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Alte und neue Felder der Zeitethik in der sozialwissenschaftlichen Diskussion Langsamer oder schneller?

Gleichsam in die DNA der Zeitforschung eingewoben ist das Thema der Beschleunigung der Gesellschaft: Seit nunmehr fast einem halben Jahrhundert hört man die berechtigte Kritik, dass das Tempo unserer Lebenswelt zu hoch und zu ungesund sei, in der Arbeit ebenso wie in der Freizeit. Und schon um die Wende zum 20. Jahrhundert vertrat Karl Wilhelm Bücher die kulturkritisch und lebensphilosophisch inspirierte These, dass der modernen Lebenswelt zunehmend der Faktor Rhythmus abhandengekommen sei, durch die Mechanisierung der Arbeit aber auch durch die Linearisierung des modernen Alltagsgeschehens. Damit verbunden war und ist immer auch die Frage, wer eigentlich die Treiber einer zunehmenden Beschleunigung der modernen Lebenswelt sind und vor allem, mit welcher Legitimation die Protagonisten diesen Prozess vorantreiben.

Über Aufbau und Antrieb des sprichwörtlichen Hamsterrades sind verschiedene Theorien aufgestellt worden. Sofort fallen einem auch dazu die berühmten grauen Herren von der Zeitsparkasse aus Michael Endes Roman Momo ein. Die Treiber in der Realität sind allerdings nicht einzelne Herren, sondern eher abstrakte, relativ unabhängig voneinander operierende Systeme, die man als »Oszillatoren der Beschleunigung« bezeichnen könnte. Diese fünf Oszillatoren sind die Dynamiken der wirtschaftlichen Entwicklung, der technologischen Entwicklung, des Verschleißes und Verfalls, der modischen Entwicklung sowie der sozialen Veränderungen.

Verzeitlichung der Gesellschaft

Es ist aber nicht nur die Beschleunigung, die uns die Zeitprobleme beschert, über die wir zu klagen gewohnt sind. Mindestens ebenso ist es ein Phänomen, das man die »Verzeitlichung der Gesellschaft« nennen könnte, das sich seit der Industrialisierung und Modernisierung zunächst der westlichen Gesellschaften, mit der Globalisierung der ganzen Welt, schrittweise aber unaufhaltsam durchgesetzt hat: Wie ein Netz überzieht das Referenzsystem Zeit den modernen Alltag, immer mehr unserer Lebensbezüge müssen sich im Vergleich mit der Uhrzeit messen lassen, sinnvolle Zeitverwendung scheint nun die alles beherrschende Formel.

Dabei kommt es nicht einmal so sehr auf die Geschwindigkeit als solche an und Zeitsparen ist nur eine von mehreren Formen der Bewirtschaftung der Zeit. Pathogen wirkt vor allem, dass alles Lebendige und damit Rhythmische sich nun der in der Regel linearen Logik der Uhrzeit unterwerfen soll – wodurch die biologischen Eigenzeiten in uns und die rhythmischen Zeiten der uns umgebenden Natur vielfältig unter Stress geraten. Am meisten durch ein hegemoniales System der »infinitesimalen Zeitverwendungslogik«, das eingesparte Zeit wieder mit dem Imperativ der Zeitersparnis belegt und so weiter, unendlich.

Hartmut Rosa hat in seinem Buch über Resonanz als Weltbeziehung darauf hingewiesen, dass die Pathogenität des modernen Alltags vor allem in einer wesentlich auch durch moderne Zeitstrukturen verursachten Störung der Beziehungsfähigkeit der Menschen zu sich und ihrer Umwelt zu suchen ist. Fritz Reheis konnte im Anschluss hieran wie auch an Arbeiten zur »Ökologie der Zeit« (wie etwa die von Martin Held) zeigen, was dies an Zerstörungspotenzial im Verhältnis Mensch–Natur birgt.

Um noch einmal auf die grauen Herren zurückzukommen: Entgegen dem Eindruck, den diese zu erwecken suchen, kann man Zeit nicht aufsparen, etwa indem man auf der Zeitsparkasse ein Lebenszeitkonto eröffnet. Zeit im sozialwissenschaftlichen Sinne existiert immer nur als Zeitbindung. Zumindest nach allgemeiner Auffassung der modernen Gesellschaft ist es nicht möglich, keine Zeit mit irgendetwas zu verbringen – selbst wenn man sie mit Nichtstun verbringen wollte. Was man kann, ist Zeit für die eine Sache zugunsten einer anderen Sache einzusparen, aber nicht Zeit schlechthin. Denn diese schreitet erbarmungslos voran, scheint auf uns zuzukommen und zu vergehen.

Die Gebundenheit von Zeit

Somit sind wir gezwungen, unsere Lebenszeit kontinuierlich an die eine oder andere Sache zu binden. Ebenso wie wir unsere Zeit darüber hinaus an bestimmte Orte binden müssen, an denen wir uns aufhalten. Zusätzlich zu der Bindung der Zeit an Sachen und Räume binden Menschen ihre Zeit normalerweise mehr oder weniger stark an bestimmte Personen oder Personengruppen. Unsere Freiheit im Umgang mit der Zeit besteht dann also darin, unser Lebenszeitbudget im Rahmen eines Tages, einer Woche oder eines Monats oder gar unseres ganzen Lebens entweder geplant oder ungeplant an die eine oder andere Sache, an den einen oder anderen Ort oder an die eine oder andere Person binden zu können.

Die Coronapandemie hat uns diese Grundregeln im Umgang mit der Zeit und noch einiges darüber hinaus deutlich gemacht: Wie man weiß, waren, um die Pandemie bekämpfen zu können, hier all diese Freiheiten der Zeitbindung, wenn auch nur selektiv und phasenweise, durch Kontaktverbote verschiedener Art eingeschränkt oder sogar unter Strafe gestellt. Damit wurde ein Selbstwiderspruch moderner Zeitverwendung deutlich, der auch schon lange vor Corona bestand, nun aber zum Durchbruch kam: prekärer Zeitwohlstand.

Was war geschehen? Durch die Maßnahmen der staatlichen Pandemiebekämpfung wie Homeoffice, Kurzarbeit, Wegfall von langen Arbeitswegen, Schließung von Schulen und Kitas verfügten nun, obwohl es sich ja zu allererst einmal um ein negatives Störereignis handelte, völlig überraschend sehr viele Menschen über sehr viel mehr Zeit als zuvor. Andere allerdings gerieten umso mehr in Zeitnot. War dies nicht die große Chance, neuartige Muster der Verwendung von Zeit sozusagen in einem gesellschaftlichen Großversuch auszuprobieren?

Tatsächlich gelang es nicht wenigen Familien, vorwiegend aus dem gut gebildeten bürgerlichen Milieu, neuen Zeitwohlstand zu realisieren. Etliche blieben jedoch, nachdem sie ihren Keller aufgeräumt und die Urlaubsbilder zu Hause sortiert hatten, auf der Strecke. Denn was nutzt es, über mehr selbstbestimmte Zeit zu verfügen, wenn dafür gleichzeitig die meisten der Verwendungsmöglichkeiten wegbrechen? Wenn fast alles was Sinn und Spaß macht, nicht mehr möglich ist – vor allem, weil dies meistens an die Zeitbindung anderer Menschen gebunden ist – verliert auch die gewonnene Zeit ihren Wert.

Man kann hier also von einer Inflationierung des Wertes der Zeit sprechen. Diese führt zu prekären oder gar toxischen Zeitbindungen, das heißt zu Langeweile, Einsamkeit, Depression oder exzessiver Mediennutzung, nicht nur bei Kindern und Jugendlichen. Der Coronaeffekt ähnelt dann bildlich gesprochen einem Sack voll angefüllt mit Zeit, der den Menschen ungefragt und völlig unerwartet vor die Füße geworfen wurde, und der bei näherem Hinsehen nur minderwertigen Kram enthält.

Die Janusköpfigkeit des Zeitwohlstands

Zudem setzt sich, wer in der Leistungsgesellschaft plötzlich über sehr viel Zeit verfügt, schnell der Gefahr aus, nicht mehr dazu zu gehören, weil über sehr viel oder gar zu viel Zeit aus der Sicht der Allgemeinheit nur Rentner*innen, Studierende, Sozialhilfeempfänger*innen, Lottokönig*innen oder sonstige Millionär*innen verfügen. Viel Zeit durch Kurzarbeit aber auch durch Heimarbeit gewonnen zu haben, hat in einer »Kultur der knappen Zeit« zumindest ein »Gschmäckle«. Und es ist gerade das Gegenteil dessen, was den meisten Menschen, die auf der Erfolgsspur sind und mitten im Leben stehen, als »Zeitwohlstand« so begehrlich erscheint.

Denn »Zeitwohlstand« setzt eine Situation voraus, in der die Verfügung über Zeit in einem Kontext erworben wird, in dem die Zeit knapp ist, wie in einem geachteten, gut dotierten Beruf. Das zeigt: Es kommt bei Zeitwohlstand nicht nur auf den Umfang der verfügbaren Zeit an, sondern mindestens ebenso auf die soziale Kontextualität, in der dieser vorkommt.

All das deutet darauf hin, dass wir in den hoch modernisierten Gesellschaften nicht erst seit gestern ein großes soziales Problem haben, das von der sozialwissenschaftlichen Zeitforschung – wahrscheinlich bedingt durch ihre DNA als Kritikerin der Beschleunigung – bisher weitgehend übersehen worden ist: Langeweile und Einsamkeit. Der Zusammenhang zum Thema Zeit und Zeitverwendung in unserer Gesellschaft ist nicht zu übersehen: Immer mehr Menschen sind – warum auch immer – nicht mehr in der Lage, ihre Lebenszeit in der Weise an Dinge, Personen oder Orte zu binden, dass sie daraus Gewinne für ihr Leben in Richtung Lebensglück oder noch allgemeiner gelingendes Leben ziehen können. Nicht weil sie zu wenig, sondern weil sie zu viel Zeit haben. Theoretisch ausgedrückt haben sie ein Problem mit ihrer persönlichen Zeitallokation. Darin muss man nach bisherigen Erkenntnissen weniger ein persönliches Versagen der Individuen, als vielmehr ein Strukturproblem bestimmter sozialer Gruppen sehen.

Nicht nur die wachsende Zahl älterer Menschen vergrößert das Problem: Einsamkeit steigt bei Menschen im mittleren und hohen Alter gleichermaßen deutlich. Aus unterschiedlichen Gründen klagen auch Jüngere, und nicht nur die, die aus sozialen Gründen am Rande der Gesellschaft stehen, darüber, mit ihrer Zeit nichts Sinnvolles anfangen zu können. Vieles spricht dafür, dass ausgerechnet die Digitalisierung diesen Prozess weiter beschleunigt. Der prekäre Zeitwohlstand ist also kein Ausdruck des Versagens von Einzelpersonen, sondern hat, wie oben kurz skizziert, einen systemischen, sprich dialektischen Bezug zu einer Kultur der knappen Zeit in einer spätmodernen Gesellschaft.

Alles scheint auf eine Polarisierung hinauszulaufen: Während die einen gestresst sind und die jüngeren Generationen immer öfter endlich darauf bestehen, weniger und im Lebensverlauf mehr an ihren privaten Interessen orientiert arbeiten zu können – siehe die neuere Diskussion um die Vier-Tage-Woche –, wächst die Zahl derer, deren »Leiden an der Zeit« (Michael Theunissen) darin besteht, ihrer Lebenszeit zu wenig Sinn geben zu können. Ob eine zeitliche Umverteilung im Sinne von mehr Zeitgerechtigkeit möglich ist, ja ob dies überhaupt theoretisch eine sinnvolle Vorstellung wäre, bliebe weiter zu erforschen.

Und ja, wir müssen in einer ganz anderen Hinsicht gleichzeitig auch statt zu entschleunigen, noch schneller werden: Der Klimawandel wartet nicht, bis die große Transformation vollendet ist. Hier ist außerdem mehr Synchronität, bessere zeitliche Koordinierung der politischen Maßnahmen angesagt. Und auch der Krieg eröffnet dem die besten Aussichten ihn zu gewinnen, der schneller, das heißt oftmals: recht-zeitig ist. Bleibt der Wunsch, dass so schnell wie möglich – ein gerechter – Friede werde!

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