Die Demokratie neu erfinden? Was ist denn genau gemeint? Die zentralen Institutionen, also Parteien, Parlament, Regierung und Gerichte, oder Verfahren wie Wahlen und die Begrenzung von Regierungsperioden? Oder sind gar die sie leitenden Prinzipien wie Freiheit, Gleichheit und Herrschaftskontrolle gemeint? Wer wollte dies alles neu erfinden und warum? Demokratische Institutionen, Verfahren und Prinzipien sind Jahrhunderte, wenn nicht gar (zweieinhalb) Jahrtausende alt. Sie haben Niederlagen, Niedergang, Brüche und Umbrüche erlebt. Vor allen Dingen aber haben sie überlebt und das in Theorie und Praxis. Die repräsentative Demokratie mag zwar nicht das Ende der Geschichte bedeuten und auch der Wettbewerb der politischen Ordnungssysteme hat sich nicht erledigt. Im Sinne einer langfristigen institutionellen Evolutionstheorie haben die grundsätzlichen Verfahren der Demokratie aber nicht nur überlebt, sondern sie haben sich gewandelt, angepasst, entwickelt und in Maßen auch bewährt.
Dies gilt insbesondere für die drei tragenden Grundprinzipien der Demokratie: Freiheit, Gleichheit und Herrschaftskontrolle. Sie markieren den ethisch normativen Kern der Demokratie. Sie sind unveränderlich. Würden sie sich maßgeblich wandeln oder würden sie außer Kraft gesetzt, sollten wir nicht mehr von Demokratie sprechen. Dies geschieht immer wieder im Übergang von Demokratien zu Diktaturen. Kann aber eine Technologie unsere Demokratien substanziell verändern? Und wenn ja, tut sie das zum Guten oder zum Schlechten?
Die Frage muss also anders gestellt werden. Fordert die Digitalisierung die Prinzipien und Institutionen der Demokratie heraus, unterspült sie deren Fundamente oder pervertiert ihre Verfahren? Oder aber, so lässt sich ebenfalls fragen, stärkt sie die demokratischen Institutionen und öffnet neue ungekannte Möglichkeiten für eine aktivere, direktere und inklusivere Demokratie? Befragt man die Forschung zu diesem Thema, lassen sich dort seit Beginn der 90er Jahre im Großen und Ganzen drei unterschiedliche Perioden hinsichtlich möglicher Antworten erkennen: eine optimistische, eine realistische und eine pessimistische.
Beurteilungen der politischen Digitalisierung
Die optimistische Antwort der ersten Periode entwarf ein neues Zeitalter einer besseren, digitalen Demokratie als realisierbare Vision. Die Grenzen zwischen Kommunikation, Partizipation, Repräsentation und Entscheidung würden porös, verflüssigten sich und die Bürger würden sich mehr und effektiver an der Politik beteiligen. Sie könnten sich direkter in politische Entscheidungsprozesse einschalten. Die Differenz zwischen Regierten und Regierenden löst sich auf. Cyberlibertäre hofften gar, dass herkömmliche Repräsentationsfunktionen durch direktdemokratische Beteiligungs- und Entscheidungsverfahren ersetzt werden könnten. Kommunitäre Internetvisionäre träumten von einer Partizipationsrevolution von unten, einem digital common. Die Technik habe die Eintrittsschwelle zur politischen Beteiligung gesenkt und von seinen räumlichen Beschränkungen befreit, hieß es.
Noch knapp vor der Jahrtausendwende verblassten diese überschießenden Utopien und die Konturen einer realistischeren Betrachtungsweise wurden deutlicher. Demokratiegewinne und mögliche Verluste wurden nun gegeneinander abgewogen. Zugleich wurden konkrete politische Instrumente im Internet entwickelt. Diese reichen vom E-Voting über innerparteiliche Beteiligung bei Sach- und Personalentscheidungen in Parteien bis hin zu elektronischen Wächtern gegenüber Korruption, dem Entscheidungsverhalten der Parlamentarier und Menschenrechtsverletzungen durch staatliche Organe. Bürgerhaushalte würden elektronisch mitbestimmt und die frühzeitige Einbindung der Bürger in Politikentwürfe ermögliche nun das, was digitale Euphoriker hochtrabend als crowd legislation bezeichnen. Gleichzeitig verändere sich die Schnittstelle in der Interaktion von Bürgern und staatlicher Bürokratie. Der etwas irreführende Begriff des E-Governments machte die Runde: nun können bestimmte Behördengänge entfallen, Pässe und Kfz-Zulassungen über das Internet beantragt und Ämter auch elektronisch besucht werden. Dies spart dem Bürger sicherlich bisweilen Zeit und Ärger. Mit Government hat das allerdings wenig zu tun. Es entsteht hier gegenwärtig eine, unter Umständen effizientere, Form der staatlichen Bürokratie, die diese allerdings gegenüber dem Bürger entpersonalisiert: E-Bureaucracy wäre also der treffendere Begriff.
In den letzten Jahren hat sich der Trend in der Beurteilung der politischen Digitalisierung gedreht. Nun überwiegen die skeptischen Stimmen, die vor den Gefahren warnen, die die Digitalisierung mit sich bringt. Sie fokussieren sich vor allem auf das Internet als Plattform der Öffentlichkeit. Nun wurde betont, dass sich die Öffentlichkeit in abgeschottete Teilöffentlichkeiten aufspaltet, die berüchtigten Echokammern. Die nur halböffentliche Schattenwelt teilanonymer Meinungsäußerungen ermögliche das Aufblühen von Hassreden gegen Andersdenkende und Andersseiende. Rassismus und Fremdenfeindlichkeit erhielten eine vorher ungekannte Bühne. Manipulative bots ließen sich kaum von realen Sendern und Fake News kaum mehr von wahrheitsgemäßen Nachrichten unterscheiden. Die Hoffnung auf eine entgrenzte, universell-offene Agora des Austauschs und der Beratung wurde so in ihr Gegenteil verkehrt.
Digitale Veränderungen in den Kernsphären der Demokratie
Exemplarisch, aber doch mit einer gewissen Systematik, lässt sich an drei Kernfunktionen bzw. Kernsphären der Demokratie konkreter prüfen, inwieweit die Digitalisierung dort die Demokratie verändert, fördert oder möglicherweise schädigt. Diese sind: Partizipation, Repräsentation und Entscheidung.
Partizipation: Es gab die Hoffnung, durch niedrigschwellige Zugangsmöglichkeiten im Internet die politische Beteiligung anzuregen und auszudehnen – und zwar gerade auch auf jene unteren Schichten, die aus der politischen Beteiligung ausgestiegen sind. Die analoge Zweidrittel-Demokratie sollte sich durch das Internet wieder auf möglichst alle Schichten ausdehnen. Denn darum geht es ja primär. Man kann zwar den politisch aktiven Mittelschichten zusätzliche Beteiligungsplattformen einrichten, dagegen lässt sich wenig einwenden. Doch die eigentliche Krankheit unserer repräsentativen Demokratie und ihres Gleichheitsprinzips ist der Ausstieg des unteren Drittels unserer Gesellschaft aus der politischen Partizipation und deshalb auch der fairen Repräsentation ihrer Interessen. Die Hoffnung trog bisher. Betrachten wir das E-Voting. Die Wahlbeteiligung stieg dort, wo die elektronische Stimmabgabe ermöglicht wurde, nicht an. Von der Sozialstruktur her ist die Beteiligung online sozial mindestens so selektiv wie offline. Das gilt selbst für das Cyber-Musterland Estland. Die unteren Schichten bleiben weg. Allerdings beteiligen sich etwa in Estland mehr junge Menschen an den Wahlen. Dies ist nicht unwichtig in Zeiten, in denen sich gerade diese Gruppe zunehmend weniger an der Politik und den Wahlen beteiligt. Es könnte die Befürchtung moderieren, dass sich junge Menschen in den formativen Jahren ihrer Bildung und ihres (politischen) Bewusstseins eine lebensprägende Form des politischen Nihilismus zur Gewohnheit machen. Allerdings lässt sich noch nicht sagen, ob dies ein Generationen- oder Kohorten-Effekt sein wird.
Wie aktiv werden eigentlich politische Inhalte im Netz gepostet? 50 % der User benutzen das Internet überhaupt nicht für politische Zwecke. 40 % informieren sich gelegentlich politisch über das Internet; 9 % lesen regelmäßiger politische Posts, aber nur 1 % postet selbst regelmäßig im Internet. Empirische Untersuchungen stellten fest, dass in den sozialen Medien nur 3 % der Posts einen politischen Inhalt haben. Diese relativ niedrigen Beteiligungsquoten mindern Umfang und Bedeutung, die den politischen Diskursen im Netz demokratiefördernd zuzuschreiben sind. Vermehrt haben sich allerdings die Hasstiraden im Internet. Sie haben dort eine halb abgedunkelte Arena gefunden, welche es ihren Nutzern erleichtert, ihr »schlechteres Ich« in der Kommunikation hemmungslos zu entfalten.
Zunehmend setzen Parteien bei der innerparteilichen Willensbildung und Entscheidungsfindung in Sach- und Personalfragen digitale Instrumente ein. Es werden mehr Mitglieder erreicht als in der analogen Welt, dazu sind die Verfahren schneller und kostengünstiger. Allerdings scheint es auch hier engere Grenzen zu geben. Zumindest weist der gescheiterte Versuch der Piratenpartei, die innerparteiliche Demokratie zu verflüssigen, darauf hin. Die Piraten wollten die innerparteilichen Entscheidungsprozesse über die Software Liquid Democracy demokratisieren. Über sie konnte debattiert, delegiert und entschieden werden. Die Teilnehmenden konnten selbst entscheiden oder aber ihre Stimmen auf sogenannte Delegierte übertragen, nämlich Parteimitglieder, die man für ehrenvoll und kompetent hielt. Eine Delegierte bzw. ein Delegierter konnte dabei die Stimmen vieler Parteikollegen sammeln. Das Ergebnis waren allerdings intransparente Delegationsketten, die kaum zu durchschauen waren. Insbesondere wurde aber das innerparteiliche Netz auch für innerparteiliche Niedertracht genutzt, dem »großen Internet« nicht unähnlich. Die Piraten hat diese, im globalen Netz nicht unbekannte, Nutzung zumindest in Deutschland in die Auflösung geführt.
Das Internet hat bisher noch kaum die soziale Selektivität in der Partizipation, zweifellos eine Krankheit der repräsentativen Offline-Demokratie, therapieren können. Vereinfacht formuliert kann man sagen: Die sozialen Strukturen der Offline-Partizipation werden online im besten Falle nur gespiegelt, im schlechteren Fall verschärft sich gar die soziale Selektion durch die digitale Spaltung. Das Internet hat für jüngere netzaffine Menschen die Bequemlichkeitsschwelle zur politischen Teilnahme gesenkt. Bequemlichkeit war aber noch nie ein relevanter Faktor für die politische Beteiligung. Im Gegenteil, man könnte argumentieren, dass politische Partizipation, vereinzelt vor dem Computer durchgeführt, das diskursive Prinzip der politischen Deliberation aushöhlt und trivialisiert.
Repräsentation: Alle nennenswerten politischen Vertreter präsentieren sich mittlerweile online. Sie senden (oder veranlassen) Videobotschaften, twittern oder bespielen YouTube-Kanäle. Das ist aber nicht der eigentliche Akt der politischen Repräsentation. Zwar werden Profile und Positionen der Politiker digital verbreitet, aber als Ort der Deliberation, Diskussion und der politischen Entscheidungen taugt die asymmetrische Information kaum. Der entscheidende Ort der Repräsentation ist und bleibt das Parlament. Daran hat sich nichts geändert. Es ist auch schwer vorstellbar, dass sich dies im Zeitalter der Digitalisierung ändert oder auch nur ändern sollte. E-Parlamente können sich selbst die digitalen Visionäre der ersten Stunde kaum vorstellen. Die Vorstellung liefe eher auf die Bedeutungsreduktion von Parlamenten hinaus, wenn politische Entscheidungen im Stile von Referenden direkt durch den E-Demos getroffen würden. Das wäre durchaus im Einklang mit den Befürwortern der direkten Demokratie, die in Repräsentationsmechanismen die Brechung eines »authentischen Volkswillens« wittern. Für die Problemangemessenheit, Klugheit oder Fairness solcher Entscheidungen hätte dies unabsehbare, aber vermutlich negative Folgen.
Positiv verändert haben sich Repräsentationsmechanismen in der politischen Zivilgesellschaft. Es gibt eine Reihe von nicht gewählten, aber hoch respektierten zivilgesellschaftlichen Organisationen wie Amnesty International, Transparency International, Human Rights Watch oder Election Watch, die eine breit und tief gestaffelte Phalanx von gesellschaftlichen Wachhunden gegenüber der politischen Gesellschaft und ihren Eliten effektiviert haben. Sie sind gewissermaßen moralische Repräsentationsinstanzen der Gesellschaft. Der australische Demokratietheoretiker John Keane sieht darin sogar das Heraufziehen einer monitory democracy, also einer Demokratie zweiter Ordnung, welche die erste, repräsentative Demokratie beobachtet. Ihre Repräsentationskraft ziehen sie nicht aus einer allgemeinen Wahl, sondern sie legitimieren sich aus ihren integren Motiven, ihrem moralischen Ansehen und dem funktionalen Beitrag, den sie zu einer transparenten Funktionsweise der Demokratie leisten. Diese Art der zivilgesellschaftlichen Repräsentation und Supervision kann als ein Demokratiegewinn verbucht werden.
Parteien, ihre Spindoktoren und Digitalbeauftragten nutzen in Wahlkämpfen – vor allem in den USA – mithilfe der über soziale Medien gesammelten Persönlichkeitsprofile Daten für das sogenannte Microtargeting der Wählerschaft. Sie adressieren spezifisch zugeschnittene Botschaften nur für dafür vorgesehene Wählergruppen. Bisweilen tauchen diese auch in der Form von dark posts auf, d. h. sie sind dann nur für die jeweilige Zielgruppe einzusehen. Für das restliche Elektorat bleiben sie verborgen. Dies ist zwar legal, trägt aber dennoch die Züge einer illegitimen Manipulation. Wie weit dies gehen kann, hat Cambridge Analytica schon einmal vorgeführt.
Entscheidung: Dass der Begriff E-Government eigentlich E-Bureaucracy genannt werden müsste, wurde schon erwähnt. Dass Twitter nicht nur segensreich die Informationsvielfalt erhöht, auch. Wir erleben gerade bei dem mächtigsten Präsidenten der Welt, wie er über Twitter eine pöbelhafte Version der Carl Schmittschen Idee einer plebiszitär-direkten Führerdemokratie am Parlament vorbei zu etablieren sucht. Aber selbst der Präsident eines präsidentiellen Systems, wie jenem der USA, kann seine Entscheidungsposition zwar bei Twitter seinen Followern oder »enemies« (Donald Trump) und der Welt verkünden, aber bei den meisten analogen Entscheidungen ist auch er auf die Zustimmung des Parlaments angewiesen. Also erfüllt auch hier das digitale Medium vor allem eine Kommunikations-, weniger eine Repräsentations- und schon gar nicht eine Entscheidungsfunktion.
Die Bilanz ist ernüchternd
Es bleiben in der Sphäre der Dezision mindestens drei Bereiche: Die Wahlentscheidung der Bürger, die Sachentscheidung bei gesellschaftsweiten Volksentscheiden oder die Sach- und Personalentscheidung in den politischen Parteien oder großen gesellschaftlichen Verbänden. Dazu wurde oben schon Relevantes gesagt. In Zeiten der Manipulierbarkeit von digital organisierten Wahlen oder der kaum zu erbringenden Garantie der Wahrung des Wahlgeheimnisses gegenüber dem Staat und unbefugten Dritten, wachsen auch hier die Bäume nicht in den Himmel. Am ehesten dürften Parteien und Verbände das Internet für eine Demokratisierung der innerorganisatorischen Demokratie nutzen.
Ich schließe nicht völlig aus, dass eine gewisse Voreingenommenheit darin steckt, da sie von jemandem gezogen wird, der einer fortgeschrittenen Alterskohorte angehört. Es ist aber jemand, der das Internet intensiv für seine wissenschaftlichen Aktivitäten nutzt und mit seiner Abteilung am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) einen eigenen Demokratie-Blog und große, allgemein verfügbare Datenbanken aufgebaut hat. Eine private politische Beteiligung über das Internet böte mir jedoch keinen politischen Mehrwert.
Die Digitalisierung hat unser Kommunikationsverhalten und unsere berufliche Arbeit stark verändert. In der Politik gewinnen die negativen Effekte gerade die Oberhand. In Diktaturen wird das Internet von den autokratischen Eliten effektiver genutzt als durch ihre Opposition. Der autoritäre Überwachungsstaat hat sein effektivstes Kontrollinstrument gefunden. Die Volksrepublik China malt gerade dieses autoritäre Menetekel an die elektronische Wand. In kapitalistischen Demokratien nutzt der digitale Kapitalismus die privat gesammelten Daten legal für Geschäfte oder illegal für die Manipulation von Wahlen, wie im Fall von Cambridge Analytica. Auch die politische Kommunikation hat sich im Zeichen der Digitalisierung verändert. Wenig verändert haben sich durch die Digitalisierung jedoch bisher die Kernverfahren und Kerninstitutionen unserer Demokratien. Das ist, so möchte man legitimationstheoretisch hinzufügen, auch besser so.
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