Menschen und Medien, durstig nach Begegnung und Austausch, trotz Maskenpflicht und Besucherbegrenzungen, glücklich das Boot enterten, um die Ausstellung zu entdecken und an kreativen Workshops teilzunehmen.

Der Schweizer Jean Tinguely wuchs in Basel auf, wo er eine Lehre als Schaufensterdekorateur absolvierte. Zugleich besuchte er die Gewerbeschule, lernte die Kunst der Avantgarde kennen – und seine erste Ehefrau, die Bildhauerin Eva Aeppli. Schnell zog es die beiden in die Kunstmetropole Paris, wo sie unter einfachsten Bedingungen im Quartier Montparnasse lebten und arbeiteten.

Ihr Zuhause, die Impasse Ronsin, war ein Künstlerviertel, ein kleines Dorf voller mittelloser Kreativer und idealistischer Kunstschaffender, aber auch Heimat für später bekannte Namen wie Constantin Brâncusi, Niki de Saint Phalle oder Max Ernst. Wer die Ausstellung dazu 2020 verpasst hat, findet eine spannende Videoreihe mit Zeitzeugen auf der Website des Museums: Remembering Impasse Ronsin.

Die Website als dokumentarisches, informatives Display zu nutzen, wird nicht erst seit den Lockdowns um virtuelle Führungen oder Social Media erweitert. Aber was ist das für eine Partizipation des Publikums? Zu Beginn der Pandemie ist den Kulturschaffenden schmerzlich vor Augen geführt worden, wie die Abwesenheit kultureller Angebote toleriert und die Existenz der Künstler/innen als selbstverständlich hingenommen worden ist.

Zwischen Tempel und Vergnügungspark

Das Museum Tinguely besitzt die größte Sammlung von Werken des Bildhauers und zeigt neben wechselnden Sammlungspräsentationen mit zusätzlichen Leihgaben auch ein vielseitiges Programm an Gruppen- und Einzelausstellungen moderner und zeitgenössischer Künstler/innen, die in Verbindung mit seinem vielseitigen Œuvre und seiner innovativen Philosophie stehen.

So gibt es zum Beispiel eine Ausstellungsreihe zu den menschlichen Sinnen, Performancekunst, aber auch monografische Schauen mit jungen, internationalen Kunstschaffenden, die auch mal eine Carte blanche erhalten. Daneben bietet das Museum ein anspruchsvolles Programm. Neben der klassischen Kunstvermittlung in zahlreichen Sprachen gibt es vielfältige Workshops – nicht nur zur Museumsnacht kann man selbst kreativ werden!

Es finden Konzertreihen statt, die Dieter Roth Bar gastierte. Oder es wird auch schon mal ein Boxring in der großen Ausstellungshalle aufgestellt, wie während der Kooperation mit Culturescapes, einem interdisziplinären Schweizer Kulturfestival. Bei diesem Potpourri an Themen und Events scheint doch für jeden etwas dabei zu sein. Was genau bedeutet also kulturelle Teilhabe und was kann sie oder was sollte sie nicht?

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde 1948 in den UNO-Menschenrechten in Artikel 27 (Freiheit des Kulturlebens) festgehalten: »Jeder hat das Recht, am kulturellen Leben der Gemeinschaft frei teilzunehmen […]«. Mittlerweile ist »kulturelle Teilhabe« ein vielseitiger und weitgreifender Begriff, der seine Auslegung seit der 68er-Bewegung und im sozialdemokratischen Kontext erhalten hat und als »Instrument der Demokratisierung von Kultur und Aneignung von Kultur durch die BürgerInnen gilt«.

Dies bemerkt Heinz Altorfer in seinem Text »Zum Teilhabe-Diskurs in der Schweiz«, der in dem Band Kulturelle Teilhabe aus dem Jahr 2019 abgedruckt ist. Es geht also um Inklusion und zugleich um die Mitwirkung an kulturellen Veranstaltungen von Personen außerhalb des Kulturbetriebs. Diese Partizipation bedeutet eine aktive Teilhabe an der Museumswelt von Rezipient/innen, vor allem auch von denen, die der Kunstwelt sonst fernbleiben.

Man darf es aber nicht mit der Kunstpraxis selbst vermischen. Mark Terkessidis begreift in seinem Aufsatz »Kulturelle Teil-Gabe. Das Prinzip der Kollaboration«, der ebenfalls in Kulturelle Teilhabe zu lesen ist, Teilhabe nicht nur als »die Anderen [zu] integrieren, sondern eigene Strukturen zu reflektieren« und Grenzen zu verschieben oder zu überschreiten. Seine eigenen Muster im Museumsbetrieb zu erkennen und zu verändern, ist eine neue Herausforderung für die Institutionen. Für sie bedeutet der Versuch der Neuordnung von Hierarchien und Infragestellung des Kanons auch immer die Abgabe von Macht und Einfluss – gerade, wenn die Öffentlichkeit mitmischen darf. So überlassen die Verantwortlichen es bisher eher den Künstler/innen, Grenzbereiche zu bespielen und Grenzen zu verschieben.

Das Label »Kultur inklusiv«

Das Label »Kultur inklusiv« wird Schweizer Institutionen verliehen, die aktiv Hürden abbauen für den Museumsbesuch von Menschen mit körperlicher oder geistiger Beeinträchtigung. So gibt es im Museum Tinguely Gebärdendolmetscher/innen bei Eröffnungsreden oder Führungen. Das eigene Personal wird durch Fortbildungen in neue Rollen versetzt, um den Elfenbeinturm zu verlassen und um besser zu verstehen, wie Menschen mit unterschiedlichen Voraussetzungen den Zugang zur Kunst finden. Zum Beispiel, wie man Sehbeeinträchtigten die Wahrnehmung von Kunst, die man sehenden Auges betrachten müsste, ermöglicht.

Der Berliner Kunstkritiker Bernhard Schulz, fragt sich in der Weltkunst No. 206 in seiner Kolumne Was bewegt die Kunst?: »Was ist ein Museum, was sind seine Aufgaben?«. Während er die neueste Definition der Museumsarbeit durch ICOM, dem internationalen Museumsverbund erörtert, stellt er fest: »Sammeln, Bewahren, Vermitteln sind die klassischen Aufgaben der Museen. Künftig sollen sie vor allem die Welt verbessern«.

Von einer Beschreibung eines Ist-Zustandes hin zu einer Handlungsanweisung an die Institutionen veröffentlichte ICOM eine neue Definition der Museen am 24. August 2022: »Ein Museum ist eine gemeinnützige, dauerhafte Einrichtung im Dienste der Gesellschaft, die materielles und immaterielles Erbe erforscht, sammelt, bewahrt, interpretiert und ausstellt. Öffentlich zugänglich, zugänglich und integrativ fördern Museen Vielfalt und Nachhaltigkeit. Sie arbeiten und kommunizieren ethisch, professionell und unter Beteiligung von Gemeinschaften und bieten vielfältige Erfahrungen für Bildung, Vergnügen, Reflexion und Wissensaustausch.«

Kunst, die ohne Rezipierende in einem Bunker in den Dolomiten die Menschheit überdauert, hat keinerlei Bedeutung, während es eher Sinn macht, wie das Sammlerehepaar Karen und Christian Boros seine persönliche Sammlung in Form eines Privatmuseums in einem Hochbunker in Berlin der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Kunst und ihre Spuren, denen niemand begegnet, haben keine Relevanz. Es sollte uns bewusstwerden, dass relevante Themen Aufmerksamkeit bedürfen.

Das Museum Tinguely hat das Glück aus einem Erbe zu schöpfen, das viele Zugänge zulässt und zugleich erwartet. Es bleibt bei der Involvierung, dem Miteinbezug und nicht der aktiven Partizipation (Mitwirkung) des Publikums am Museumsalltag, aber durch den steten Austausch entwickeln Museumsmitarbeitende neue spannende Formate, die nötige Türen öffnen.

Man sollte weiterhin differenzieren zwischen dem Kern der Kunstausstellungen, der Autonomie der Kunst versus allem, was darum herum passiert. Je mehr Zugänge und Angebote desto besser, aber um Grenzen zu verrücken, braucht es die Kunst selbst. Die eigene Wirklichkeit zu überprüfen, über den Tellerrand zu blicken, ist die größte Kraft, die Kunst als Begegnungsstätte für fremde Ideen, Bilder und Kulturen bietet. Man muss sich nur trauen in Bewegung zu bleiben.

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