Menü

Aus der Krise lernen Leben mit dem »Schwarzen Schwan«

Die Corona-Krise hat uns einmal mehr vor Augen geführt, wie dünn das Eis ist, auf dem wir uns tagtäglich bewegen. Das Fundament der den Alltag tragenden Gewissheiten erwies sich als brüchig, viele unserer zu Selbstverständlichkeiten geronnenen Ansprüche und Erwartungen schienen auf einmal schlecht begründet zu sein, lieb gewordene Gewohnheiten entpuppten sich als gefährlich. Das stolze europäische Individuum, diese bodenlose Kopfgeburt eines autarken, alle Fesseln abstreifenden und seine Partikularinteressen auf eigene Faust verfolgenden sozialen Atoms, das zum Kernbestand der herrschenden wirtschaftspolitischen Ideologie gehört, verlor mit einem Mal rapide an Strahlkraft. Auf einmal schienen nur noch zwei Instanzen Sicherheit und Verlässlichkeit in der Not bieten zu können: die Wissenschaft und der Staat.

Mit Wissenschaft war vor allem die medizinische Wissenschaft und Forschung gemeint, allen voran Virologie und Epidemiologie, mit Staat vor allem jenes exekutive Institutionengeflecht, das vor Kurzem noch von vielen als beargwöhntes Hindernis der freien Entfaltung des Individuums und des technisch-ökonomischen Fortschritts angesehen wurde. Nun, in der Corona-Krise richteten sich die bangen Erwartungen nahezu aller auf die Drostens, die Kekulés, die Schmidt-Chanasits und ihre weiblichen Pendants, die Addos, Brinkmanns und Protzers, auf die gestrenge Kanzlerin, ihren nicht weniger gestrengen Gesundheitsminister Jens Spahn sowie auf die Riege der Landesfürsten und Landesfürstinnen, unter denen Markus Söder nicht zuletzt durch seine imposante Körperlichkeit und seine dröhnende Stimme hervorragte.

Der Leiter des Robert-Koch-Instituts in Berlin, der als Beamter und Virologe zugleich als Vertreter des Staates und als Exponent der Wissenschaft wahrgenommen wurde, genoss eine Zeit lang bei seinen abendlichen Fernsehbriefings die Aura und die Autorität eines beglaubigten Propheten. Mehr als 90 % der Deutschen, so hieß es, stünden hinter dem Krisenmanagement der Regierung, die sich ihrerseits akribisch an den Rat der Wissenschaft hielt. Aber sobald es sich zeigte, dass das Krisenmanagement der Regierung erfolgreich war, die Infektionszahlen sanken und die Zahlen der Gesundeten zunahmen, war es mit der imponierenden Einigkeit vorbei. Die Angst vor dem Virus nahm ab, der Ruf nach einer baldigen Rückkehr zur Normalität wurde lauter, zu einer Normalität, die möglichst genauso aussehen sollte wie der Zustand, den das Auftreten des Virus zerstört hatte.

Dabei hatten wir doch schon lange vor der Coronakrise lernen müssen, dass das, was wir Normalität nennen, aus ökologischer Sicht eine sich beschleunigende Fahrt in den Abgrund ist. Der Klimawandel, so lautete und lautet das fast einhellige Urteil der Wissenschaft, zerstört unsere und unserer Kinder Lebensbasis in zunehmender Geschwindigkeit; wenn wir jetzt nicht den Mut finden, unseren Lebensstil, unsere Konsumgewohnheiten, unsere Produktionsweise zu verändern, wenn wir jetzt nicht einsehen, dass unsere Fixierung auf grenzenloses ökonomisches Wachstum mit dem Leben auf einem begrenzten Planeten unvereinbar ist, dann ist eine weltweite Katastrophe mit Ressourcenkriegen, Hungerrevolten und bisher nie gekannten Flüchtlings- und Migrationswellen unabwendbar.

Was also kann die Rede von der Rückkehr zur Normalität in unserer Lage bedeuten? Reicht es wirklich aus, den bestehenden Produktionsapparat möglichst schnell wieder auf eine maximale Umdrehungszahl zu bringen und, wie es der Arbeitgeberpräsident kürzlich forderte, mit öffentlichen Mitteln und womöglich mit Abwrackprämien die »Konsumlaune« der Bevölkerung anzuheizen, oder sollten wir das durch das Virus erzwungene Innehalten vielmehr dazu nutzen, um zumindest in Ansätzen eine neue an Nachhaltigkeit orientierte Dynamik der wirtschaftlichen Prozesse, eine veränderte Akzentsetzung beim Einsatz der Ressourcen, ein verändertes Konsumverhalten und eine gerechtere Verteilung von Vermögen und Einkommen durchzusetzen?

Der gegenwärtige demoskopische Höhenflug der Unionsparteien, der wohl vor allem von der Popularität der Kanzlerin getragen wird, die trotz überzeugender Leistungen von Olaf Scholz, Hubertus Heil, Malu Dreyer und Franziska Giffey anhaltende Umfrageschwäche der SPD und der jüngste Einbruch der Umfragewerte für die Grünen lassen eine solche Kurskorrektur im Augenblick nicht eben wahrscheinlich erscheinen. Schon zeigt sich zudem, dass eine Mehrheit in den Fraktionen von CDU und CSU sogar die eher bedächtigen Reformen, die von der EU im Rahmen des Green Deal beschlossen wurden, nicht weiter mittragen will, nun, da es ihrer Meinung nach vor allem darum gehen müsse, die alte Normalität wiederherzustellen. Aber was, wenn in den nächsten Jahren Dürresommer auf Dürresommer folgt, wenn der Wald tatsächlich stirbt und vermehrt Wirbelstürme und verheerende Sturmfluten an den Küsten ganze Landstriche verwüsten? Was, wenn in großen Teilen Asiens, Afrikas und Lateinamerikas viele Millionen Menschen verhungern oder ihre Heimat verlassen müssen, weil die Böden nicht mehr das Nötigste zum Leben hergeben? Wir wissen nicht im Einzelnen, was wann passieren wird, aber wir können wissen, dass die Wahrscheinlichkeit solcher zerstörerischen Ereignisse zunehmen, sogar schnell zunehmen wird, wenn wir jetzt nicht handeln.

Wenn sich Europa zwischen den beiden mehr und mehr aggressiv konkurrierenden Supermächten USA und China als Raum kultureller und politischer Freiheit und als demokratische Friedensmacht behaupten will, muss es auf der Basis seiner Werte, im Geiste der Rechtsstaatlichkeit und der sozialen Einbindung des Individuums ein für seine Menschen und für die Menschheit insgesamt attraktives neues Wirtschafts- und Lebensmodell entwickeln. Darum wäre es fatal, wenn sich in Deutschland die Meinung durchsetzen sollte, dass es jetzt vor allem darum gehe, die alte eigene wirtschaftliche Dominanz in Europa wiederherzustellen und zu diesem Zweck gemeinsame Projekte der Europäer hintanzustellen oder auf ein Minimum zu reduzieren.

Die Corona-Krise hat gezeigt, wie trügerisch das Gefühl der Sicherheit in der modernen Welt ist und wie leicht die globale Verflechtung der Lebensräume zum zusätzlichen Problem werden kann. Sie hat aber auch gezeigt, wieviel Einschränkungen ihrer Freiheit die Menschen, die Deutschen voran, bereit sind in Kauf zu nehmen, wenn es für ihre Sicherheit erforderlich erscheint. Aber ist die nationalistisch geprägte restaurative Politik, die große Teile der Union jetzt offenbar einschlagen möchten, wirklich ein Weg zu mehr Sicherheit? Wäre es nach den jüngsten Erfahrungen nicht vielmehr dringend geboten, für einige »systemrelevante« Produktionsbereiche die überlangen Lieferketten und die Abhängigkeit von allzu fernen Zulieferern zu beenden? Wäre es in Zukunft nicht dringend ratsam, die sozialstaatliche Daseinsvorsorge zu stärken und die verheerende Kommerzialisierung großer Teile des Gesundheitswesens zurückzunehmen, die in der neoliberalen Phase als angeblicher Schlüssel zu mehr Effizienz durchgesetzt wurde?

Wäre es nicht gerade jetzt sinnvoller, statt der Renationalisierung der Politik in Europa Vorschub zu leisten, das gerade von den Unionspolitikern so gern im Munde geführte Subsidiaritätsprinzip so auszulegen, dass sich eine Europäisierung der Außenpolitik, der Finanzpolitik, der Infrastrukturpolitik und von Teilen der Sozialpolitik – beispielsweise der Arbeitslosenversicherung – mit einer funktionalen Dezentralisierung der öffentlichen Verwaltungen und der öffentlichen Dienste sowie eines erheblichen Teils der privatwirtschaftlich organisierten Versorgung mit Gütern des täglichen Bedarfs kombinieren ließe, weil auf diese Weise die Resilienz und die Selbsthilfekompetenz der Bevölkerung nachhaltig gestärkt würde?

Sicherheitspolitik ist mehr als Verteidigungspolitik und Verstärkung der Polizeiarbeit. Vor allem sollten wir nicht dem Irrtum erliegen, wir könnten, wenn wir die Kontrollen verstärkten, die Auswertung der Daten intensivierten und mehr Sicherheitsexperten und Analysten einsetzten, alle Gefahren sicher im Voraus erkennen und abwenden. Es wird immer wieder Ereignisse geben, mit denen niemand rechnete und niemand rechnen konnte, weil sie systematisch durch die Maschen unserer Prognostik fallen. Die Corona-Krise ist ein solches Ereignis, eines, das der Statistiker und Wirtschaftsmathematiker Nassim Nicholas Taleb 2008 in seinem Buch über »Die Macht höchst unwahrscheinlicher Ereignisse« (so der Untertitel) einen »Schwarzen Schwan« nannte, den auch niemand in Europa für möglich gehalten hatte, bevor er Ende des 17. Jahrhunderts in Australien entdeckt wurde. Wir müssen lernen, mit solchen Schwarzen Schwänen zu leben, weil schon der Versuch, sie sicher zu prognostizieren, alles zerstören könnte, was den europäischen Way of Life so attraktiv macht.

Kommentare (0)

Keine Kommentare gefunden!

Neuen Kommentar schreiben

Nach oben