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Kybernetischer Marxismus?

Stafford Beer, britischer Wissenschaftler, Management-Guru und Autodiktat, befand sich gerade auf dem Rückweg von einer Konferenz für das Topmanagement zum Thema Automatisierung. Am Flughafenschalter bemerkte einer der Gäste, dass sein Flug bereits ausgebucht sei. Es gäbe Probleme mit allen Buchungen der Flyaway Airline, erklärte ein Flughafenmitarbeiter, irgendetwas sei mit dem Rechner der Firma nicht in Ordnung. Aus der Schlange vor dem Schalter meldete sich daraufhin ein Herr und sagte: »Verzeihen Sie, junger Mann: Ich bin der Direktor der Flyaway Airline. Wir haben keinen Computer.« Diese Anekdote erzählte Beer in einer Sendung, die 1973 von der Canadian Broadcasting Corporation ausgestrahlt wurde, um zu zeigen, wie selbstverständlich Menschen Computer und Computerisierung als etwas Schädliches hinnehmen, vor dem man sich in Acht nehmen sollte. Deswegen, so Beer, werden Computer zu selten konsultiert oder zurate gezogen, wenn es um die Neugestaltung der Gesellschaft gehe.

Er selbst hatte einen wesentlichen Anteil daran, den Beweis zu erbringen, was Kybernetik im Dienste der Menschheit leisten könnte, nämlich im Jahr 1972, als ein landesweiter Streik Chile erschütterte. Der Streik war eine der schwersten Krisen, mit denen Chiles Präsident Salvador Allende ‒ erst seit 1970 im Amt ‒ konfrontiert wurde. Brennstoff und Nahrung wurden knapp. Hinter diesem, als »Paro de Octubre« (»Oktoberstilllegung«) in die Geschichtsbücher eingegangene Streik, wird die unsichtbare Hand des US-amerikanischen Geheimdienstes CIA vermutet. Er soll von den konservativen Geschäftsleuten – den gremialistas – ausgelöst worden sein, denn sie verloren durch die Zentralisierung und Verstaatlichung der chilenischen Wirtschaft zunehmend an Einfluss und boykottierten die sozialistische Regierung. Laut Eden Medina transferierte die Regierung bis Ende 1971 fast alle Bergbauwerke sowie 68 weitere Unternehmen vom privaten in den öffentlichen Sektor.

Die Regierung nutzte das sich gerade im Aufbau befindliche Computersystem, um die Verteilung der knappen Güter im bestreikten Land zu koordinieren. Tag und Nacht kamen in der Krisenzentrale die Faxe an, um die Ressourcen dorthin zu lenken, wo sie am dringendsten gebraucht wurden. Dies gelang mit Unterstützung von 200 regierungstreuen Lastwagenfahrern. Obwohl der Streik nicht nur das Land schwächte, sondern auch einige für die Regierung verhängnisvolle politische Veränderungen mit sich brachte, wurde Präsident Allende im Oktober nicht gestürzt –, um nicht mal ein Jahr später, im September 1973, dennoch dem Militärputsch zu unterliegen.

Der Held dieser Tage hieß »Cybersyn«. Kein Mitglied der Regierung, sondern ein kybernetisches System, das jedes Unternehmen in der zunehmend verstaatlichten Wirtschaft mit einem Zentralcomputer in Santiago verbinden und so eine Ad-hoc-Steuerung der Produktion sowie eine Reaktion auf etwaige Krisen ermöglichen sollte. Bei dem Begriff »Cybersyn« handelt es sich um eine Synthese aus den englischen Wörtern »cybernetics« und »synergy«, erklärte Eden Medina im Journal of Latin American Studies. Das Kommunikationsnetz von Cybersyn basierte auf einem Netzwerk von Faxverbindungen zu den verstaatlichten Unternehmen und zum Rechenplatz auf einem Großcomputer. Einmal täglich wurde der Produktionsstatus von den Unternehmen in die Zentrale übertragen, analysiert und Entscheidungen getroffen. Cybersyn bestand aus vier Teilen: Cybernet – dem Kommunikationsnetzwerk; Cyberstride – einer Suite von Computerprogrammen, die die aktuellen Daten verarbeiteten und analysierten, sowie Analyse- und Prognosesoftware, die der Erkennung von Trends diente und die, falls bestimmte Indikatoren die Grenzwerte überschritten, das sogenannte »aldegonic signal« – eine Warnung – in Umlauf brachte.

Die ambitionierteste Komponente von Cybersyn war jedoch CHECO, CHilean ECOnomy, auch »Futuro« genannt. CHECO sollte die Wirtschaft anhand aktueller Daten modellieren und die künftige ökonomische Entwicklung simulieren. Dies erinnert zwar an die heutigen Big-Data-Prognosemodelle, doch CHECO folgte einem wissenschaftlichen Konzept: Das Gros der Arbeiten an dem Simulator wurde in England unter der Leitung des Experten für Operations Research Ron Anderton geführt. Die besondere Herausforderung an das System bestand darin, dass die Simulationen unter sich ständig ändernden Rahmenbedingungen erfolgen mussten.

Die letzte Komponente war der »Opsroom«, eine am Modell eines von Briten während des Zweiten Weltkrieges konzipierten »War Room« angelehnte Kommando- und Krisenzentrale. Die konzentrisch platzierten Sessel mit eingebauten Kommunikationskonsolen und Bildschirmen an den Wänden waren so konstruiert, dass sie auch vom Arbeiterkomitee bedient werden konnten – nicht nur von Regierungseliten. Die Ausrüstung wurde aus Großbritannien importiert und ein Prototyp des »Opsroom« eingerichtet. Das Cybersyn sollte – bei optimistischer Planung – für die ersten 30 Unternehmen bis August 1972 »online« gehen.

Der Grund, aus welchem dieser enorme Aufwand betrieben wurde, war die Notwendigkeit, eine über große Entfernungen verstreute Unternehmensstruktur Chiles zu koordinieren. Es sollte ein Instrument der ökonomischen Steuerung und Kontrolle sein, wie der Schöpfer des Systems, Stafford Beer, es sah. Dass dies mit den damals neuesten technischen und wissenschaftlichen Erkenntnissen umgesetzt wurde, verwundert wenig, wenn man bedenkt, dass der Brite als Begründer der Managementkybernetik gilt. Und die chilenische Regierung sparte nicht an Mitteln und Aufwand. Begeistert von dem Auftrag, brach Beer seine anderen Projekte ab, um nach Chile zu reisen und persönlich die Arbeiten an Cybersyn zu koordinieren. In einem Gespräch mit dem Präsidenten Salvador Allende sollte er diesen von seinem Konzept überzeugt haben, berichtet Medina, und passte es an die Anforderungen des chilenischen demokratischen Sozialismus an, in dem nicht die politischen Eliten und Firmenmanager, sondern die Arbeitnehmer im Zentrum des gesamten Steuerungsprozesses stehen sollten.

Ähnlich wie das heutige Internet war Cybersyn ersinnt worden, um die Idee eines schnellen Informationsaustauschs zu operationalisieren. Wie das Internet war das Kommunikationsnetz nicht als Ort der Spiele und des Spaßes angedacht: Der Austausch von Informationen diente einem klar definierten Zweck. Beer vertrat die Meinung, dass eine Datensammlung ohne ein konkretes Ziel Verschwendung sei. Die Informationen hatten zu arbeiten. Es sollte in der chilenischen Gesellschaft ein elektronisches »Nervensystem« implantiert werden, welches fähig sei, die wirtschaftliche Transformation Chiles mitzutragen – und sie mit den sozialistischen Prinzipien der Regierung Allendes in Einklang zu bringen.

Anders als die sozialistischen Revolutionen in Russland oder Kuba sollte Chiles Transformation zum Sozialismus als ein demokratischer Prozess erfolgen, mit Respekt für die Wahlergebnisse, die individuellen Freiheiten (Meinungsfreiheit, Äußerungsfreiheit, Pressefreiheit und Rechtsstaatlichkeit) sowie Beteiligung der Öffentlichkeit an Regierungsentscheidungen durch gewählte Repräsentanten. Allendes Version des Marxismus strebte eine Verbindung von dezentralisierter Governance und Beteiligung von Arbeitern am Management an. Der Einfluss des Marxismus auf das Projekt Cybersyn ist nicht nur in den Projektskizzen zu finden, die stets den Arbeiter in die Mitte der Prozesse stellten, sondern prägte sein technisches Design – und gewährleistete die Antriebskraft, aus dem das kybernetische System seine kontinuierliche Funktionalität schöpfen konnte. Laut Stafford Beer hat Kybernetik den Marxismus effizienter gemacht, indem man ihm ermöglichte, die sozialen, politischen und ökonomischen Strukturen zu regulieren. Auf der anderen Seite gab der Marxismus der Kybernetik die Chance, nicht nur die Aktivitäten eines Unternehmens, sondern die einer ganzen Volkswirtschaft zu steuern und die theoretische Konzeption vom Homeostaten praktisch zu erproben.

Eine enge Korrelation zwischen Allendes Auffassung von Marxismus und der Beer’schen Kybernetik war im Projekt Cybersyn beabsichtigt. Dennoch wäre es ein Missverständnis, Kybernetik als marxistische Technologie zu klassifizieren. Kybernetik, so die Auffassung von Beer, sollte keine eigenen Ideologien entwickeln. Aber es sollte eine Ideologie bestätigen können. Sein Ziel war es, das Industriemanagement zu transformieren und die chilenische Wirtschaft innerhalb eines Jahres »fully effective« zu machen, schrieb er in einem Bericht im Oktober 1972. Dies sollte laut Medina geschehen, indem der chilenische Industriesektor an sein »Fünf-Schichten-Modell« angepasst wurde und dabei alles, was nach Auffassung Beers unnötige Bürokratie war, eliminiert und den Arbeitern neue Möglichkeiten zur Teilnahme an der Fabriksteuerung gegeben wurden. Auch wenn Cybersyn die Ziele des Jahres 1973 nicht mehr erreichen konnte, so bewies es seine Funktionsfähigkeit während des großen Oktober-Streiks. 500 Faxgeräte, ein Großrechner, eine kleine Gruppe von Mitarbeitern sowie ca. 18 Monate Zeit ‒ ein Ergebnis, um das nicht wenige der heutigen Digitalisierungsprojekte Cybersyn beneiden dürften.

Trotz der unbestrittenen Erfolge endete Cybersyn mit dem Beginn der Militärdiktatur in Chile. Die neuen Herrscher fanden die offenen, egalitären Aspekte des Systems unattraktiv und zerstörten es, schrieb Andy Becket unter dem Titel »Santiago dreaming« im Guardian. Das Militär hatte trotz mehrerer Versuche das System nicht verstanden und zerstörte »Opsroom«, so Eden Medina. Stafford Beer soll Angebote aus Brasilien und Südafrika erhalten haben, ähnliche Systeme zu bauen, was in Hinblick auf die damalige politische Lage nicht infrage kam. Hinzu kam Kritik des damaligen US-amerikanischen Computer-Gurus Herb Grosch, der in Zweifel zog, dass Beer in der Lage gewesen sei, sein Modell in wenigen Monaten im Rahmen einer »primitiven« Infrastruktur umzusetzen. Das System scheiterte an fehlender Akzeptanz. Beer widmete sich anderen Projekten, Wissenschaftler flüchteten aus dem Land, und Cybersyn endete als eine kurze, kybernetische Episode der chilenischen Geschichte: die des kybernetischen Sozialismus.

In diesem Jahr wird die Oktoberrevolution 100 Jahre alt, im kommenden Jahr wird der 200. Geburtstag von Karl Marx gefeiert. Cybersyn wäre 45 Jahre alt geworden. Es erinnert an das große Versprechen der zweiten industriellen Revolution und der Kybernetik, mithilfe von Computerisierung und Automatisierung Organisationen, ja ganze Volkswirtschaften effektiv steuern zu können ‒ während in der Ära der vierten industriellen Revolution, der Digitalisierung, Robotisierung und der künstlichen Intelligenzen Unternehmen ihre Indikatoren zur Geschäftssteuerung oft immer noch in Excel-Tabellen erfassen. Als verantwortlich für das Scheitern des chilenischen Experiments sah Beer das internationale Gewaltensystem an. Seiner Auffassung nach solle man das System neu gestalten, damit es auch Freiheit als möglichen Output zulasse. Doch es scheine, so schrieb David Graeber, Aktivist und Professor an der London School of Economics, 2012 in Kampf dem Kamikaze-Kapitalismus, als sei der Kapitalismus seiner Fähigkeit verlustig gegangen, Science-Fiction Realität werden zu lassen: »Der Krieg gegen die Fantasie ist der einzige Krieg, den die Kapitalisten bisher tatsächlich gewinnen konnten.«

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