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Laudato si’: Öko-Enzyklika zwischen Aufbruch und Verdrängen

Die Ökosysteme der Erde sind nicht dauerhaft stabil, sie unterliegen ständigen Veränderungen. So war die Natur vor der Entstehung der menschlichen Zivilisation wild und unbewohnbar und sie kann es durch deren Eingriffe auch künftig wieder sein. Denn in den letzten Jahrzehnten sind die Umwelteffekte eskaliert. Die Belastungen der natürlichen Kreisläufe und der Raubbau an den Ressourcen haben ein globales Ausmaß angenommen. Beispiele sind der Klimawandel, das Überschreiten planetarer Grenzen oder der im Jahr immer weiter in Richtung Anfang rückende sogenannte »Welterschöpfungstag«, also das Datum, an dem die menschliche Nachfrage nach natürlichen Ressourcen das Angebot übersteigt. In der Enzyklika Laudato si’: Über die Sorge für das gemeinsame Haus beschreibt Papst Franziskus einen »fehlgeleiteten Anthropozentrismus« als »menschliche Wurzel der ökologischen Krise«.

Die Ökosysteme sind immer häufiger auch das Produkt des menschlichen Umgangs mit der Natur. Aber für die Menschheit kann es eine Zukunft nur innerhalb der Tragfähigkeit des Erdsystems geben, andernfalls rückt sogar ihre ökologische Selbstvernichtung in die Nähe des Möglichen. Von daher ist es ein Gebot der Vernunft und Verantwortung, zu einer sozial-ökologischen Transformation zu kommen. Diese Menschheitsherausforderung erfordert neue Antworten, die über die klassische Umwelt- und Naturschutzpolitik weit hinausgehen. Notwendig ist ein Gesellschaftsmodell, das soziale Gerechtigkeit und ökologische Kompatibilität miteinander verbindet – und zwar dauerhaft.

Diese Zusammenhänge werden jedoch in ihrer Komplexität kaum durchschaut. So wird der aktuelle Dieselskandal als eine Frage technischer Manipulationen gesehen, nicht aber als Folge einer unhaltbar gewordenen Form der Mobilität, deren Paradigma »schneller, höher, weiter« heißt und die an die ökologischen Grenzen des Wachstums gerät. Dabei ist die gesellschaftliche Praxis nicht nur prägend für den Zustand der Ökosysteme, sondern auch für unsere Wahrnehmung der sozialen und natürlichen Mitwelt. Notwendig ist die intellektuelle, emotionale und praktische Aneignung des untrennbaren Zusammenhangs von Mensch und Natur.

Die Dringlichkeit der Herausforderung wird an der Neubenennung der heutigen Erdepoche als »Anthropozän« deutlich. Diesen Vorschlag machten im Jahr 2000 Paul J. Crutzen und Eugene Stoermer. Der niederländische Nobelpreisträger Crutzen präzisierte diesen Begriff zwei Jahre später im Fachmagazin Nature in dem Beitrag »Geology of mankind«. Die »Menschenzeit« folgt auf das Holozän, jene gemäßigte Warmzeit, die sich über die letzten 12.000 Jahre erstreckte und in der sich die menschliche Zivilisation entwickeln konnte. Die geologische Periodisierung erfolgt nach strengen Maßstäben, erkennbar beispielsweise an den Sedimentverlagerungen, die heute bis zu 30-mal stärker als natürliche Prozesse sind. Die Berechtigung, unsere Zeit Anthropozän zu nennen, wurde vom 35. Weltkongress der Geologen anerkannt. Umstritten ist allerdings der Beginn. Erst wenn die Internationale Kommission für Stratigraphie (ICS) den Marker – den sogenannten »Golden Spike« – gefunden hat, wird es offiziell, dass die Erde in eine Epoche eingetreten ist, »für die in den letzten Millionen Jahren keine Entsprechung zu finden ist«.

Die Globalisierung der Umweltprobleme und das Überschreiten planetarer Grenzen machen die Beschränkungen der bisherigen Umweltpolitik und die Unzulänglichkeiten der Nachhaltigkeitsstrategien deutlich. Die Vorgaben in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft müssen von den planetaren Grenzen aus gedacht werden und für eine dauerhafte Kompatibilität zwischen Wirtschaft, Technik und Natur sorgen. Von großer Bedeutung ist deshalb, dass Papst Franziskus zu einem weltumspannenden Dialog einlädt, wie die Zukunft unseres Planeten gestaltet werden muss. Es bedarf »der Talente und des Engagements aller, um den durch den menschlichen Missbrauch der Schöpfung Gottes angerichteten Schaden wieder gutzumachen«.

Nach seinem programmatischen Antrittsdokument Evangelii Gaudium (Die Freude des Evangeliums) im Jahr 2013, in dem er eine Kirche für die Armen forderte, veröffentlichte der Heilige Stuhl zwei Jahre später die erste Öko-Enzyklika überhaupt. Laudato si’ knüpft an den Sonnengesang von Franz von Assisi, wahrscheinlich aus dem Jahr 1224/25, an, der zum »Lobpreis Gottes in all seinen Geschöpfen« aufruft. Der Namensgeber des aktuellen Papstes ist das Beispiel schlechthin für Achtsamkeit gegenüber der Natur und gegenüber den Schwachen. An seinem Leben wird gewahr, dass die Pflege der natürlichen Lebensgrundlagen, Gerechtigkeit mit den Armen, ein solidarisches Gemeinwesen und der innere Reichtum der Menschen eine Einheit bilden müssen. Diese beiden Lehrschriften sowie die neueste mit dem Titel Gaudete et exsultate (Freut euch und jubelt), in der Papst Franziskus vor Überheblichkeit und Selbstbezogenheit warnt, müssen in einem Zusammenhang gesehen werden. Kurz: Christen müssen den gesellschaftlichen Wandel anstreben.

Noch nie war ein Papst in ökologischen Fragen so konsequent: »Jegliche Grausamkeit gegenüber einem Geschöpf widerspricht der Würde des Menschen.« Anknüpfend an die Genesis beklagt er: »Wir vergessen, dass wir selbst Erde sind.« Aber die Menschen sind weder Eigentümer noch Herrscher der Erde und nicht berechtigt, die ökologischen Ressourcen auszuplündern. Von daher muss gesellschaftlicher Fortschritt von der Teilhaftigkeit und Verantwortung des Einzelnen in seiner sozialen und natürlichen Mitwelt ausgehen, um die Integrität der Gesellschaft und den Lebenszusammenhang mit der Natur zu bewahren. Die Enzyklika beschreibt die ökonomischen und technischen Ursachen, aber auch die sozialen und kulturellen Zusammenhänge der ökologischen Krise. Besonders herauszuheben sind vier Aussagen der Lehrschrift:

Erstens: Der Papst beklagt die »Lüge bezüglich der unbegrenzten Verfügbarkeit der Güter des Planeten«, denn »infolge einer rücksichtslosen Ausbeutung der Natur läuft er [der Mensch] Gefahr, sie zu zerstören und selbst Opfer dieser Zerstörung zu werden. (…) Wenn aber der Mensch seinen wahren Platz nicht wiederentdeckt, missversteht er sich selbst und widerspricht am Ende seiner eigenen Wirklichkeit«. Die ökologische Selbstvernichtung der Menschheit wird denkbar. Er fordert einen radikalen Wandel im Verhalten der Menschheit, denn »die außerordentlichsten wissenschaftlichen Fortschritte, die erstaunlichsten technischen Meisterleistungen, das wunderbarste Wirtschaftswachstum wenden sich, wenn sie nicht von einem echten sozialen und moralischen Fortschritt begleitet sind, letztlich gegen den Menschen«.

Zweitens: Papst Franziskus kritisiert den modernen Rationalismus, der die »technische Vernunft über die Wirklichkeit« stellt. Durch die »Allgegenwart des technokratischen Paradigmas und der Verherrlichung der grenzenlosen Macht« hat sich eine Maßlosigkeit entwickelt, in der »alles irrelevant wird, wenn es nicht den unmittelbaren eigenen Interessen dient«. Er kritisiert die relativistische Denkweise, die auch die »innere Logik dessen (sei), der sagt: Lassen wir die unsichtbare Hand des Marktes die Wirtschaft regulieren, da ihre Auswirkungen auf die Gesellschaft und auf die Natur ein unvermeidbarer Schaden sind«. Alle Verbesserungen setzen voraus, dass sich »die Lebensweisen, die Modelle von Produktion und Konsum und die verfestigten Machtstrukturen (von Grund auf) ändern, die heute die Gesellschaften beherrschen«.

Drittens: In Laudato si’ stellt Papst Franziskus fest: »Es gibt nicht zwei Krisen nebeneinander, eine der Umwelt und eine der Gesellschaft, sondern eine einzige und komplexe sozial-ökologische Krise.« Wenn wir diesen Zusammenhang erkennen, kommen wir »nicht umhin anzuerkennen, dass ein wirklich ökologischer Ansatz sich immer in einen sozialen Ansatz verwandelt, der die Gerechtigkeit in die Umweltdiskussionen aufnehmen muss, um die Klage der Armen ebenso zu hören wie die Klage der Erde.« Vor allem in dieser Erkenntnis geht die Lehrschrift weit über die bisherige Umweltpolitik hinaus, sie fordert eine sozial-ökologische Reformpolitik.

Viertens: Der Widerspruch zwischen dem Wissen über die Gefahren und unserem Handeln wird größer. Statt das »gesamte System zu überprüfen und zu reformieren«, wurde zum Beispiel in der Finanzkrise von 2008 eine »absolute Herrschaft der Finanzen« unterstützt, die »keine Zukunft besitzt und (…) nur neue Krisen hervorrufen kann«. Dagegen knüpft die Enzyklika an die katholische Soziallehre an, um die auf die »Intensivierung der Lebens- und Arbeitsrhythmen« und die »des vergötterten Marktes« ausgerichtete Weltsicht grundlegend zu verändern. Die Ausrichtung muss nachhaltig, ganzheitlich und generationsübergreifend sozial sein und sich am Prinzip des Gemeinwohls orientieren.

Laudato si’ bricht mit der Aufforderung im 1. Buch Moses (Genesis), der Mensch solle sich die Erde untertan machen. Dieses Verständnis trug dazu bei, die Natur zu unterwerfen. Die Enzyklika greift die Überlegungen zahlreicher Wissenschaftler/innen, Philosoph/innen und Theolog/innen für eine ganzheitliche Ökologie auf, in der die Sorge um die Natur, die Gerechtigkeit gegenüber den Armen, das Engagement für die Gesellschaft und der (innere und äußere) Friede untrennbar miteinander verbunden sind. Sie kritisiert das Machtmodell und die Formen der Macht, die aus der Technik abgeleitet sind. Sie fordert ein neues Verständnis von Fortschritt und geht vom Eigenwert eines jeden Geschöpfes aus. Sie verurteilt die Wegwerfkultur und fordert einen neuen Wirtschafts- und Lebensstil.

Eine erste Bilanz

Laudato si’ wurde vor drei Jahren veröffentlicht. Es ist Zeit, eine erste Bilanz zu ziehen. Papst Franziskus dringt mit seinen Weltthemen Ökologie und neuer Fortschritt zumindest in großen Teilen der »offiziellen« Kirche nur langsam durch. Auch in der Öffentlichkeit ist zu wenig bekannt, was in der Öko-Enzyklika steht. Das, was gefordert wird, ein breiter gesellschaftlicher und kirchlicher Dialog, findet bis heute jedenfalls kaum statt. Der »Tanker Kirche« bewegt sich kaum, obwohl die Aussagen der Enzyklika nicht nur auf der Höhe der Zeit sind, sondern sie auch neue Gruppen an die Kirche binden können. Doch die Chancen für einen Aufbruch werden bisher kaum genutzt.

2012 haben der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB), die Evangelische Kirche und der Deutsche Naturschutzring (DNR) einen Transformationskongress durchgeführt. Bereits damals wurden wesentliche Inhalte, die auch in Laudato si’ enthalten sind, vorgetragen. Leider war das nicht der Impuls, der notwendig gewesen wäre. Das spricht aber nicht gegen einen neuen Versuch, eine breite Allianz zu bilden. Auch die internationale Staatengemeinschaft hat mit den 17 Nachhaltigkeitszielen der Agenda 2030 und dem Pariser Abkommen zum Klimaschutz neue wichtige Grundlagen für eine »Weltinnenpolitik« (ein Begriff, für den Carl Friedrich von Weizsäcker die Urheberschaft beanspruchte) gelegt. Wir regen vor allem an, über folgende vier Bereiche den Dialog zu intensivieren:

Erstens: Das Anthropozän, das Zeitalter des Menschen, spitzt unsere Verantwortung für die Zukunft des gemeinsamen Hauses Erde zu. Dringend muss die Rolle von Wissenschaft, Wirtschaft, Gesellschaft und Politik in der neuen geologischen Erdepoche geklärt werden.

Zweitens: Der Überschuss an voraussehbaren Folgen zulasten Dritter ist zu einem Problem der modernen Industriegesellschaft geworden. Die Ungleichheiten zwischen Arm und Reich, zwischen Gegenwart und Zukunft, zwischen Wissen und Handeln nehmen zu. Wie muss ein reflexiver Fortschritt aussehen, der zu einer Welt führt, die weder Mangel noch Überfluss kennt? Die technisch-ökonomische Macht des Industriezeitalters bestimmt entscheidend die menschliche Verantwortung. Mit der Ausdehnung dieser Macht wächst die Verantwortung der Menschen. Bei Immanuel Kant heißt das grundlegende Prinzip, auch bekannt als kategorischer Imperativ: »Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.« Dieser ethische Maßstab, an den Das Prinzip Verantwortung von Hans Jonas anknüpft, gebietet allen Menschen, dass ihre Handlungen einer für alle, jederzeit und ohne Ausnahme geltenden Maxime folgen und dabei das Recht aller davon betroffenen Menschen berücksichtigt wird.

Drittens: Trotz der globalen Umweltschädigungen sitzt die Menschheit nicht in einem Boot. Notwendig ist vor allem die weltweite Solidarität mit der Natur, den Armen und Ungeborenen. Wie kann es zu einer sozial-ökologischen Weltinnenpolitik kommen? Wer gibt sie vor und wer treibt sie an? Obwohl nämlich der Klimawandel ein globales Problem ist, nehmen weltweit die Ungleichheiten zu. Betroffen sind vor allem die armen Schichten und Regionen. Denn die Folgen der Erderwärmung sind zeitlich und räumlich ungleichmäßig verteilt. Insofern brauchen wir eine Weltinnenpolitik, damit es zu einem Frieden für alle Menschen kommt.

Viertens: Das Industriezeitalter wurde von der gewaltigen Dynamik der wirtschaftlichen Verwertung und massenhaften Nutzung fossiler Brennstoffe angetrieben. Die Industrie wurde zur großen Maschine. Die Verbindung des wirtschaftlichen Wachstums mit der Nutzung der natürlichen Ressourcen wurde zur Grundlage des Industriezeitalters. Heute muss die Schlüsselfrage lauten: Wie kann eine Umweltkompatibilität erreicht werden, in der die Nutzung der ökologischen Ressourcen dem dauerhaften Erhalt des Erdsystems untergeordnet wird? Notwendig ist dafür der schnelle Ausstieg aus der Nutzung fossiler Brennstoffe und aus einer Landwirtschaft, die Natur und Artenvielfalt zerstört. Wir schlagen ein globales Programm für Arbeit und Umwelt vor, dessen Ausgestaltung und Finanzierung diskutiert werden muss.

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