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© picture alliance / ZB | Sascha Steinach

Über den Rückzug der Philosophie ins Private Lasst mich in Frieden

Zwischen der Philosophie als Disziplin und ihrem Handlungsreisenden Richard David Precht besteht nur noch ein behaupteter Zusammenhang. Es wäre müßig, jede der Äußerungen des Fernsehintellektuellen zu verschiedensten Themen diskutieren zu wollen. Eine berechtigte Ausnahme dürfte seine jüngste moralphilosophische Grußadresse an die Ukraine sein. Die Landesverteidiger an ihre »Pflicht zur Klugheit« zu mahnen, ihnen im Podcast mit ZDF-Moderator Markus Lanz die Einsicht anzuempfehlen, wann man sich »ergeben« müsse, ist nicht nur eine deprimierende intellektuelle Fehlleistung. Sie ist symptomatisch für die gegenwärtigen Schwierigkeiten, in populären philosophischen Debatten gesellschaftliche Fragen und Problemstellungen abzubilden.

Es scheint, als ob hinter dem vordergründigen Wunsch nach einem Schweigen der Waffen und einem vermeintlichen Ende des Leids ein ernüchterndes Bedürfnis verborgen liege. Allzu gerne würde man offenbar von Themen verschont bleiben, die sich mit dem derzeit vorherrschenden Muster öffentlicher philosophischer Selbstinszenierung nicht bewältigen lassen: sämtliche Probleme der Welt so zu arrangieren, als ob sie sich um die einzelne, ja die eigene Person drehen würden. Populäre Debatten um philosophische Themen scheinen mittlerweile tief im Korsett einer medialen Verkleidung zu stecken, in der sie nur noch als Sinnstiftungen für die einzelne Person wahrgenommen werden. Auf solcher Bühne droht die Philosophie als Instanz zur Diskussion von Problemen öffentlicher und gesellschaftlicher Natur ins Hintertreffen zu geraten.

Was gibt Anlass zu dieser Vermutung? Zunächst gewisse Anzeichen einer gesellschaftlichen Desensibilisierung, die zu beobachten sind selbst in den oberen Etagen der »Intelligenzia«. »Lasst mich in Frieden«, hat der Dichter Peter Handke bekanntlich geblafft, als Journalisten den Literaturnobelpreisträger zu seinen Ansichten über den jugoslawischen Bürgerkrieg befragen wollten. »Stellt mir nicht solche Fragen!« Eine Absage an den Dialog, die unverblümte Ankündigung, sich aus der Abgeschlossenheit der eigenen Gedanken gar nicht mehr auf eine Ebene gesellschaftlich verhandelbarer Überzeugungen und Normen begeben zu wollen.

Als verklausulierte Absage dieser Art dürfte auch die prechtsche Kapitulationsaufforderung anzusehen sein. Sie reduziert die soziale Person des Gegenübers auf deren Emotionalität und Körperlichkeit, auf ihr individuelles Erleben und Erleiden, blendet hingegen die soziale Seite der Person aus, ihre staatlich und gesellschaftlich garantierten Freiheitsrechte, die eben nicht preisgegeben werden können, ohne damit die Person als ganze und damit auch ihr unveräußerliches Existenzrecht preiszugeben. Das ist nicht nur bemerkenswert ignorant. Entgegen den verbalen Beteuerungen läuft ein derart reduziertes Bild von Autonomie durchaus Gefahr, anderen das elementare Recht auf Selbstverteidigung abzusprechen.

Precht liefert damit aber lediglich ein besonders eindrückliches Beispiel für die gegenwärtigen Probleme, soziale Fragen unserer Gegenwart überhaupt philosophisch zu diskutieren. Möglich geworden sind solche Schnitzer in einer öffentlichen Sphäre, in der Philosophie weithin zur Handelsware für individuelle Problemlösungen geworden ist, und von den Fachdiskussionen, die sich überwiegend auf deutlich höherem Niveau bewegen, nicht erreicht wird. Die Popularisierung philosophischer Debatten richtet sich derzeit weitgehend an einem »Zielbehälter« aus: dem Selbstdeutungsinterieur der einzelnen Person. Philosophie scheint vor allem dazu gemacht, »mich«, meine Person, mein »Ich«, über dessen Rolle in der Welt zu orientieren, ihm ein Angebot zu machen, das es annehmen, modifizieren, ausschlagen oder verwerfen kann. Es sind verhängnisvoll wirksame Rezepturen, die zu dieser medialen Einkleidung von Philosophie beitragen.

Sinnsuche statt öffentlichem Ringen um Erkenntnis

Dazu gehört in erster Linie die Aufbereitung philosophischer Argumente in der immer gleichen medialen Soße. Im Grunde ist es mittlerweile gleichgültig, ob Kant oder Marx, Nietzsche oder de Beauvoir ins Haus oder auf den Bildschirm flattern, ob es Staat, Gesellschaft, Person oder Geschlecht sind, die philosophisch verhandelt werden: In der medialen Rezeption werden sie oft zu bloßen Sinn-Angeboten, austauschbaren Artikeln, die frei Haus ein simples Modell der Erkenntnistheorie gleich mitliefern: die Vorstellung, sich als Fan oder Troll sein Weltbild auf einsamen Internet-Surfexpeditionen selbst zusammenbasteln zu können. An die Stelle des öffentlichen, gemeinsamen Ringens um Selbstbilder, Erkenntnis und Wahrheit tritt eine subjektivierte Sinnsuche, tritt Philosophie als Privatangelegenheit.

Irritierend wirkt zunächst, dass sich diese Tendenz zur Privatisierung der Philosophie an öffentlich diskutierten Themen oft gar nicht ablesen lässt. Nicht immer tritt sie so deutlich zutage wie in manchen Titeln des philosophie Magazins, beispielsweise wenn gefragt wird, ob Philosophie »mein Leben« ändern, wie »ich« in der Pandemie mehr Eigenverantwortung wahrnehmen kann oder wenn die Philosophie des Hip-Hop unter dem Gesichtspunkt diskutiert wird, wie »ich« zu einer Haltung finde. Ebenso wenig wird man populär vermittelte Philosophie ohne Weiteres mit esoterischen Bewegungen in eins setzen können, in denen sich identitätspolitische Forderungen mit Psychotherapie und allgemeinen Empfehlungen zur Selbstsorge vermischen. »Instavengelists« wie die US-Amerikanerin Glennon Doyle, die in ihren Veranstaltungen beispielsweise die Frage aufwirft, wie wir »in unser wahres Selbst zurückkehren« können, bilden heute den digitalisierten Saum einer Lebenshilfe, die es in unterschiedlichen Formen schon immer gegeben hat.

Unverkennbar jedoch ist die Tendenz, mittlerweile auch solche Themen in den Grenzbereich zur privaten Selbstsorge zu verschieben, die genuin in der Sphäre des gesellschaftlichen Lebens angesiedelt sind und dort auch diskutiert werden müssten. Symptomatisch erschien während der vergangenen Monate die Debatte um den Fall von Jens Söring, bekannt geworden durch einen aufsehenerregenden Prozess, bei dem er 1990 in Virginia des Doppelmordes für schuldig befunden worden war. Insgesamt 33 Jahre hat Söring in Haft verbracht, bevor er 2019 auf Bewährung entlassen und nach Deutschland abgeschoben wurde.

Die große Medienkampagne, in der er sich inzwischen als US-Justizopfer darstellt, wurde auch von philosophischer Seite aufgegriffen und diskutiert. Auf erstaunliche Weise verschob sich dabei die Diskussion von den eigentlich angezeigten Fragen nach Recht und Unrecht, Schuld und Unschuld, also klassischen Gegenständen der Rechtsphilosophie, in den Graubereich einer existenzialistischen Selbstfindung des ehemaligen Häftlings. Die Philosophin Svenja Flaßpöhler befand im philosophie Magazin, am Beispiel von Söring lasse sich im Sinne Jean-Paul Sartres gut beobachten, was es bedeute, »zur Freiheit verdammt zu sein«. Bei der Lit.Cologne verstieg sich Richard David Precht im Podiumsgespräch mit Söring gar dazu, den in der Einsamkeit des Gefängnisses gestählten Gesprächspartner als möglichen Verbündeten in Verhandlungsfragen zu betrachten. Eine Projektion, die den ehemaligen Häftling zum Sinnbild jenes privaten Ichs stilisiert, das einer fremden und feindlich gesonnenen Welt gegenüberzustehen scheint.

Anschaulich illustriert der Fall Söring, was in populärphilosophischen Debatten der Gegenwart derzeit vor sich geht: Um den Gegenstand interessant zu machen, wird er so nahe wie möglich an die individuelle Lebenssituation der Rezipienten herangeschoben. Sind wir nicht alle auf irgendeine Weise Jens Söring? Stecken wir nicht alle im Gefängnis des Lebens, in dem wir vor die Frage gestellt sind, ob wir zu echter Freiheit finden können? Zugleich aber wird mit dieser medialen Anbiederung jene Bewegung ausgeführt, mit der auch Themen von gesellschaftlicher Relevanz in den Rückzugsbereich der einzelnen Person verschoben werden. Die mediale Inszenierung verstellt den Blick dafür, dass das Opfer eines angeblichen Justizirrtums über eine soziale Seite verfügt, ihre Rolle folglich in einem Rahmen gesellschaftlicher Normen diskutiert werden müsste. Stattdessen erzeugt sie das trügerische Bild einer individuellen Auseinandersetzung des Einzelnen mit der ihn umgebenden Welt.

Die Blase privater Verletzlichkeit

Sichtbar wird dieses Problem auch in der Debatte, die Svenja Flaßpöhler um das Thema Sensibilität entfacht hat. Auch diese Diskussion bewegt sich eigentlich auf gesellschaftlichem Terrain, verhandelt Normen und Konventionen des Miteinanders, gilt der Streitfrage, ob der beliebte Rekurs auf ein jederzeit verletzliches oder diskriminierbares Ich nicht die demokratische Streitkultur gefährdet. Flaßpöhler argumentiert hier offensiv für eine öffentliche Kultur des Meinungsstreits und gegen jene »Tyrannei der Intimität«, die der Rückzug auf ein privatisiertes Selbst hervorzubringen drohe. Ironischerweise wird aber genau damit unterstellt, dass eine Alternative zwischen beidem tatsächlich existiere, wird ein vermeintliches Reich intimer Verletzlichkeit erst konstruiert. Dabei bewegen sich Forderungen nach gendersensibler Sprache und dem Abbau von Diskriminierungen durchaus nicht minder auf einer gesellschaftlichen Ebene, als Flaßpöhler selbst es für sich in Anspruch nimmt. Die Philosophin ruft in die Blase einer privaten Verletzlichkeit hinein, die sie selbst imaginiert hat.

So aber droht die Philosophie als öffentliche Instanz weiter an Boden zu verlieren. Stets scheint sie sich an ein zurückgezogenes Selbst zu adressieren, setzt Angebote aus dem bunten Regal der Weltanschauungen in ihr Schaufenster, vermeintlich dazu geeignet, das private Wohnzimmer mit bildungsbürgerlichen oder modernen Aperçus zu dekorieren, mit Nutzgegenständen einer beliebigen, subjektiven Wahl. Zugleich verschiebt das metaphorische Design solcher Gegenwartsdiskussionen auch seine Themen in diese Sphäre des Subjektiven. Notorisch sind mittlerweile die Ausflüge ins Reich der Neurowissenschaften. Klassische Topoi des öffentlichen Lebens wie die Einrichtung des Bildungssystems werden gelegentlich behandelt, als ob mit Blick auf eminente soziale Interessen die Verschaltungen im Gehirn der einzelnen Person als letzte Entscheidungsinstanz angerufen werden müssten. Selbst in politischen Debatten lautet die Frage mittlerweile häufig, was sich »im Kopf« der Akteure abspielt, als seien Funktionen des Gehirns der eigentliche Referenzort der Welt.

Es ist folgerichtig, dass sich ein solcherart alleingelassenes Ich auch einen neuen Intellektuellen-Typus an die Seite holt. Wenn in der populären Philosophie mehr nicht mehr geschieht, als dass sich ein isoliertes Gehirn aus dem großen Warenkorb des World Wide Web digitalisierter Inhalte bedienen soll, macht auch der öffentliche Diskurs tendenziell einer privaten Jagd- und Sammelleidenschaft Platz. Es geht dann nicht länger darum, sich in Diskussionen einzuklinken, sondern Schnipsel aus dem Medienangebot zu klauben, die für den eigenen Bedarf geeignet erscheinen. Das bleibt nicht ohne Wirkung auf öffentliche Formate, im Fernsehen und auf Podien, die oft keine Diskussion mehr bieten, sondern eine Aneinanderreihung schriller Thesen und Zitate. Aufmerksamkeit im emotionalen Resonanzraum des Einzelnen beginnt sich auch hier zur wichtigsten Währung zu entwickeln. Fachliche Expertise macht Platz für den Guru.

Diese Entwicklung ist beunruhigend. Schließlich ist in dem Rückzug populärwissenschaftlicher Debatten aus dem Raum des Öffentlichen auch die Möglichkeit angelegt, sich für öffentliche Fragen, die Bedeutung von Gesellschaft und ihren Institutionen, für Recht, Krieg und Frieden, gar nicht länger zu interessieren. Die wachsende Gleichgültigkeit von Repräsentanten dieser Entwicklung gegenüber solchen Themen könnte dafür ein erstes Symptom sein.

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